Freiheitsberaubung. Günter de Bruyn zum 90.
Man muss in der Mulackstraße gewohnt haben wie ich in genau der Zeit, in die Günter de Bruyn seine Leser führt, denn eine Straße weiter, ein kurzes Stück Gormannstraße war es von meiner Nummer 25 aus nur, lag schon die Linienstraße, es war (und ist) eine phantastisch lange Straße. Ein paar Schritte nach rechts waren es zu einem Gammelgrundstück mit einigen Garagen, dort stand der Lada von Freund Uwe leidlich diebessicher und wetterfest, Ecke Linien-/Gormannstraße von mir aus links hatte er eine sehr schöne, sehr große Wohnung und wie zum Treppenwitz der Geschichte heißt jene Person, die de Bruyn in seiner Berliner Geschichte in der Linienstraße 263 von innen gegen die Tür trommeln lässt, weil die 32 Jahre alte Mutter von drei Kindern namens Anita Paschke ihn dort einsperrte, Siegfried Böttger. Uwe wird jede Verwandtschaft mit diesem Böttger bestreiten, denn Uwe kam aus Halle nach Berlin und nicht aus Leipzig, war auch nie Direktor vorher und wurde es erst, wenn man es so nennen darf, nach Umweg über Köln in Dresden. Da aber war jener Staat schon hinüber, dessen Obere es eines Tages geraten fanden, das „Wohnungsproblem als soziales Problem“ zu lösen. Ich erinnere mich einer Losung, die besagte: Bis 1980 jedem eine Wohnung, bis 1990 jedem seine Wohnung. Für manche klappte das sogar.
Was es hieß - Wohnungsproblem als soziales Problem - hat meiner bescheidenen Kenntnis nach niemand so drastisch und zugleich unpenetrant in eine Berliner Geschichte verwandelt wie Günter de Bruyn, der heute 90 Jahre alt wird und nur ungern sich DDR-Schriftsteller nennen ließ und lässt, wie überall gern verbreitet wird. „Freiheitsberaubung“ erzählt auf provozierend lakonische Weise vom Fall einer alleinstehenden Mutter dreier Kinder, die ihren kärglichen Lebensunterhalt als Nachtportier in einem popligen Kleinhotel in der Berliner Friedrichstraße, Name „Stadt Frankfurt“ verdient, verdienen muss, weil sie für ihre zwei, vier und sechs Jahre alten Kinder nie gleichzeitig Krippen- und Kindergartenplätze bekam. Siegfried Böttger ist einer der vielen Zugezogenen, denen man damals pauschal gern Sachsen als Herkunftsgegend zuschrieb wie heute Schwaben. Nur heute gentrifizieren, wie das so schön heißt, die Schwaben die Kieze, in denen sie sich ansiedeln, damals schnappten die echten und die unechten Sachsen den echten und Ur-Berlinern einfach nur die Neubauwohnungen weg. Vollkommen unbeschönigt hat de Bruyn das einfließen lassen. Heute fragt sicher mancher, ob Literatur sich um das Wohnungswesen zu kümmern habe, damals war Literatur Ersatzöffentlichkeit, falls sie denn die so genannte Öffentlichkeit überhaupt erreichte.
Und hier wird „Freiheitsberaubung“ plötzlich über ihren Charakter als Berliner Geschichte hinaus zu einem Gegenstand der Zeitgeschichte. Ich las „Freiheitsberaubung“ zuerst in einer Anthologie mit dem Titel „Die zweite Beschreibung meiner Freunde“, 1989 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig erschienen. Ich besaß „Freiheitsberaubung“ außerdem in der Sammlung „Babylon“, die 1980 im Reclam-Verlag Leipzig veröffentlichte und unveröffentlichte Erzählungen von de Bruyn vereinte. Die „Freiheitsberaubung“ gehörte zu den davor unveröffentlichten Texten, auf alle Fälle lagen die Rechte wie für weitere sechs zum Teil sehr kurze Texte noch beim Autor. Später kaufte ich mir das suhrkamp taschenbuch „Berliner Geschichten“, Untertitel: „Operativer Schwerpunkt Selbstverlag“. Eine Autoren-Anthologie: wie sie entstand und von der Stasi verhindert wurde. Dieses Taschenbuch st 2256 hat genau jene drei Herausgeber, die die Sammlung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in der DDR publizieren wollten, was mit enormem Aufwand, kurios-bösen Begleiterscheinungen und letztlich erfolgreich von der Stasi, ihren zahlreichen damit befassten offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern verhindert wurde. „Freiheitsberaubung“ von de Bruyn eröffnet den Band, weil die Herausgeber ihn alphabetisch sortiert wissen wollten.
Im Reclam-Band 822 ist offenbar als Entstehungsjahr im Inhaltsverzeichnis das Jahr 1978 angegeben, was auf keinen Fall stimmen kann, da bereits am 10. November 1975 eine streng geheime Information des Ministeriums für Staatssicherheit (Nr. 788/75) „über die Vorbereitung einer Anthologie von Erzählungen durch mehrere Schriftsteller der DDR unter Ausschaltung der Verlagslektoren“ achtzehn Texte, darunter „Freiheitsberaubung“ als zur Verfügung gestellt auflistet, übrigens auch in alphabetischer Reihenfolge. Die Initiative zur Anthologie „Berliner Geschichten“ ging mit einem Brief vom 20. Januar 1974 von den drei späteren Herausgebern Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade aus. Der hohe Eifer des Schriftstellers/Lektors Hasso Laudon (Jahrgang 1932), über den sicher nicht rein zufällig im Netz kaum brauchbare Informationen zu finden sind, das uralte Lexikon „Schriftsteller der DDR“ von 1974 ist mehr als vierzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen immer noch die ausführlichste biographische Quelle, lenkte die Aufmerksamkeit des Ministeriums auf das Vorhaben, später waren diverse IM aller Kategorien beteiligt, früh aktiv auch Sonja Schnitzler, die bei Eulenspiegel 1978 die Anthologie „Die Tarnkappe“ gemeinsam mit Manfred Wolter herausgab, ihr Umweg zu Schlesinger hieß Bettina Wegener.
Die genannte „Information“ vom 10. November 1975 formulierte: „Nach ersten Einschätzungen des Manuskriptes ist eine undifferenzierte Drucklegung in der DDR keinesfalls möglich, da es sich in verschiedenen Beiträgen um eine offen feindliche, den Sozialismus diffamierende Darstellung handelt.“ Man mag gar nicht fragen, wie eine differenzierte Drucklegung ausgesehen hätte. Die ungenannten Fachexperten, die das Manuskript prüften, kamen zu dem Ende 1975 sicher niemanden überraschenden Ergebnis, dass der Hauptbösewicht Stefan Heym war, um dessen Text „Mein Richard“ sich angeblich alles gruppierte. De Bruyn wird zu denen gezählt, deren Beiträge als „verstärkende erzählerische Kommentare“ wirken. Die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Ministerium für Kultur hatte „Mein Richard“ bereits vorsorglich aus einem Buchmanuskript Heyms ausgesondert, der Text vertrete die These, „Staat und Staatsapparat … der DDR würden von dogmatischer, herzloser Enge geleitet. Eine durchlässige Staatsgrenze wäre der beste Prüfstein für wirklich oder erzwungene Treue zum Sozialismus“. Auf für Staat und führende Partei brachiale Weise bestätigte die Realität die Richtigkeit von Heyms Sicht: Es flohen die Jugend und die Arbeiterklasse in lichten Scharen, während plötzlich die unsichere Intelligenz die Fahne hielt.
„Freiheitsberaubung“ aber behauptet aus Sicht der Schnüffler: „Der Sozialismus in der DDR sei von Privilegien geprägt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen nehmen nicht oder sehr verspätet an den Erfolgen teil. Es gäbe Unehrlichkeit von Leitern und Funktionären.“ Man muss schon heftig schlucken auch vierzig Jahre danach, mit welcher Dummdreistigkeit die Herrschaften in der Normannenstraße und ihre willigen Helfer auch unter den Schriftstellern der DDR pure und nackte Realität leugneten. Das für mich als Studenten nicht zuständige Wohnungsamt von Mitte hatte glaubhaften Quellen zufolge bestechliche Mitarbeiter, in der Kommunalen Wohnungsverwaltung am Hackeschen Markt, in den Höfen, die heute von Tausenden aus aller Welt durchströmt werden, konnte man sich schon mal eine Mitarbeiterin durch ein Sachgeschenk gewogen machen, Sachgeschenke waren in der herrschenden Mangelwirtschaft sehr oft viel lukrativer und wirkungsvoller als das ungeliebte DDR-Geld. In Zuständigkeit dieser Damen und Herren lag die fiktive Linienstraße 263. Dort hörte Anita Paschke von der einen, sie könnte nur Wohnungen vergeben, die sie habe, von der anderen, dass es noch anderen viel schlimmer gehe. Das war zu DDR-Zeiten nicht selten die Ultima Ratio der Argumentation: anderen gehe es noch schlechter.
Als ich von Berlin-Biesdorf aus eine Studentenbude suchte, weil mir das Wohnheim „Victor Jara“ jegliche ungestörte Arbeit verhinderte, bekam ich nach ewigen vergeblichen Anläufen ein Angebot in der Kleinen Auguststraße. Die kommt bei de Bruyn auch vor, ich hatte sie sofort vor Augen, wie sie damals aussah, jetzt ist sie wie die ganze Gegend kaum noch wiederzuerkennen. Die Wohnung mit Blick in den Hof war mir zugesagt für den Termin, da der Vormieter, der kein Student mehr sei, ausziehe. Er zog aber nicht aus und alles, was mich als Reaktion erreichte bei Nachfrage, war ein Achselzucken. Immerhin landete ich so später in meiner Kochstube Mulackstraße 25 und hörte dort genau die Geschichten, die in „Freiheitsberaubung“ unappetitliche Wichtigkeit gewinnen: die Ratten, die man sieht beim Anheben des Klodeckels und sonst. Das war in genau dieser Zeit (1976 bis 1980 wohnte ich in nächster Nähe), noch Gesprächsthema, und ganz sicher nicht zufällig war die ewig auf Abriss wartende Linienstraße die erste oder eine der ersten, denen die Obrigkeit doch „innerstädtischen Neubau“ angedeihen ließ: Plattenbau zweistöckig oder dreistöckig. Günter de Bruyn aber besaß die Dreistigkeit (aus Sicht der Zensoren), sogar von Slums zu schreiben. Nach der Biermann-Ausbürgerung, nach dem Ausschluss etlicher Berliner Schriftsteller aus ihrem Verband war oben offenbar Schadensbegrenzung gewünscht: „Freiheitsberaubung“ kam 1980 doch heraus.
Als die Stasi am 22. November 1975 ihren Maßnahmeplan „Vorgangsmäßige Bearbeitung des politisch-operativen Schwerpunktes Selbstverlag“ zu Papier brachte, war die Reihenfolge der Zielpersonen Klaus Schlesinger, Hansdieter Schubert, Elke Erb, Helga Schubert. Auf Platz 5 folgt eine namentlich nicht genannte Person mit der Registriernummer XV/3230/73, bezeichnet als IMS „Roman“. Das aber war niemand anderer als Günter de Bruyn. Ihn wollte die Stasi zur Mitarbeit gewinnen, immerhin sollte er sich aber nicht selbst beobachten. Leutnant Grubitz wurde unter der Kontrolle von Major Wild dafür verantwortlich gemacht, dieses Ziel zu erreichen: „Das Ziel der weiteren Zusammenarbeit muss unter anderem darin bestehen, dem IM seine ideologische Blindheit gegenüber dem Projekt „Selbstverlag“ klarzumachen und ihn zu einer ablehnenden Position gegenüber der politischen Zielstellung der Inspiratoren dieses Projektes zu bewegen.“ Bei Joachim Walther („Sicherungsbereich Literatur“, Ch. Links Verlag Berlin 1996) lesen wir: „Günter de Bruyn gehörte zu den wenigen, die nach 1989 ihre MfS-Kontakte öffentlich problematisierten, wiewohl diese weitaus harmloser waren als die manch anderer seiner Kollegen.“ Wären sie weniger harmlos gewesen, das sollte man auf alle Fälle mit bedenken, hätte die Sache sicher anders ausgesehen.
Der Versuch, de Bruyn zu gewinnen, erfolgte nach der Methode des „Werbens unter Legende“, bei Walther im Detail nachlesbar, ich kenne mindestens einen Autoren, der für sich in Anspruch nimmt, einst auch nach diesem Verfahren geworben worden zu sein. Geplant war unter anderem, dass Sonja Schnitzler de Bruyn für ihre Anthologie „Tarnkappe“ gewinnen sollte, „um einen längeren Arbeitskontakt herzustellen“. Angeblich gelang das der Herausgeberin, dennoch ist de Bruyn im tatsächlich gedruckten Buch nicht vertreten, es muss irgendetwas schief gelaufen sein. Über den verständnisvollen Unterleutnant der Berliner Volkspolizei namens Schälicke schreibt de Bruyn in seiner ja auch schwarzhumorigen Erzählung: „denn schließlich gehört er selbst zu den in die Slums Hineingeborenen, die sich angesichts der die Neubauten bevölkernden Zugereisten vorkommen wie die auf den Kiez verbannten Ureinwohner eines eroberten Landes. Wer sich verdient macht um die Macht, die die Komfortwohnungen baut, pflegt er sonst immer zu sagen, bekommt früher oder später auch eine.“ Für das Ende deutet der Erzähler eine mögliche Beziehung der jungen Frau Paschke zu ihm an, er soll auf alle Fälle die Schlüssel zu einem vereinbarten Termin zurückgeben, der verdächtig nach Rendezvous aussieht. Und er schaut schon mal sorglich nach den Kindern.
Aus der Kleinen Auguststraße kam übrigens eine Frau, die mit einem Transparent ganz allein demonstrierte und nicht etwa verhaftet, sondern mit einer Wohnung versorgt wurde. Ganz so schlimm, wie die Stasi es sah, zeichnete de Bruyn also den Staat dann doch nicht. Ach ja, warum hat Anita Paschke denn den Direktor Siegfried Böttger überhaupt seiner Freiheit beraubt an genau dem Tag, als er eine Fünf-Raum-Wohnung in der Leipziger Straße beziehen sollte? Er wollte Schluss machen mit ihr, denn nun kam seine Frau aus Leipzig nach, das hätte Anita verkraftet, aber es war nun auch nicht mehr die Rede davon, dass er ihr eine menschenwürdige Wohnung verschaffen wollte. Weder verklagt er sie, noch hält sie ihn über Gebühr lange gefangen, es geht also versöhnlich aus, könnte man sagen. 1992 warf Klaus Poche, einer der aus dem Berliner Schriftstellerverband Ausgeschlossenen von 1979, ausgerechnet Günter de Bruyn vor, Verdrehung von Wahrheit zu betreiben. Er habe nicht protestiert, jedenfalls nicht öffentlich, nur in einem unveröffentlichten Brief. In diesem an Hermann Kant gerichteten Brief vom 9. Juni 1979 stand unter anderem: „Ich habe deshalb auf der Versammlung auch vorschlagen wollen, mich mit auf die Liste der Auszuschließenden zu setzen.“ Wer in der DDR hätte das veröffentlichen sollen?
Mutig war es trotzdem, denn zu den Informanten in Sachen „Berliner Geschichten“ hatte eben auch Kant gehört und Günter Görlich natürlich auch. Klaus Poches offener Brief wirkt heute an mehreren Stellen eher peinlich als klug, Günter de Bruyn war einfach das falsche Jagdziel. Und er antwortete sehr souverän und sehr knapp. Geschwätzigkeit war seine Sache hier und sonst nicht. Unterleutnant Schälicke rät der von Ratten geplagten Anita Paschke, die Tiere mit der Kohlenzange zu packen und zu ersäufen. Er hat offenbar wirkliche Sachkenntnis. Und Schläge mit dem Feuerhaken könnten zudem Schäden an der Kloschüssel bewirken, ohne sicher zum Erfolg zu führen. 1989 notierte ich mir als ein Lektüre-Fazit: „Das liest sich ganz vergnüglich, wenngleich es mir stilistisch doch ein bisschen angestrengt wirkt, aber vielleicht ist genau die Portion erzählerische Lockerheit abwesend, die abwesend sein muss für eine solche im Grund schlimme Geschichte.“ Das würde ich auch jetzt noch so auf meine Kappe nehmen. Und mein tiefes Verständnis dokumentieren für: „Sie hat zweiunddreißig Jahre ihres Lebens in der Linienstraße verbracht, das ganze also, immer unter der Wohnung gelitten und an Lebenszielen nur eins gekannt: sie zu verlassen.“ Da sperrt eine schon mal einen ein und lässt ihn an der Tür hämmern, zumal alle drei Kinder fest und tief schlafen.