Archivblick auf André Malraux
Größere Schlagzeilen produzierte André Malraux zuletzt zwanzig Jahre nach seinem Tode, als seine sterblichen Überreste ins Pantheon überführt wurden, wo auch Voltaire und Rousseau ihre letzte Ruhe fanden, um nur zwei der 70 zu nennen, die dort in ihren Behältnissen liegen, wie es der preisgekrönte Journalist Alexander Smoltczyk (Jahrgang 1958) ausdrückte. Ein wenig scheinheilig fragten die medialen Vertreter der Richterstühle der Vernunft, vor die etwas und jemand gezerrt werden konnte, nach dem Warum. Smoltczyk gab den Ton vor, der über vier SPIEGEL-Seiten das einzige Ziel voller Häme, Hohn und Herabsetzung hatte, die französische Entscheidung fragwürdig zu machen. Lustig ist aus heutiger Sicht, dass vier Tage nach dem am 18. November 1996 erschienenen SPIEGEL 47/1996 die keineswegs für plagiatorischen Grundcharakter berühmte NEUE ZÜRCHER ZEITUNG fast haargenau wie Smoltczyk fragte, Autor Jürgen Ritte: „Aber welcher Malraux, so fragen sich nicht nur die französischen Feuilletons, wird dort zum zweiten Male beigesetzt?“ Das deutsche Nachrichtenmagazin wollte Ritte dann wohl doch nicht direkt nennen, Nachlesende wären auf die frappierenden Übereinstimmungen gestoßen worden.
Nun könnte man ganz dummdreist fragen: Wie viele André Malraux gab es denn eigentlich? Oder war der eine viele, gewissermaßen in eine Körperlichkeit verpackt und eine Epidermis gehüllt? Die rhetorischen Fragen, die beide Nachdenker aufwerfen, erlauben ihnen nebenher etwas wie eine Kurzbiographie im Schnelldurchlauf, eine Kürzestbiographie. Wenn ich, was unwahrscheinlich ist, dereinst in einen Ehrenhain gebettet werde, müssten die analogen Fragen lauten: Wer wird da beigesetzt: der Grundschüler, der keine Milch trinken wollte, der Junglyriker, der erlaubte, das schnöde Förderer sein erstes gedrucktes Gedicht so verstümmelten, dass es gar nicht mehr von ihm war, der Mann, der Goethe-Vorträge hielt und über Wolfgang Borchert sprach, der Gefreite, den der Kulturschock NVA dennoch am Leben ließ? Der Autor diverser Bücher, die keinen Büchner-Preis einbrachten? Die Fragen zeigen, wie albern die Fragen waren, die vor zwanzig Jahren die Artikel pfiffig machen sollten. Denn André Malraux war wie noch der tolpatschigste Tolpatsch auf Erden schlicht nicht auf einen Begriff zu bringen, aus einer Eigenschaft zu erklären, mit einer einzigen biographischen Tatsache zu charakterisieren. Noch sieben solcher Tatsachen würden nicht reichen.
Tatsächlich war Malraux mit Anfang 20 ein Kunsträuber und ist offenbar dafür sogar verurteilt worden. Tatsächlich hat er das Vermögen seiner ersten Frau verspekuliert, hat er Kokain genommen und dies und jenes sonst noch. Tatsächlich ist er der bedeutendste und wichtigste französische Autor nach dem Tod von André Gide genannt worden. Er war fast Kommunist, später Anhänger von Charles de Gaulle mit einer Intensität, die bekennenden Indifferentisten zwangsläufig beängstigend erscheinen muss. Joseph Roth war bis zu partieller Realitätsblindheit Monarchist, es hat ihm nicht die schlechtesten seiner Erzählungen eingegeben. Hätte man Albert Camus ins Pantheon gebracht, wäre irgendetwas besser gewesen? Dass er einen Platz dort verdient hätte, würde ich sofort unterschreiben. Der SPIEGEL zitiert genüsslich Linksintellektuelle wie Pierre Boulez und Régis Debray, letzterer galt selbst in Ostberlin unter Philosophie-Studenten als eine Art Kultfigur, das macht seine und die anderen Malraux abwertenden Urteile nicht besser. Nimmt man die Romanistin Brigitte Sändig her, die Malraux in der DDR herausgab und mit Nachworten versah, war der Franzose ein aktiver Spanienkämpfer und organisierte eine republikanische Fliegerstaffel.
„Für seine Verdienste verlieh die Spanische Republik Malraux den Rang eines Obersten.“ heißt es im Nachwort zu „So lebt der Mensch“. Alexander Smoltczyk nennt Malraux einen „falschen“ Obersten: „In Madrid organisiert der elegante Goncourt-Preisträger aus einer Handvoll Altmetall-Maschinen ein Luftwäffchen.“ Ist das noch zynisch oder schon eine schlichte Böswilligkeit? Gibt es einen von deutschen Nachrichtenmagazinen festgelegten Verhaltenskodex für Goncourt-Preisträger oder dürfen die nur nagelneue Fernbomber und Jagdflugzeuge aus edelsten Rüstungsschmieden heranschaffen? Am Ende behauptet Smoltczyk kühn, DIE Franzosen hätten Malraux weder als Schriftsteller noch als Minister unter de Gaulle im Gedächtnis behalten, sondern nur als jenen Redner, der am 19. Dezember 1964 die Gedenkrede auf Jean Moulin hielt. Diese Rede ist heute noch vielfach Schulstoff in Frankreich. Moulin (20. Juni 1899 – 8. Juli 1943) war ein führender Kopf des Widerstands und erlag während eines Transportes in ein deutsches Konzentrationslager wahrscheinlich nahe Metz den schwersten Verletzungen, die er aus schlimmster Folter davongetragen hatte. „Die Szene hat sich für die Franzosen mit dem Pantheon verbunden.“
Im SPIEGEL-Nachruf auf André Malraux, dem immerhin zwei Drittel der Seite 244 am 29. November 1976 eingeräumt wurden (so viele Seiten hatte das Nachrichtenmagazin damals noch und kostete dennoch nur 2,50 DM, der Preis hat sich also in vierzig Jahren fast vervierfacht bei gleichzeitigem kräftigen Rückgang der durchschnittlichen Seitenzahl), hatte es zum spanischen Engagement des Verblichenen noch geheißen: „Er organisierte 1936 in Spanien für die Republikaner eine Kampffliegerstaffel, aber der Luftwaffenchef Cisneros hat später erklärt, Malraux sei im Bürgerkrieg ohne Nutzen gewesen: fliegen jedenfalls konnte er nicht.“ Ich weiß nicht, wie viele der durchaus zahlreichen Schriftsteller aus aller Welt, die sich in Spanien in die Internationalen Brigaden reihten oder anderweitig halfen, fliegen konnten, waren sie deshalb ohne Nutzen? Der Nachruf begann: „Es war seit langem schwierig geworden, die Bewunderung, die ihm gebührt, durchzuhalten.“ Noch am Tag vor dem Tod von Malraux, am 22. November 1976, hatte der SPIEGEL genüsslich auf vier Seiten Malraux-Klatsch verbreitet, sich dabei hinter Claire Goll, Clara Malraux und Suzanne Chantal verbergend, dass es jedes Regenbogenblatt neidisch machen musste.
Eine Kostprobe aus den Memoiren der Claire Goll (29. Oktober 1890 – 30. Mai 1977), unter dem Titel „Ich verzeihe keinem“ auch in der DDR erschienen? „Ich lernte André Malraux kennen, als er neunzehn Jahre alt war. Er kam in die Redaktion der Action, wo er gerade einen seiner ersten Artikel veröffentlicht hatte. Er war ein junger Mann von eigenartiger Schönheit, fieberhaft gespannt und voller Ticks. Er spielte den düsteren Dandy, der aus dem Nichts kam und sich auf einen meteorhaften Aufstieg vorbereitete. Sein Wesen war beweglich, ungreifbar; sein Gehirn schien das eines sechzigjährigen Philosophen zu sein. Malraux schenkte seinen Gesprächspartnern niemals Beachtung. Er sah nichts als die allgemeinen Ideen, die haufenweise seinem Schädel entströmten.“ Claire Goll will die Verbindung von Malraux zu Clara Goldschmidt vermittelt haben, der späteren ersten Frau. Sie habe auf Anraten von Yvan Goll (29. März 1891 – 27. Februar 1950) ein Gedicht von Johannes R. Becher ins Französische übertragen. Und Malraux von einer Mitgift von 200.000 Goldfranc erzählt, woraufhin er sie sehr bald heiratete. Bei Claire Goll liest man dergleichen gern, aber gehört es ins damals noch unangefochten führende deutsche Nachrichten-Magazin?
Auf ihre DDR-Jahre zurückblickend hat die Camus-Biografin Brigitte Sändig unter der Überschrift „Gide, Malraux und Céline“ geschildert, wie westliche Autoren, die mehr oder wenig mit Tabu belegt waren, schließlich doch gedruckt wurden oder eben nie. Mit Malraux ging es vergleichsweise leicht, weil von dem der berühmt-berüchtigte Alfred Kurella (2. Mai 1895 – 12. Juni 1975) eine Novelle aus dem Jahr 1936 übersetzt hatte, darin ging es um einen Kommunisten in Gestapohaft und bekannt war auch, dass Malraux sich für Dimitroff und Thälmann eingesetzt hatte. So kam „So lebt der Mensch“ in den Volksbuchhandel, und es folgte „Die Hoffnung“. Jean-Paul Sartres Urteil über Malraux, wie er es in einem Vortrag über „Neue Literatur in Frankreich“ formuliert hatte, den er in den USA hielt, hätte in der DDR ohnehin wenig geholfen: „Auch er hat den Menschen gezeigt, der dem Tod ins Auge geblickt und Foltern bis an die Grenze seines Mutes und seiner Freiheit getrotzt hat. Aber Malraux ist ein Romantiker des Aktion. Sein freiwilliges Engagement war immer etwas unverbindlich – man könnte sagen, dass er sich fast ausschließlich dafür interessierte, den Tod und das Böse herauszufordern, und dass ihm das Endziel gleichgültig war.“
Am 28. März 1953, ich hatte eben meinen ersten Lebensmonat erfolgreich beendet und interessierte mich definitiv nicht für Bücher und ihre Autoren, erschien in der STUTTGARTER ZEITUNG ein Beitrag von Friedrich Sieburg (18. Mai 1893 – 19. Juli 1964), Titel „Das Thema der Tat“. Dort ist jener Satz aus dem Roman „Die Hoffnung“ von Malraux zitiert, der jedem strengeren Zensor im real existierenden Sozialismus Schluckauf hätte verursachen müssen: „Es gibt eine Politik der Gerechtigkeit, aber keine gerechte Partei.“ Formuliert aus der Erfahrung des Spanienkrieges, muss über gemeinte Parteien nicht sehr lange gerätselt werden und es dauerte dann ja auch nur noch bis zum Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes, bis Sympathisant Malraux der politischen Avantgarde der Arbeiterklasse endgültig den Rücken kehrte. Sieburg schrieb außerdem: „Diese Wandlungen sind atemberaubend, aber ebensowenig widerspruchsvoll wie das epische Werk dieses Mannes. Seine Romane und sonstigen Bücher variieren das große abendländische Thema der Tat.“ Ehe jemand vorschnell an den berüchtigten „Tat-Kreis“ der Jahre 1929 bis 1933 denkt: Auch von Heinrich Mann gibt es ein sehr berühmtes Büchlein mit dem Titel „Geist und Tat. Franzosen 1780 – 1930)“.
Die Diagnosen nach dem Tod von André Malraux heute vor 40 Jahren haben einen Grundton. Seinen großen Beitrag zum 100. Geburtstag des Franzosen begann Henning Ritter (20. Juli 1943 – 23. Juni 2013) in der FAZ vom 3. November 2001 so: „Mit jeder neuen Biographie, die über André Malraux erscheint, wird dieser ein Stück kleiner. Die Bücher über ihn werden dicker – die zuletzt erschienene Biographie von Oliver Todd hat siebenhundert Seiten -, und seine Heldenbiographie, sein Mythos, an dem schon der Zwanzigjährige entschlossen zu arbeiten begann, nimmt ab.“ Christian Demand (Jahrgang 1960) schrieb für die LITERARISCHE WELT vom 28. Juni 2014: „Die frühere Strahlkraft des Multitalents begann deshalb gegen Ende seiner langen Karriere in dem Maße zu verblassen, in dem sich auch die Überzeugungskraft seines literarischen und essayistischen Werks abnutzte, das seinen Höhepunkt spätestens Mitte der Fünfzigerjahre überschritten hatte.“ Das letzte Wort bekommt Martin Meyer, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG vom 3. November 2001: „Nein, André Malraux war kein Menschenfreund. Seine Ideale hatten etwas Abstraktes … Nein, er war kein Menschenfeind. Sein Enthusiasmus für das Gute und Schöne schien echt ...“.