Karl Valentin: Der Bittsteller

Als der Leipziger Reclam-Verlag den Band 611 seiner Universal-Bibliothek auf den Markt warf, der keiner war, kam er dort gar nicht erst groß an. Irgendwie verflüchtigte sich dieser Band und auch die zweite Auflage verflüchtigte sich, die in dem Jahr erschien, als ich Vater wurde. Denn so kurios es klingt, auch auf einem Markt, der keiner ist, gibt es das Verhältnis von Angebot und Nachfrage respektive umgekehrt. Um es kurz zu machen, „Karl Valentins Lach-Musäum“ fand erst in meine Bestände, als ich längst ein viel dickeres Karl-Valentin-Buch besaß mit dem Titel „Alles von Karl Valentin“. Dieses dickere Buch versprach, sämtliche jemals in Buchform erschienenen Werke des Mannes zu versammeln, den ich hauptsächlich als Duo vom Radio kannte. Um zu überprüfen, ob es tatsächlich alle sind, hätte ich vielerlei Aufwand treiben müssen. Dienstreisen an denkbare Prüforte sind zwischenzeitlich wegen der historischen Entwicklung nicht mehr sonderlich erstrebenswert, jeder Depp kann bekanntlich wegen der Mauer und ihres Falles nach München oder Köln reisen oder beides zugleich. So halte ich fest: Der für zwei Ostmark einst preiswertere Valentin verzichtete auf „Der Bittsteller“, den der dickere Band in seiner Abteilung „Szenen und Stücke“ natürlich führt.

Hinten im dickeren Band finden sich zwei Seiten Zeittafel und auf der ersten dieser beiden Seiten steht fast ganz unten (für Forscher die präzise Angabe, um ihnen wertvolle Zeit zu ersparen) recht lapidar: 1925 1. Januar: Der Bittsteller. Ich hätte es als hilfreich empfunden, stünde da auch, was es bedeutet: Hat Karl Valentin „Der Bittsteller“ an diesem Tag geschrieben, vollendet, veröffentlicht oder war es gar der Tag der Uraufführung? Da für die beiden folgenden Jahre 1926 und 1927 ebenfalls Daten angegeben sind (5. Mai 26 Brillantfeuerwerk im Schauspielhaus; 7. Juni 27 Im Photoatelier im Apollotheater), gebietet die Logik, den ersten Januar nicht als Uraufführungstag zu sehen, denn da hätte denn auch ein Ort verzeichnet sein müssen. Wegen des Autoritätsbeweises und des morgigen Brecht-Geburtstages zitiere ich halbwegs übergangslos aus einem Brief, den jener Brecht Mitte März 1920 aus Augsburg an Dora Mannheim schrieb, an die liebe Do, das gnädige Fräulein: „Aber ich war kreuzvergnügt, ich trottete ganz langsam in die Pension und saß abends bis 11 im Kabarett bei Valentin und wälzte mich fast vor Lachen: Aber der Brief wird zu lang.“ Gern wird dieser Brief zitiert, deutlich weniger gern etwas über Dora Mannheim verlauten lassen.

Ob es kürzere Wege gibt, kann ich allenfalls vermuten, das weltweite Netz führt bei der Suche nach Dora Mannheim vor allem in die Frisör-Branche. In der „Augsburger Allgemeinen“ vom 25. Januar 2014 stößt man auf einen Artikel, dessen Einstieg das bietet, was man im Redaktionsjargon „anfeaturen“ nennt: „Winter 1920, Maskenball im Berliner Staatlichen Kunstgewerbemuseum: Die Journalistin und Schriftstellerin Dora Mannheim (1896 – 1974) hat sich bei diesem Kostümfest eher gelangweilt als amüsiert.“ Die Szenerie beschreibt Brecht-Biograph Klaus Völker mit auffallend ähnlichen Details, verrät allerdings nicht, welche Quelle er dazu heranzieht. Auf deren Spur stößt man, falls man einen Blick ins Personenregister wirft: Dora Mannheim steht dort: (= Doris Hasenfratz). Doris Hasenfratz wiederum hat in der Hamburger ZEIT Nummer 34 vom 19. August 1966, an Brechts 10. Todestag zwei Tage vorher andockend, haargenau diese Details erzählt. Sie emigrierte 1934 in die Schweiz, wo sie nach einem Kurzaufenthalt in Zürich nach Ascona kam und den Kunstmaler Walter Hasenfratz heiratete. Der Schweizer Journalist Carlo Weder (Jahrgang 1931) attestierte ihr 1974 in einem Nachruf Mut, Zivilcourage und große kulturelle Verdienste um Ascona.

„Der Bittsteller“, es ging uns eben wie Karl Valentin, wir schweiften ab (für Kritiker: dieser pluralis majestatis ist nicht hochmütig gemeint), ist Herr Brandstetter, Schreinermeister, was uns zwanglos an die 1899 beendete dreijährige Schreinerlehre Valentins erinnert. Der wird von Dienstmädchen Fanny ins Arbeitszimmer des Herrn Geheimrats geführt, von dem er ein Darlehen erbitten will. Als Geheimrat braucht man keinen zusätzlichen Namen, Goethe bildete da eine gewisse Ausnahme und dieser Geheimrat wird nun in seinem Arbeitszimmer in ein verrücktes Geschehen verwickelt. Es beginnt damit, dass der Schreinermeister, um seinen Hut, wie aufgefordert, aufzuhängen, einen Nagel in des Geheimrats Standuhr einschlägt, was dem Geheimrat die Sprache verschlägt und die Spucke wegbleiben lässt. Der Schreinermeister, nach einem Dialog, den man freilich hören müsste, bekennt, er sei bei dem Baron Rembremerdeng nicht Gärtner, sondern Spritzbrunnenaufdreher gewesen, was ihm zwei Mark im Jahr eingebracht habe. „Wenn der Herr Baron Rembremerdeng in seinem Park tausend solchene Spritzbrunnen ghabt hätt, die wo mer alle Tag auf- und zudrehn hätt müssen, das wären dann zweitausend Mark pro Tag gewesen, des wär a Gschäft.“

Der Herr Geheimrat hat einen Sohn Bubi, den im Matrosenanzug Liesl Karlstadt zu verkörpern hat und dieser Sohn will im Radio den großen Fußballkampf in Wien hören, wozu es einer anderen als der vorhandenen Antenne bedarf. Auf einer Bühne ist das gar nicht anders denn als Slapstick-Feuerwerk vorstellbar: Drähte, Stühle, Lampen, Hälse, dazu Nonsens-Dialoge, die keinen Kalauer auslassen, und Namenswitze, wie man sie von Valentin kennt: Holzinger hat er ghoaßn, so a metalliger Name. „Guten Tag, Herr Haring“, sagt der Geheimrat am Telefon, der Schreinermeister kommentiert: „Des is a saudummer Name. No ja, allweil no besser, als wenn oaner Rollmops heißt“. Als ihn der Geheimrat fragt, ob er Kinder habe, bejaht er, Knaben oder Mädchen? „Das könnt ich Ihna gar net genau sagn, … i bin die meiste Zeit unten in der Werkstatt.“ Innerhalb kurzer Zeit eskaliert die Situation, Brandstetter, fast erwürgt vom Bubi, beschimpft diesen nach Strich und Faden. Eine Nippesfigur geht zu Bruch, der Geheimrat, der schon 150 Mark locker machte, um diesen Mann loszuwerden, verlangt nun 300 Mark Schadenersatz. Die Pointe, falls man sie so nennen mag: Vor dem Fußball aus Wien bringt das Radio noch einen Vortrag über Kindererziehung.

Um Klagen wegen aktiver Informationszurückhaltung zu vermeiden, erwähne ich pflichtschuldig eine Bildbiographie mit dem schlichten Titel „Karl Valentin“, 1993 in erster Auflage erschienen im Gustav Kiepenheuer Verlag zu Leipzig, Verfasser Biskupek, Matthias, polizeilich gemeldet in der Schillerstraße zu Rudolstadt. Auch hier finden sich zwei Seiten Zeittafel, dem Jahr 1925 ist zugeordnet: Premiere „Der Bittsteller“ und „Der reparierte Scheinwerfer“ (unter dem Titel „Die beiden Elektrotechniker“). Die Seiten 89 bis 94 sind dem „Auftritt Brecht“ gewidmet. Man sieht Brecht mit einer Flöte, ehe Text kommt und im Text kommt dann auch in voller Länge ein Beitrag, den der Flötist für ein Programmheft schrieb, das der Uraufführung seines eigenen Stückes „Trommeln in der Nacht“ galt. Dazu der Humorist Biskupek: „Auch die umfassendste Valentin-Biografie kann kaum Wesentlicheres aussagen, als das, was Brecht damals sieht, erfühlt und zu formulieren weiß.“ Über das sich an die Uraufführung anschließende Parodieprogramm „Die rote Zibebe“ findet man verschiedene Darstellungen. Jedenfalls hat der Brecht, als der Karl Valentin am 9. Februar 1948 in seinem 66. Lebensjahr starb, davon keinerlei zitierbare Notiz genommen.

Eine der frühesten Tagebuch-Notate Brechts von Ende Juni 1920 hält fest: „Übrigens entwarf ich eine Operette in Worten, „Die Fleischbarke“, und einen Aufsatz über den Komiker K. Valentin.“ Der Anmerkungsapparat weiß: „Der erwähnte Entwurf befindet sich nicht in dem vom Bertolt-Brecht-Archiv aufbewahrten Nachlass.“ Dirk Heißerer beendet seine „Literarischen Spaziergänge durch Schwabing“, die zuerst 1993, später erweitert 2008 unter dem Titel „Wo die Geister wandern“ erschienen, mit einen kurzen Blick auf Valentin und Brecht. „In einem Fotoatelier in der Münchner Hohenzollernstraße drehten Brecht, Valentin und Erich Engel den grandiosen Stummfilm „Mysterien eines Frisiersalons“, von dem es diverse winzige und ein etwas größeres Szenenfoto in der genannten Bildbiografie zu besichtigen gibt. Bei Herbert Ihering, dessen 130. Geburtstag Ende des Monats zu gedenken wäre, wenn dieser Februar 29 Tage hätte, finden wir den Hinweis auf die „bayerische Logik“ Karl Valentins mehr als nur einmal, er habe ihr eine „erschütternd komische Gestaltung“ verliehen. Erschütternd komisch: das muss man erst einmal so sehen und sagen. „Der Bittsteller“ liefert einen kleinen, aber feinen Beleg dafür, wie richtig Brecht-Förderer Ihering lag.


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