Wie hießen Rasputins Bücher damals?
Schwer vorstellbar und vielleicht noch schwerer einzugestehen für manche, dass es eine Zeit gab, da Literatur aus dem Riesenreich, das hinter Polen begann und bis Japan langte, nicht nur Pflichtleser hatte. Da der Begriff Sowjetliteratur Reaktionen auszulösen vermochte von Brechreiz bis zu leuchtenden Augen. Da man aus Verlagen vernahm, dass mancher Schund und mancher Edelschund nur deshalb hier übersetzt wurde aus dem Russischen, um auch die anderen Projekte durchzubringen, die den Lektoren und Verlegern wichtig waren, die Autoren verlegen machen konnten, weil sie ganz einfach so extrem gut waren. Unvergesslich ist mir der Effekt, der sich aus der Lektüre von zunächst „Sechzig Kerzen“ von Wladimir Tendrjakow und dann „Eine Anzeige in der Zeitung“ von Günter Görlich ergab. Die miese Reißbrettschwarte des Berliner Musterknaben mit heftiger Stasi-Neigung, die freilich erst später öffentlich wurde, zur Anregung künstlicher Diskussionen in pädagogischen Räten und der Lehrerzeitung hier, dort schlicht große bewegende Literatur, Buch für Buch.
Ich fragte, als ich im vorigen Jahr während des Sommerkurses an der TU Ilmenau nach meinem Seminar über deutschsprachige Literatur-Nobelpreisträger mit einer russischen Germanistik-Studentin im Raum verblieben war, die noch zusätzliche Auskünfte haben wollte, wie es denn bei ihr zu Hause stehe mit den großen Namen aus jener Zeit. Und sie antwortete, da ich Trifonow, Tendrjakow, Rasputin nannte: „Ach, Sie meinen die Sowjetischen?!“ Und sie zuckte mit den Achseln. Gorbatschow hat offenbar als Kollateralschaden in den Köpfen auch das Vergessen jener Autoren vorbereitet und mitverursacht, die das schon praktizierten, was unter seinem Namen als Glasnost und Perestroika firmierte, als er selbst noch wie seine Vorgänger schwieg und log. Tschernobyl war schon seine Medienpolitik. Das Interesse an Sowjetliteratur ist mit dem Ende des Ostblocks so radikal geschwunden wie der Durst nach Maracuja-Brause aus dem sozialistischen Getränkekombinat in der postsozialistischen Bahnhofskneipe.
Nur wenige Jahre mussten vergehen, da durften bereits unwidersprochen die größten Dummheiten verbreitet werden, Literatur und Literaturkonsum betreffend. Noch kein halbes Jahr ist es her, da schwärmte ich bulgarischen Freunden vor von meinen Lesererlebnissen mit bulgarischen Autoren, ich nannte die Namen aus dem Gedächtnis und keineswegs nur die, deren Bücher ich auch besprochen hatte in den verschiedenen Zeitungen, für die ich schrieb. Auch diese Namen bis auf wenige Ausnahmen klassischer Zeit: alle vergessen, alle vergangen. Was ist passiert? Nichts, was der Rede wert wäre. Marktwirtschaft. Wo im üblichen deutschen Buchhandel schon nach kurzer Zeit selbst ein Hard-Cover von Martin Walser in den Ramsch-Katalogen erscheint, wie sollte sich da ein Autor oder eine Autorin verkaufen, deren Namen unaussprechlich, schwer zu transkribieren sind und auf ein Land deuten, in dem man vielleicht Billigsturlaub in der Sonne macht, aus dem man doch aber, bitte schön, keinen Gegenwartsroman liest.
Allein der Umstand, dass ich noch immer nicht angedeutet habe, was ich eigentlich sagen will, zeigt mir selbst, wie besetzt die Thematik ist mit Verletztheiten, mit Demütigungen, mit Arroganz und Ahnungslosigkeiten. Heute ist, um es kurz zu machen, der 75. Geburtstag von Valentin Rasputin. Die ihm gewidmete Wikipedia-Seite ist dürftiger als dürftig, lässt aber immerhin die Vermutung offen, dass der Autor noch lebt. Auch dort steht einer der berüchtigen Gilt-als-Sätze, bei denen ich regelmäßig Schüttelfrost bekomme, weil diese blöden, blöden, blöden Sätze Informiertheit suggerieren, wo allein von der Semantik her schon alles und nichts gleichzeitig formuliert wird. Ich habe zu meinem Archiv Zuflucht genommen, weil das Gedächtnis überfordert ist und sehe: Dreimal schrieb ich über Rasputin. „Beschreibung einer Brandnacht“ hieß ein Sechzigzeiler in NEUE HOCHSCHULE vom 17. Juni 1988, „Ein Brand mit Folgen in der Siedlung Sosnowka“ stand über dem Beitrag in TRIBÜNE vom 1. Juli 1988 und schließlich gab es noch „Sibirische Ansichten der Sehnsucht nach Harmonie“ in der TRIBÜNE vom 23. Dezember 1988. Begriffe tauchen wieder auf, die einst heftig debattiert wurden: Dorfliteratur etwa. Ich blättere in meinen Notizen zu den kurzen Erzählungen und finde mitten in meiner ausgedrückten Hinneigung auch Abstand. Da war ein Konservatismus, den damals niemand so zu nennen gewagt hätte, da schaute gar nicht so verzagt ganz alte Slawophilie aus den Texten, von der wir gelernt hatten, dass Lenin sie verdammte.
Wie hießen Rasputins Bücher damals? „Der Junge, der Fluß und der große Wald“, „Abschied von Matjora“, „Leb und liebe“, „Der Brand“, „Die letzte Frist/Leb und vergiß nicht“ sind die, die ich las oder besitze oder beides. Heute will ich einfach nur behaupten, dass man sie alle immer noch lesen kann mit Gewinn. Dass man vielleicht sogar ganz bewusst zwischen all die gepushten amerikanischen Bestseller mal so ein Buch schieben sollte, die dünnen hießen übrigens Powest, nicht Roman, oder Kurzroman oder gar einfach nur Erzählung. Dass man ganz kurz nur sich vorstellen sollte, wie die DDR ausgesehen hätte, wenn sie so russifiziert worden wäre wie der Westen amerikanisiert. Alles nur ganz kurz und mit dem vorgeschobenen Anlass dieses 75. Geburtstages gedacht. Dann wieder Tagesordnung. Die lässt sich sogar mit Goethe rechtfertigen.