Gabriele Tergit: Querschnitt. Eine Abschweifung

Kein Mensch würde auf der Suche nach klugen Sätzen über Homers „Odyssee“ ausgerechnet bei Gabriele Tergit nachfragen. Eben erst hat die LITERARISCHE WELT sie wieder einmal entdeckt, sie wird seit reichlich 40 Jahren mit schönster Regelmäßigkeit derart beehrt. Dass es ein sehr dicker Roman ist, ist kaum verwunderlich, auch wenn sie überhaupt nur zwei Romane geschrieben hat. Der eine, „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ machte sie, so schreibt einer beim andern ab, 1931 mit einem Schlag berühmt, der andere, „Effingers“, half ihr 1951 leider nicht mehr zu neuer Popularität. Genau der ist es, dem sich Literaturprofessor Erhard Schütz zuwendet, so firmierend nur in „derfreitag“, andernorts reicht ihm sein Name. Gabriele Tergit hat aber tatsächlich Kluges über die „Odyssee“ zu Papier gebracht, in einem Büchlein, das auch so heißt: „Das Büchlein vom Bett“. Es wäre innerhalb dieser Abschweifung zum 26. Februar schon eine weiter gehende, also  vielleicht mit Abschweifung 2.0 zu beschreibende, das im Detail zu verfolgen. Immerhin, der Anfang des Büchleins sei zitiert: „Unter die lebenswichtigen Einrichtungsgegenstände möchte wohl jeder als erstes das Bett zählen. Im Bett finden die großen Ereignisse statt, Geburt, Hochzeit, Tod. Alles, wovon die Außenwelt nichts weiß, Tragödie und Glück, das Bett ist die Stätte dafür.“
 
Vor neunzig Jahren war der 26. Februar ein Dienstag wie heute. Vor neunzig Jahren war demnach der 22. ein Freitag, der 23. ein Sonnabend und der 24. ein Sonntag. Ein Wochenende eben. Mich berührt das im Feuilleton „Querschnitt“ in kleinen Schlaglichtern geschilderte Berliner Wochenende von 1929 vielleicht allein aus dem profanen Grund, selbst eben in Berlin gewesen zu sein. Mehr als zu erwarten wäre angesichts von drei bescheidenen Druckseiten, entnommen dem einst berühmten BERLINER TAGEBLATT eben vom 26. Februar 1929. Gabriele Tergit, als Elise Hirschmann am 4. März 1894 in Berlin geboren, es steht also kommende Woche ein kleines Jubiläum an, gehörte zu dieser Zeit bereits einige Jahre der Redaktion an. Neben den heutigen Ohren bis auf Alfred Kerr kaum besser vertrauten Herren Walter Kiaulehn und Rudolf Olden. Ihr Vater war der Fabrikant Fritz Hirschmann, die Mutter Friede Hirschmann, geborene Ullmann. Ihre journalistische Laufbahn begann sie noch unter ihrem Mädchennamen, heiratete 1928 den Architekten Heinz Reifenberg, ihr Peter genannter Sohn Ernst Robert Reifenberg wurde später ein sehr namhafter Mathematiker. Nach dem Überfall des SA-Sturms 33 auf die Wohnung Siegmundshof 22 in Berlin-Tiergarten emigrierte die Familie über die Tschechoslowakei nach Palästina, später nach London, wo Tergit 1982 starb.
 
Im alten Bezirk Tiergarten, jetzt zu Mitte gehörig, gibt es eine Gabriele-Tergit-Promenade. Die Namensgebung erfolgte erst 1998. Sie begrenzt den schmalen Tilla-Durieux-Park, erstreckt sich zwischen Stresemannstraße und Halleschem Ufer und ist mit U- und S-Bahn unproblematisch zu erreichen. Das alte Berlin ist hier nur mittels sehr viel Phantasie noch vorstellbar, der sichtnahe Potsdamer Platz verkörpert zu wuchtig das neue Berlin. Siegmundshof 22 ist in Michael Bienerts Stadtplan „Literarisches Berlin“ als laufende Nummer 90 ausgewiesen und erläutert, dort soll auch eine Gedenktafel zu finden sein, die im Verzeichnis der „Berliner Gedenktafeln“ allerdings nicht ausgewiesen ist, auch ist eine separate Hausnummer 22 dort offensichtlich nicht erhalten. Eigener Augenschein ist offenbar unerlässlich. Wie dem auch sei, in den zur Rede stehenden Zeiten hatte Gabriele Tergit einen Chefredakteur Theodor Wolff, der ihr zur Festanstellung verhalf, sie muss, das folgt daraus, vielversprechend gut gewesen sein. An ihren Gerichtsberichten und Feuilletons ist das ohne mühsame Archiv-Besuche überprüfbar, sie sind inzwischen in gleich mehreren Sammelbänden greifbar, das Hauptverdienst dafür gehört dem Journalisten Jens Brüning (14. Dezember 1946 – 20. Februar 2011) und dem einstigen DDR-Verlag DAS NEUE BERLIN. Doch zurück ins Jahr 1929.
 
Es muss an jenem Freitag plötzlich warm geworden sein, wie der Februar das so kennt bisweilen, den Klimawandel bemühte damals noch niemand. Man bekam Kohlen, wenn man auch Holz dazu nahm. Ob das damals schon Kopplungsgeschäft hieß, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass in der DDR dies Prinzip bei Mullwindeln für Babys angewandt wurde. Das Kaufen gegen die Jahreszeit war auch damals schon üblich: Badelatschen zu Weihnachten und Pelzmäntel Ende Juli. Gabriele Tergit schreibt: „Das Wesen der Eleganz beruht darauf, bei Eiseskälte Chiffon  und bei glühender Sonne Pelze zu wählen.“ Was es schon gab und von der Feuilletonistin in einen einzigen Satz gegossen werden konnte: „Einem schäbigen Mantel, einer runzligen Haut bietet man ein kleineres Gehalt.“ Heute erforschen ganze Soziologen-Teams das auf der Hand liegende Phänomen, ergänzt um die Wirkung von Vornamen, die zu Tergits Zeiten sicher noch nicht schichtspezifisch gewählt wurden. Am 23. Februar, da ich 90 Jahre später Ödön von Horvaths „Italienische Nacht“ sehe in der Regie von Thomas Ostermeier, sieht Gabriele Tergit Yvette Guilbert, „… das war herrlich wie immer. Merkwürdig, wenn ein Mensch nichts weiter ist als ein Mensch, der die jungen Menschen und die alten kennt“. Sie begründet es sich und ihren Lesern zugleich sofort und mit wissender Weisheit.
 
„Denn der Mensch hat es nötig, verstanden zu werden. Er ist so dankbar, wenn einer aufsteht und ihm sagt, so bist du, so elend im Sterben, so heiter am frühen Tage, so eitel in der Uniform …“. Und dann kommt ein Satz, den man besser versteht, wenn man weiß, dass Yvette Guilbert im Februar 1929 ihren 64. Geburtstag gerade einen Monat hinter sich hatte, die französische Sängerin starb knapp zwei Wochen nach ihrem 79. Geburtstag in Aix-en-Provence: am 2. Februar 1944. Der Satz lautet: „Herrlich, wenn eine Frau versteht, alt zu sein.“ Reichlich 30 Jahre früher, 1898, schrieb der erwähnte Alfred Kerr: „Sie ist eine Zauberin.“ Und im nächsten Abschnitt: „Sie scheint ein einziges Gemisch von Lebenswildem und Längstverstorbenem.“ Und im vorigen Abschnitt: „Es ist, ohne Pathos, bisweilen eine düster glühende Hexenmischung mit humorsamen Lichtern.“ Ob Tergit die Schwelgereien ihres 27 Jahre älteren Redaktionskollegen kannte, weiß ich nicht. Klar ist nur: es gibt ihn, den weiblichen Blick, einen in diesem Falle bemerkenswerten: „Herrlich, wenn eine Frau versteht, alt zu sein.“ Wir würden heute allenfalls das Alter von nur 64 Jahren nicht mit Alt-Sein verbinden. Gabriele Tergit selbst ist bis 1981 (seit 1957) Sekretär(in) des Londoner PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland gewesen. Sie verstand es, alt zu sein. Möchte man glauben.
 
Fleißig war sie auch, was hier nur nebenbei erwähnt sei. Schon am 27. Februar 1929 stand ihre Gerichtsreportage „Die Spitzel-Zentrale“ im BERLINER TAGEBLATT, vier Tage nach „Paragraph 218. Ein Fall aus tausend Fällen“. Ein Freispruch des Angeklagten zu Lasten der Staatskasse, eine Einstellung des Verfahrens gegen die 16 Jahre alte Mutter. Man lernt ganz nebenher, dass Reden über die Klassenjustiz der Weimarer Jahre bestenfalls Teilwahrheiten behaupten. Am 24. Februar schaut Gabriele Tergit Kindern zu, die im Tiergarten Wintersport treiben, der eigene Sohn ist da gerade mal vier Monate alt. Kempinski ist wegen Überfüllung geschlossen. „Man steht hier an, um für sein Geld Wein und Rumpsteaks zu kriegen. Nicht anders am übrigen Kurfürstendamm.“ Da ist, seltsam genug aus heutiger Sicht, schon der Wittenbergplatz eine andere Gegend. „Dort ist ein erinnerungsreiches russisches Restaurant. Fürstliche Emigranten haben es gegründet, waren dort Kellner, damals als man russisch können musste, um durch Charlottenburg zu kommen.“ Das ist auch heute wieder durchaus hilfreich, der russische Markt am Stuttgarter Platz sucht Arbeitskräfte. Die kleinen Hotels der Gegend sind in russischer Hand. „Der Ober bietet uns Sterlett an. Sterlett aus der Wolga, ein herrliches Tier.“ Ich kenne nur Sterlett aus der Theiss. Und nun das Lob der Tergit.
 
„Querschnitt“ endet seltsam melancholisch. „Ostasiaten sitzen in dem kleinen Restaurant. Sehr viele Deutsche. Sie essen diese merkwürdigen Gerichte mit viel Pilzen und roten Rüben, diese Geflügelkoteletts. „Ich lebe gern in Deutschland“, sagt der Fürst, „klein ist nur alles, klein.“ Im Buch sehe ich unter dem Text eine Kleinanzeige für Yvette Guilbert, für ihren letzten Abend. Der Veranstalter war die Konzert-Direktion Hermann Wolff und Jules Sachs. Kein Datum erkennbar, es war aber ein Dienstag, Ort der Bechstein-Saal. Der war am 4. Oktober 1892 eröffnet worden in der Linkstraße, fasste etwas über 500 Besucher und wurde 1944 bei einem Bombenangriff vollständig zerstört. Die Linkstraße ist, es gibt auch Nicht-Berliner, quasi die Parallelstraße der Gabriele-Tergit-Promenade auf der anderen Seite des Tilla-Durieux-Parkes. Der Name Gabriele Tergit, das für das Protokoll, fehlt nicht nur in der siebenbändigen Leipziger Reclam-Darstellung „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945“ aus DDR-Zeiten, er fehlt ebenso in der mit schon mehreren Fehlstellen negativ aufgefallenen „Gesamtdarstellung“ „Schreibende Frauen“ des Suhrkamp Verlages und im ZEIT-Literatur-Lexikon. Dass sie als Autorin der WELTBÜHNE weder Tucholsky noch Ossietzky lesbar bewegte: „Saudumm war das Ganze.“ So sie selbst, aber natürlich nicht dazu.


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