Die Akte Detlev von Liliencron

„Selbst Liebhaber der Lyrik kennen Detlev von Liliencron heute oft allenfalls noch aus den Bennschen Versen, die sich bei Nennung seines Namens unfehlbar einstellen: „Damals war Liliencron mein Gott / ich schrieb ihm eine Ansichtskarte.“ Nein, sehr geehrter Herr Professor Heinrich Detering, Sie irren nicht nur, Sie gehen auch in einer, tut mit leid, namenlos arroganten Weise von sich selbst aus. Ich zum Beispiel musste mich sehr quälen, das Gedicht mit der Stelle zu identifizieren, dessen Titel Sie großzügig verschwiegen. Denn die Google-Suche führte zwar mehrfach auf Ihren FAZ-Beitrag vom Juli 2009, aber genau dort fehlt ja eben die Quelle der sich unfehlbar einstellenden Verse. Und dann kommt erschwerend hinzu, dass wahrscheinlich doch nicht alle sterblichen Menschen in ihrer Schulzeit (oder wo sonst?) Gottfried Benns „Statische Gedichte“ so eingebimst bekamen, dass sie die Verse so sicher im Kopf hatten wie einst Oma Kriemhild „Die Glocke“ von Schiller. Immerhin: Meine dicke S. Fischer-Ausgabe „Gottfried Benn: Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke“, ein Geschenk meines Oberbürgermeisters zu meinem 50. Geburtstag, es ist also schon ein Weilchen her, enthält das fragliche Gedicht „Impromptu“, das mit den zitierten Zeilen endet, man findet es am schnellsten im alphabetischen Verzeichnis der Gedichttitel.

Mir fiel als Liebhaber der Lyrik, das Geheimnis gleich zu lüften, als erstes ein gelber Band aus dem Jahr 1906 ein, Titel „Balladenchronik. Von Detlev v. Liliencron“, verlegt bei Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig 1906. Der Dichter hat es Dr. Kurt Piper zugeeignet, der sich als Lyriker und Literat, voller Name Kurt Eduard Georg Piper (23. Dezember 1875 – 3. August 1952) vor allem in der anthroposophischen Bewegung hervortat, Liliencron gab Pipers zweiten Gedichtband „Waffen und Wunden“ 1905 heraus. Ich erwarb das Buch für 5 Ostmark während meiner Studentenzeit in Berlin. Der Verlag macht hinten nicht nur Werbung für seine vierzehnbändige Ausgabe „Sämtliche Werke von Detlev von Liliencron“, er bewirbt auch die Einzelausgaben „Ausgewählte Gedichte“, „Gedichte“ und „Kriegsnovellen“. Schuster & Loeffler war jener Verlag, an den die Rechte gingen, als Liliencron endlich aus dem Vertrag entkam, der ihn an den Verleger Wilhelm Friedrich band (vollständiger Name Max Wilhelm Carl Friedrich, 5. November 1851 – 9. Oktober 1925). Einer, der über Wochen und Monate in seiner bis heute berühmten Zeitschrift „Die Fackel“ sowohl die 14 Bände als auch die Einzel-Sammlung „Ausgewählte Gedichte“ bewarb, war Karl Kraus. 21 mal auf Umschlagseite 3, zweimal auf Umschlagseite 4 die Gedichte, 16 mal die sämtlichen Werke. Nobel.

„Ich vermeide es hier, den Namen jenes Dichters zu nennen: die Plakate haben ihn verschwenderisch ausgenutzt, - und es war nicht schön, ihn dort zu lesen, wie es schmerzlich war, die unfähige Stimme des Dichters von der zweifelhaften Bühne her zu vernehmen.“ Der das schrieb, war Rainer Maria Rilke, er schrieb es am 27. Februar 1902, gedruckt wurde es am 1. März in „Bremer Tageblatt und General-Anzeiger“. Das Urteil stimmt mit einem ganz anderen überein, dem von Ernst von Wolzogen (23. April 1855 – 30. Juli 1934), der Chef und Gründer jenes „Überbrettl“ war, gegen das sich Rilke ziemlich unmissverständlich ausspricht, Namensnennung natürlich nicht vermeidend: „Liliencron gehörte übrigens auch zu den zahlreichen deutschen Dichtern, die geradezu Selbstmord begehen, wenn sie als Rezitatoren ihrer eigenen Werke vor die Menge treten. Als er durch mein Überbrettl volkstümlich geworden war, wurde er nicht nur von literarischen Gesellschaften, sondern auch von kaufmännischen und anderen Bildungsvereinen mit Einladungen überschüttet. Das Ergebnis war regelmäßig eine große Enttäuschung des Publikums, und es dürfte wohl kaum ein einziger Vereinsvorstand so tollkühn gewesen sein, Liliencron ein zweites Mal als Vortragskünstler auftreten zu lassen.“ Die Honorare hatte Liliencron bitter nötig.

Die 1968 von Wulf Kirsten herausgegebene Dokumentation „Die Akte Detlev von Liliencron“, Heft 13 im Rahmen der Reihe „Aus dem Archiv der Deutschen Schillerstiftung“, gibt Einblicke in ein deutsches Dichterleben, wie man sie gar nicht unbedingt haben möchte. Der am 3. Juni 1844 in Kiel geborene Mann, von Feuilletonisten gern als „Enkel einer Schweinehirtin“ bezeichnet, war Zeit seines Lebens nicht in der Lage, mit Geld so umzugehen, dass er sich nicht selbst in Nöte, ja schließlich sogar in große Not brachte, zwei Ehen gingen nicht zuletzt daran zu Grunde. Er beherrschte auf zweifelhafte Weise die große Kunst, Geld auszugeben, das er nicht besaß, er hätte später Politbüromitglied in einem real existierenden deutschen Arbeiter- und Bauern-Staat werden können. Die Schillerstiftung unterstützte bedürftige Dichter, auch deren Nachkommen, Erben, wenn es Not tat. Die Mittelbewilligung war ein dem deutschen Vereinswesen vollkommen adäquater Entscheidungsprozess, an dem zahlreiche Leute beteiligt waren, man kann das in Kirstens Broschüre im Detail nachlesen. Von denen, die darüber befanden, ob der verlotterte und Bettelbriefe schreibende Liliencron 400 Mark bekommen sollte, in Raten womöglich, sind heute fast alle so vollkommen vergessen, dass der vergessene Liliencron selbst dagegen bekannt wie der Papst wirkt.

Man kann im Anhang all diese vergessenen Namen nachlesen, sie waren Dichter, Dramatiker, sie standen einer der zahlreichen Zweigstiftungen vor und sie korrespondierten notgedrungen oder aus eigenem Antriebe mit den anderen Zweigstiftungsvorständen. Der bekannteste unter ihnen ist sicher der spätere Nobelpreisträger Paul Heyse, den Liliencron allerdings verdächtigte, ihn zu hassen, auch Felix Dahn, Urvater des „Professoren-Romans“ unseligen Andenkens, gehörte zu denen, die den Daumen hoben oder senkten. Man war skeptisch in den Reihen der Verantwortlichen der Schillerstiftung, aber man war am Ende nicht, eigentlich nie, wirklich hartleibig, wenn es um Detlev von Liliencron ging. Zum Ende seiner finanziell hochtraurigen Karriere bezog er sogar eine dauerhafte Pension, die die Ehrengabe des Kaisers hilfreich ergänzte (wohltuend wäre das falsche Wort; wie wohl tut denn einer halber Eimer frisches Wasser einem Fass ohne Boden??). Als anno 1904 der sechzigste Geburtstag von Liliencron zum öffentlichen Ereignis wurde (2000 Festgäste in Hamburg, man denke), fand sich selbst Thomas Mann bereit zu einer öffentlichen Gratulation. Gedruckt wurde sie kurioserweise nicht in der Nähe des Jubilars, sondern in Wien, und zwar am 29. Mai 1904 in der Sonntags-Beilage der Zeitung „Die Zeit“, lesenswert ist sie in mehrfacher Hinsicht.

Denn sie enthält nicht nur jenen Passus, den jeder neu herausgebende Verlag heute begeistert auf seinen Schutzumschlag drucken würde im Falle einer Hardcover-Ausgabe mit Umschlag: „Ich habe ein Stündchen im „Poggfred“ gelesen, diesem göttlichen Feuilleton von einem Epos, diesem leichtesten, glücklichsten, kecksten, freiherrlichsten Gebilde der modernen Literatur“. Sie endet auch mit einer seltsam militärischen Ehrenbezeigung: „Ich schlage die Hacken zusammen und sage mit scharfer und froher Stimme: „Gratuliere, Herr Hauptmann!““ Thomas Mann imaginiert etwas wie einen festlichen Vorbeimarsch, Detlev von Liliencron dabei auf Podest oder Tribüne und der Gratulant weiß, „dass ich vom Parademarsch immer Sehnenscheidenentzündung bekommen“. Was für herrliche Zeiten. Im real existierenden Sozialismus bekam man Sehnenscheidenentzündung in einem seiner beiden Arme, wenn man seine sechs Wochen SV-Urlaub komplettieren wollte. Und ganz nebenbei, typisch Thomas Mann in seiner Ironie, spricht er weit über den Anlass hinaus: „...ich verliere die Contenance dort, wo ich liebe und an der Erwiderung solchen Gefühles verzweifeln muss“. Es wäre verlockend, sich in die unerwiderten Gefühle zu vertiefen, die den Mann aus Lübeck im Gedanken an den Mann aus Kiel und in Hamburg von seinem Gegenstand ablenkten.

„Vielleicht, wenn der Naturalismus nicht gekommen wäre, wäre Liliencron überhaupt kein Schriftsteller geworden.“ So mutmaßte einst Emil Ermatinger in seiner „Geistesgeschichte in Lebensbildern“ in zwei Bänden, gedruckt mit dem Titel „Deutsche Dichter 1700 – 1900“ im Bonner Athenäum-Verlag. Der Naturalismus kam, streng genommen war er schon da, als Liliencron seinen ersten Gedichtband erscheinen ließ, Titel „Adjutantenritte und andere Gedichte“. In zwei Jahren, das wird regelmäßig erwähnt, also auch hier, verkaufte der Verlag 23 Exemplare. Rauschende Erfolge sehen anders aus. „Meine Bücher und Dramen bringen mir zur Zeit noch nichts ein, weil sie nicht gelesen, geschweige gekauft werden.“ So schrieb Liliencron am 28. April 1887. Am 26. Januar 1886 hatte er geschrieben: „Wie beneide ich jeden Armenhäusler! Er hat eine warme Suppe!“ Nach 40 Seiten Stiftungsakte lässt sich ein zwiespältiger Eindruck nicht verdrängen: Liliencron bestätigte mit deprimierender Kontinuität fast alle Vorurteile gegen sich, überzeugte aber mit seinem Werk ebenso kontinuierlich immer wieder die, die letztmalig geben wollten und dann doch wieder gaben. 105 Blätter umfasste der Briefwechsel am Ende, wie Wulf Kirsten mitteilt, der Dichter musste mangels Schreibpapier phasenweise auf Abfallstreifen eines Buchbinders schreiben.

Am 4. März 1890 teilte Liliencron seinen Gönnern mit: „Von 11 Büchern, die ich bisher geschrieben, habe ich für 8 kein Honorar erhalten.“ Um sich in einem zweiten Brief vom selben Tage dann doch etwas heftig zu überheben: „Ich habe als Schriftsteller im ganzen wohl mehr gelitten als Hebbel, Lindner, Kleist und Platen zusammen genommen.“ Das kam nicht gut an. Den epigonalen Dramatiker Albert Lindner (24. April 1831 – 4. Februar 1888) in einem Atemzug mit Kleist, Hebbel, selbst Platen noch, zu nennen, war geschmacklos, war Blasphemie. Schließlich verzieh man ihm aber auch das, schließlich bekam er immer wieder Geld und hatte nie Skrupel, erneut zu bitten, obwohl er beim letzten Male versichert hatte, es werde das letzte Mal sein und bleiben. Dorothea Oehme war es, die 1987, nachdem 234 Dichter und Dichterinnen vor ihm ein Heft bekommen hatten, das Poesiealbum 235 „Detlev von Liliencron“ im Verlag Neues Leben Berlin erscheinen ließ. Man muss ihr sicheres Gespür bescheinigen, denn von den Gedichten, die sie auswählte, sind in der so genannten Literatur fast alle eigens mit Titel erwähnt. Dass der „Blitzzug“ fehlt, der im Westen zeitweise sogar Schullektüre war, ist vielleicht gerade damit zu erklären. Mir will scheinen, ich hätte in meiner Schulzeit „Pidder Lüng“ im Unterricht gelesen.

Heinrich Detering, eingangs von mir mit Grund und Absicht etwas angepöbelt, hat in seinem erwähnten FAZ-Artikel natürlich diverse kluge Sätze, präzis formulierte Urteile zu Papier gebracht, die ich jederzeit zitieren würde. Dennoch ist es so, dass man Suppen mit zwei langen Haaren darin in die Küche zurückgehen lässt, statt sie tapfer unter Beiseitelegen der Haare am Tellerrand einfach auszulöffeln. Das zweite Haar ist die Behauptung, dass es Leser waren, die Liliencron vor dem Vergessen bewahrten, genannt werden als Leser dann Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Karl Kraus. Wir wissen, dass Liliencron sich über jedes Lob kindisch-kindlich freuen konnte und auch tatsächlich freute, dass er Lobende seinerseits lobte, vollkommen unabhängig davon, was diese ihm auf den Lesetisch gelegt hatten. Kritik war nicht sein Ding, weder gegen sich selbst, noch gegen andere. Auch muss man heute nicht mehr automatisch annehmen, dass einer, der am Beginn der Moderne in Deutschland gestanden hat, in Zeiten der Postmoderne und anderer Danachs alles Interesse verdient hat. Jedes einzelne Gedicht von ihm stellt sich auf den Prüfstand, jedes kleinere Stück Prosa, der „Poggfred“ natürlich ebenso, und wenn am Ende in drei bis sechs Dutzend Fällen der Probe-Leser sagt: „Ja was denn, das ist doch schön, das ist doch gut, das las ich mit Vergnügen“, dann soll es als Lohn gelten dem Vergessenen, mehr als der verbale Hackenschlag Thomas Manns.


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