Georg Seidel: Jochen Schanotta

Es lässt sich nicht schönreden: Die DDR im Jahr 1985 in einem Bühnenwerk ein mit Draht umwickeltes Land zu nennen, Draht, nicht einmal Stacheldraht, das war beim besten Willen keine aufmüpfige Ruhmestat mehr. Seit dem Mauerbau 1961 symbolisierten Mauer und Stacheldraht für einfachere Geister das System DDR und falsch war das ja nicht einmal. Es war halt nur nicht alles. Der Westen hätte es sich verbeten, auf Kasernen mit den Namen von Nazigeneralen und auf katholische Kinderschänder reduziert zu werden. Die Literatur auf Konsalik und Dwinger. Dem Osten gegenüber geht derartiger Unfug bis heute und wird nicht nur toleriert, sondern goutiert. Erst gestern füllte die F.A.Z. in wunderbarer Weise vier volle, tolle Seiten zu Marcel Reich-Ranicki. Auf die Idee, jemanden aus dem Osten über ihn schreiben zu lassen, sei es auch nur mit einem mittleren Einspalter zwischen zehn Deutungshoheitlern, kam niemand. Es kam ja auch niemand auf die Idee, sich länger um einen Dramatiker wie Georg Seidel zu kümmern, der zu früh starb, nämlich heute von 30 Jahren, um den Westen noch irgendwie aufmerksamkeitsökonomisch anzublinken. Nach 1992, liest man, kümmerte sich niemand mehr um ihn und wenn er noch an kleineren Häusern irgendwo gespielt wurde, war es Kritikern wichtig zu sagen: ein reines DDR-Stück sei es nicht.

Die Logik ist nachvollziehbar: Interesse an einem Mann, der als einer der bedeutendsten Dramatiker der DDR beschrieben wird, was fast nichts bedeutet, wenn man auch nur eine Sekunde über die Floskel nachdenkt, könnte als Interesse an der DDR missverstanden werden und das hält sich bis heute nachweislich konstant in Grenzen. Sonntagsredner helfen da kaum gegen die Statistik, wie viele Alt-Bundesbürger auch 30 Jahre nach dem so genannten Mauerfall nicht im Territorium der ehemaligen DDR unterwegs waren, nicht mal auf Transitwegen. Wirklich schlimm ist das nicht, aber man sollte dann halt mit eben den Sonntagsreden die deutschsprachige Menschheit verschonen. Ich will nicht wiederholen, was ich zu Georg Seidel bereits schrieb, verdiene mein Geld glücklicherweise nicht mit zeilenschindenden Selbstzitaten, verweise deshalb auf http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/1812-georg-seidel-kondensmilchpanorama. Eine Erfahrung Seidels mit der Rezeption seiner Stücke deutete ich damals bereits an: für den Draht im Land oder um das Land interessierte sich in der Schweiz kein Mensch. Dafür sahen alle Kritiker, die Ende 2011 über die Inszenierung von „Jochen Schanotta“ an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin schrieben, dass das alles ja keineswegs nur DDR sei, was da auf die Bühne kommt.

Richtig. Es ist, so seltsam es klingen mag, sogar weniger DDR in „Jochen Schanotta“ als die äußeren Umstände vermuten lassen. Typen wie diese Titelfigur geistern buchstäblich seit Georg Büchner über deutsche Bühnen. Bei Büchner heißt das Hauptwort Langeweile, man lese ihn nur leidlich genau. Später hieß das Weltschmerz, Weltekel. Der halbe Expressionismus präsentierte murriges Jungvolk, das alles besser wusste, obwohl es eher wenig wusste, das ständig und mehr oder minder aggressiv am Klugscheißen war. Der 18 Jahre alte Jochen Schanotta fliegt von der Schule, weil es ihm Spaß macht zu provozieren. Es ist fast das einzige, was er aktiv tut, ansonsten ist er passiv bis zur Nervigkeit, was auch seiner Freundin Klette eben auf die Nerven geht, so dass sie ihn rausschmeißt. Dieser Null-Bock-Schnösel macht sich zu keinem Zeitpunkt in keiner Situation auch nur die allergeringste Mühe zu fragen, ob das, was er sieht, das, was er bewertet, abwertet, eventuell auch anders gesehen, bewertet werden könnte, es muss ja nicht gleich positiv sein. Für mich ist dieser Jochen Schanotta die uninteressanteste Figur unter denen, die im Stück halbwegs Profil bekommen: Klette also, die Mutter, der Lehrer. Klette ist die eigentliche Figur des Stückes. An ihr zeigt sich für mich auch die ganze intellektuelle Überheblichkeit Schanottas.

Klette, die einfache Handarbeit verrichtet, erinnert mich an eine andere junge Frau aus der späten DDR-Literatur: Felizitas Händschel in „Das Vergnügen“ von Angela Krauß. Das Buch erschien 1984, vielleicht hat es Georg Seidel sogar noch zur Kenntnis genommen, ehe er mit „Jochen Schanotta“ fertig wurde. Wenn nicht, wäre es ein schöner Zufall. Nur Intellektuelle, und zwar vor allem solche, die selbst nie Handarbeit, geschweige stupide Tätigkeiten am Band verrichteten, sind vollkommen sicher, dass „man“ das nicht machen kann. Entsprechend belöffelt, um halbwegs nahe an einer Jugendsprache zu bleiben, dieser Jochen diese Klette permanent ihrer Arbeit wegen. Auch anderen gegenüber äußert er sich über sie und ihre Arbeit so, dass man unter Westbedingungen den Diskriminierungsbeauftragten anrufen könnte. Da er nur auf sich starrt, larmoyant bis zur Unerträglichkeit, geht ihm natürlich auch jedes Vermögen ab, sich in andere hineinzuversetzen. Dass Klette ihn aus ihrer Bude weist, ist vollkommen logisch. Der größere Witz an allem ist aber doch der, dass das Wort von der Null-Bock-Generation ja ein Import ist. Weil es so ist, erkannten Westkritiker natürlich sofort ihre eigene Null-Bock-Generation der 80er Jahre wieder. Und es stellt sich sofort die Frage: Wie viel ist dann eigentlich Schuld der DDR, wenns im Westen ähnlich ist.

Dass die DDR ein Importland war, das kein Geld hatte, um einzukaufen, weiß jeder, der in diesem kleinen Land aufwuchs und lebte. Jede, aber auch wirklich jede Mode des Westens war so unfassbar schnell auch diesseits des „Eisernen Vorhangs“, als der noch eher eine dünne Gardine war, präsent, dass den Oberen in Partei und Staat Angst und Bange werden musste. Was halfen Faseleien des Staatsratsvorsitzenden von „yeah-yeah-yeah“, es kam, war da und ging wieder. Noch die Mode aus den Westkatalogen kam zügig in die ärmlichen Versandhauskatloge der DDR (aus Leipzig), die Frisuren glichen sich, die gleichen dämlichen Filme mit Musik gab es im Osten wie im Westen, nur war halt im Westen auch Avantgarde erlaubt, um intellektuellen Kleingruppen Glaubensinhalte zu liefern. Es gab deshalb völlig folgerichtig in der hinsinkenden DDR Punk, es gab Gruftis, Null-Bock eben, nur ohne dieses Etikett. Chefideologen hätten in diesen Fällen nicht einmal vollkommen unrecht, wenn sie von Exporten des „Klassenfeindes“ gefaselt hätten. Nur einen schweren Nachteil hatte die DDR, der Zugang zu den wirklich schönen tödlichen Drogen kam erst, als sie gegangen war. Die DDR-Jugend musste sich am Alkohol festhalten, aber die dynamische Gruppenbildung lief völlig systemunabhängig wie überall nach musikalischen Vorlieben und Nachlieben.

Zwei der 17 Szenen zeigen Musterungen für den Armeedienst auf der Bühne. Ein Kritiker, der sich vermutlich zeitig für westlichen Zivildienst gemeldet hatte, fand das lustig. Ich fand es harmloser als meine beiden Musterungen für die NVA 1970 und 1971. In „Jochen Schanotta“ muss niemand seine Vorhaut zurückziehen, um zu zeigen, dass er keine Phimose hat. Auch Arschlochblicke schildert Georg Seidel nicht. Es war natürlich immer die Frage, wer diensthabender Musterungsarzt war. Man wusste, wen man zivil nie konsultieren würde im Krankheitsfall. Zwei Szenen bringen Monologe der Titelfigur. Der erste besteht aus lauter einzelnen Wörtern, eine ganze Kaskade muss der Darsteller aufsagen. Man könnte meinen, hier wäre eine Hommage an August Stramm oder DADA eingeschoben. Die zweite ähnliche Szene erlaubt ganze Sätze oder jedenfalls syntaktisch vollständige Gebilde und wieder hört es sich an wie eine Reminiszenz. Ich zitiere nur dies. „Wir reißen die Särge aus dem Fluss, und in Gulaschkanonen wird Farbstoff gekocht.“ Das Stück endet mit Worten der Mutter: „Er hat sein Ei nicht aufgegessen. Er hat seinen Kaffee nicht ausgetrunken. Er hat kein Brot gegessen. Hat er überhaupt auf diesem Stuhl gesessen? Gehen Sie, gehen Sie.“ Ich erinnere mich sehr gut meiner weinenden Mutter am Bus am 1. November 1971: Gestellung.

Georg Seidel hatte in seinem kurzen Leben noch Zeit genug, auf „Jochen Schanotta“ zurück zu blicken. Einem Menschen mit dem wirklich dämlichen Pseudonym Benny Profane sagte er in einem Interview im November 1989: „Ich glaube, wenn ich heute „Schanotta“ schreiben würde, in Kenntnis einer anderen Sachlage, würde ich die Figur des Schanotta nicht mehr aus dieser Resignation heraus agieren lassen, sondern aus einer großen Hoffnung, einer Art Ausbruch aus der Lebenslust heraus. Schanotta wäre nicht mehr eine von vornherein beschädigte Figur.“ Was sie also ist, heißt das ja. Die Bühnenfigur spielt so deutlich mit Selbstmordgedanken, dass es einerseits Klette merkt und sie zu einem klaren Bekenntnis zum Leben und seiner Schönheit bringt, andererseits aber auch jeden Schlaumeier im Parkett wissen lässt: der bringt sich nicht um. Wer drüber redet, hat, was er braucht. Ich weiß nicht genau, wann Georg Seidel wusste, dass er todkrank war. Aber es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, dass einer es wegsteckt und „positiv denkt“, wie das im Westen genannt und als eine Art autotherapeutischer Wunderdroge gehandelt wurde. Seidel selbst hätte ja fast der Vater eines Knaben wie Schanotta sein können, wenn er, wie in DDR-Zeiten ja keineswegs selten, zeitig genug Vater geworden wäre. Solche Söhne erschrecken Väter.

Jochen Schanotta ist, neben vielem, auch ein guter Schachspieler, einer, der immer gewinnt, wie der Lehrer Körner sagt. Was aber sagt der Spieler selbst: „Warum spielen wir Schach? Weil wir brav sind, weil wir uns an die Regeln halten. So müsste mans spielen: Benzin drüber und anzünden! Dann hast du das ganze Schlachtfeld.“ Derartig infantile Gewaltphantasien sind im Westen dann schon mal aus der Phase der Puddingpulver-Attentate in reales Verbrechertum gerutscht. Spiele ohne Regeln sind keine, weil die Teilnehmer nicht wissen, was sie spielen sollen. Ein verbranntes Spielfeld ist keins mehr und die, denen der kreative Protest gilt, müssen mindestens auf ein Bekennerschreiben warten, weil sie den Blödsinn sonst gar nicht verstehen würden. Vielleicht aber hat ein solches Null-Bock-Büblein einfach nur zu viel Aktionskunst im Fernsehen gesehen, manch einer schaffte es mit einem Schnitt in die eigene Stirn und dem tropfenden Blut auf das Manuskript bis zu halbwegs anhaltender Berühmtheit. Georg Seidel aber war nicht nur kein literarischer Gruppenmensch, er war auch bis zu seinem Tod am 3. Juni 1990 bekennender Katholik. Bekennender Katholik und Wehrdienstverweigerer, Bausoldat, mehr ging nicht an freier Eigenschädigung in der DDR. Im Westen wurden DKP-Leute nicht Lokführer: keine Symmetrie.

Georg Seidel lässt seinen Jochen von Hamlet und Kleopatra reden, über den Fortschritt räsonieren, man merkt: Er will viel loswerden, nur taugt der Bube nicht als Gefäß. Was soll das: „Wozu soll eigentlich noch was passieren, ist doch schon genug passiert auf der Welt“? Schanotta ist kurz auch ein Schillerjüngling: „Ich frage mich, was habe ich bis jetzt gemacht, außer was ich jeden Tag mache“. Man muss nicht unruhig werden, wenn man mit 18 noch kein Fahrrad erfunden hat, keine Schlacht bei Königgrätz gewann oder Troja ausgrub. Die Schiller-Knaben, die ihr Jahrhundert in die Schranken fordern, sind ja auch durch die Bank ein wenig größenwahnsinnig, was nicht immer nur gegen sie spricht, aber oft schon. Las ich irgendwo, Seidel habe einzig Spiegelberg aus den „Räubern“ herausgehoben? Ich muss bei Spiegelberg, tut mir leid, immer an Piscator und seinen Trotzki-Spiegelberg denken. Seidel ein verborgener Trotzkist? Wäre letztlich ja auch keine strafbare Handlung gewesen, wenngleich in der DDR natürlich schon ein bisschen. Der Westen hat noch jede Jugendbewegung in vermarktbare Phänomene verwandelt. Es funktioniert nicht, wenn man Platten produziert und dann böse ist, wenn sie von mehr als zwei Menschen gekauft werden, weil das dann schon kommerziell wäre. Das ist einfach nur dummes Zeug. Was Wiederholungen nicht ausschließt.

Der Journalist Jürgen Serke hat ein schweres und großformatiges Buch produziert mit dem Titel „Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR“. Folgt man Serke, dann waren das genau 15 Dichter, die eigenmächtig blieben. Wie blieb der Rest? Einer der Eigenmächtigen ist übrigens Eckhard Ulrich, der mit dem einen „l“. Nach dem ich tatsächlich immer mal wieder gefragt werde, als ob Namensgleichheit irgendwelche Spezialkenntnisse einschließt. Georg Seidel hat ein solides Kapitel abbekommen und wenn Serke nicht einen fatalen Hang gehabt hätte, eigene Denkprodukte in dunkle Sätze zu gießen, wäre es ein reinen Herzens empfehlenswertes Kapitel. Auch der Bilder wegen. Man sieht Seidel und Frau Seidel, man sieht die Eltern Seidel, erfährt von der oberschlesischen Herkunft und einem katholischen Viertel im evangelischen Dessau. Das Theater kenne ich von innen, sah einen ziemlich guten „Faust I“ dort. Georg Seidel war dort Bühnenarbeiter. Als Bausoldat baute er in Groß Köris bei Königswusterhausen, ich durfte dort den Reservisten spielen nach meinem zweiten Studienjahr 1977. Frau Seidel verriet Serke, dass beide nach dem Westen gegangen wären mit Hilfe eines Schleusers, wäre sie nicht schwanger geworden. Ich habe nie im Leben einen Schleuser kennen gelernt und hatte eine Riesenfamilie im Westen.

Bisweilen schrieb Jürgen Serke reinen Blödsinn: „Wieder gibt Seidel den Verstümmelten seine Stimme, deckt er die Todesarten im System des Todes auf.“ Von welchem System des Todes faselt er? Serke zitiert Seidel zu Goethe und es ist großer und grober Unfug, was Seidel da von sich gab, mit Verlaub, freundlicher lässt es sich nicht formulieren. Die auch schon etwas abgenutzte Mode, die DDR und ihr System zu meinen und auf Goethe zu dreschen, war nie originell, klug auch eher selten, peinlich nur für die, die der Mode folgten, ohne sie als solche zu erkennen. Wenn Seidel fragte: „Kann man dem Stück „Iphigenie“ nach Auschwitz noch glauben?“, dann ist das nicht sehr viel mehr als unverdauter Adorno, der praxisfern der albernen Meinung war, man könne nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben, was kein Dichter je glaubte oder gar befolgte. Seidel putzte auch gleich noch alles von Ibsen bis Beckett und Hacks und Heiner Müller mit weg. Laut Serkes Einblicken in das Tagebuch. Toll muss man das nicht finden, man sollte es auch nicht aus Rücksichtnahme verschweigen. Schließlich glaubte selbst Goethe, Shakespeare wäre nichts fürs Theater. Serke schreibt denunziatorisch: „Die Peymann, Zadek und Flimm griffen nicht zu. Ab 1992 verebbte das Interesse am Dramatiker Georg Seidel.“ An Peymann, Zadek und Flimm lag das nicht.


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