17. Juni 1953

Vor allem denke ich an diesem Tag, wenn ich an diesen Tag denke, an Stefan Heym. Die unendliche Enttäuschung, die mir sein ach so verbotenes, sein ach so dissidentisches Buch bereitet hat, das mal „Der Tag X“, mal „Fünf Tage im Juni“ hieß. Unter letzterem Titel las ich es, Schmuggelware aus dem Westen, der damals noch einfach „der Westen“ war. Am 28. Juli 1979 trug ich es als 59. gelesenes Buch des Jahres in mein großes Leseregister ein, es war die Ausgabe als Fischer-Taschenbuch Nummer 1813, 1977 erschienen.

Nicht weniger als zweiundzwanzigeinhalb Seiten handschriftlich umfassen meine damaligen Notizen, ich zitiere die ersten Zeilen: „Die Genre-Bezeichnung „Roman“ muß nicht Auskunft geben über die zu erwartende Qualität. Hier aber weiß man am Ende: dies ist ein Roman im miesesten Sinne des Wortes: Kolportage a la Simmel. Aber Simmel ist cleverer. Heym hat sich eine Fabel gebaut, um den 17. Juni 1953 darzustellen. Der Handlungsablauf wird durch eine Reihe von „Stundenprotokollen“ realisiert, wobei stilistisch überwiegend nicht protokollarisch verfahren wird. Versucht es Heym doch, ergibt sich öfters ungewollte Komik. Das Figurenensemble ist so um den „positiven Helden“ gruppiert und charakterisiert, daß eine gewisse Totalität sichtbar wird. Heym typisiert kräftig, hält sich dabei an Uraltmuster des sozial. Realismus und doch wirkt alles zusammen wie eine mißlungene Persiflage.“

Das steht so mit schwarzem Kugelschreiber auf kleinkariertes Arbeitsblockpapier geschrieben, wie ich es als Student am Ende des vierten Studienjahres eben schrieb. Nur vage erinnere ich mich an Streitgespräche, in denen Freunde versuchten, mir meine ablehnende Meinung zu diesem Werk auszureden. Ich hatte pfundweise literaturtheoretische und ästhetische Schriften des stalinistischen Marxismus der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre gelesen, weil ich das für meine Diplomarbeit brauchte, die dem ganz jungen Günter Kunert gelten sollte. Und mir war nie ein derart mustergültig auf die schematisch-formalen Forderungen der damaligen Lesart des sozialistischen Realismus eingehendes Buch untergekommen wie dieser Heym.

Und immer, wenn ich später, solange es die DDR noch gab, grinsende Verrisse der literarischen Qualität Heymscher Bücher aus Funktionärsmunde hörte oder las, seltener las natürlich, war ich in der bekannten Zwickmühle. Ich fühlte mich gedrängt, etwas gut zu finden, was nicht gut war. Bis heute habe ich diesen befreienden Schritt bei der Sicht auf die alte DDR nicht vollziehen können. Ich kann immer noch miserable Gedichte nicht allein deshalb toll finden, weil sie ein Stasi-Opfer geschrieben hat. Gute Freunde bedauern mich deshalb. Aber zehn neuere Seiten Erich Loest sind für mich eine Strafexpedition, tut mir leid, alter Erich. Und der Satz: Aber er ist ein wichtiger Mann gewesen, tröstet mich nicht. Wichtige Männer sind noch lange keine guten Dichter.

Dass im Westen etwas einen Feiertag lieferte bis zum 3. Oktober 1990, woran der Westen nun wirklich wenig Anteil hatte, es sei denn den Anteil, den eben auch Stefan Heym nie ein für allemal in Abrede stellte, den von der Propaganda hier behaupteten nämlich, hat mich immer irritiert. Noch deutlicher gesagt: Wenn die üblichen Schwafelköpfe die üblichen Sonntagsreden redeten an diesem Sonntag außer der Reihe, habe ich es immer für Show-Geschäft gehalten, politisches Show-Geschäft eben. Wären die wirklichen Entscheider der Jahre 1989/1990 wirklich so auf Deutsche Einheit eingestellt gewesen, wie sie immer, vor allem rückblickend, behaupten, dann wären der handwerkliche und auch der höhere Pfusch beim Zusammenpropfen dessen, was zusammen gehörte, wohl weitgehend unterblieben.

Am 17. Juni 1953 tat ich übrigens, was ich schon am 16. und am 15. Juni getan hatte und auch danach noch ein Weilchen wiederholte: ich schiss in meine Windeln.


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