William Faulkner oder: Wen der Schluckauf plagt
Es ist Ratliff, der die Geschichte erzählt und ehe dann nach vier Seiten endlich die Erzählung kommt, die Ratliff vorträgt, gibt es noch diese und jene Information und diejenigen, die diese Informationen hören und derjenige unter denjenigen, der sie weitergibt, die bleiben anonym. Man kann schon missmutig werden bei dieser Art des Erzählens. Dann aber wird es komisch. Ratliff, der ein Nähmaschinenvertreter ist und als solcher herumkommt, bezieht Prügel. Der ihn verprügelt, heißt Lucius Provine und war früher Mitglied der berüchtigten Provine-Bande. Jetzt aber leidet er unter Schluckauf, Stunde um Stunde, Tag und Nacht. Weil der Indianer John Basket ihm vielleicht helfen kann, nachdem er selbst alles versucht hat, alle guten und alle dämlichen Vorschläge ohne Erfolg getestet, geht Provine zum Indianer-Hügel. Dort erwartet ihn ein Marterpfahl, dort schichten die Rothäute einen Scheiterhaufen auf, ihn zu braten.
Die Geschichte, von der die Rede ist, heißt „Eine Bärenjagd“, geschrieben hat sie William Faulkner, der 1950 den Nobelpreis für Literatur erhielt, und es kommt alles in dieser Geschichte vor bis auf Bären. Auch Jagd spielt eigentlich kaum eine Rolle. Dafür ist diese Geschichte eine Geschichte von Rache, von später, von durchtriebener Rache, die ein wegen seiner Hauptfarbe allen Launen seiner weißen Mitmenschen ausgesetzter Mann in Zeiten des noch fast ungebremsten Rassismus im Süden der Vereinigten Staaten übt. Denn einst hat dieser Lucius Provine nicht nur den wunderschönen bebilderten Zelluloidkragen dieses schwarzen jungen Mannes verbrannt, auch andere Kragen, nur so aus Spaß und allein ein solcher Kragen kostete einen halben Wochenlohn.
Man kann an diese Schilderung einer der zahlreichen Erzählungen Faulkners schon fast alle Betrachtungen knüpfen, die zum Werk des Mannes denkbar wären, denn der Nähmaschinenvertreter Ratliff taucht an etlichen Stellen im Gesamtwerk auf, das wie wenige andere in der modernen Weltliteratur in einem sehr wörtlichen Sinne Gesamtwerk ist, nämlich verflochten, verwoben, zurückdeutend, vorausweisend, aufgreifend-erläuternd und immer wieder überraschend oder auch irritierend. Man hat rasch das Wort Kosmos bei der Hand, Universum, Faulkner-Welt klingt nur mäßig bescheidener. Das für mich in diesem einen Moment Entdeckerfreuden auslösende Lesefrüchtchen aber ist profan. Lucius Provine, der böse und nun resignierte Bandit, der sein trauriges Dasein mit rassistischen Sauereien aufheiterte, leidet. Er leidet an Schluckauf. Und weil ich aus guter Quelle weiß, dass auch William Faulkner ein Alkoholiker war, wie er im Buche steht, greife ich zum besten diesbezüglichen Buche, das ich kenne.
Geschrieben hat es Donald W. Goodwin und über Faulkner heißt es unter anderem: „Wenn William Faulkner kein Alkoholiker war, dann müßte man auf den Begriff Alkoholismus wohl ein für allemal verzichten.“ Nicht wenige Autoren, die über Faulkner schrieben, auch solche, die sehr ausführlich schrieben, klammerten den Alkoholismus ihres Mannes so radikal aus, dass es schon fast peinlich wirkt, wenn sie Phänomene zu erklären suchen, die mit dem Alkoholismus sehr leicht, ohne ihn fast gar nicht zu erklären sind in Leben und Werk William Faulkners. Goodwins wunderbare Beobachtungen, seine immer wieder frappierenden Aussagen über die von ihm betrachteten saufenden Autoren, allein vier amerikanische Nobelpreisträger darunter, wären ein verlockendes eigenes Thema. Höchstlob für Faulkner darunter: „Kein anderer ernsthafter amerikanischer Autor kann es in der alten Kunst, das Ohr eines Passanten in den Bann zu ziehen, mit Faulkner aufnehmen.“ Goodwin nennt das Extrembegabung als Geschichtenerzähler. Und dann kommt es: „Das Symptom, das er offensichtlich am meisten verabscheute, war der Schluckauf, der ihn nach dem Ausnüchtern manchmal tagelang plagte.“
Jetzt erst, jetzt erhält die „Bärenjagd“ plötzlich einen ganz und gar irrwitzigen, einen grotesken Sinn: Denn Lucius Provine, der leicht in die Jahre gekommene Ganove, ist ja bereit, alles zu tun, um seinen Schluckauf loszuwerden, sogar indianischen Hilfsmitteln mag er sich aussetzen, nicht ahnend freilich, dass der alte Neger Ash, der mit dem Zelluloidkragen, auf den Tag seiner Rache wartet. Ihm verdanken die Indianer den Tipp, die inszenierte Szene mit dem Scheiterhaufen enthüllt sich dem vermeintlich Todgeweihten selbstredend nicht, der fliehen kann, weil er fliehen soll und nicht, weil er sich besonders pfiffig anstellt. Und allen Frust muss ausgerechnet Ratliff ausbaden. Ohne den aber würde niemand von der wunderbaren Geschichte erfahren. Wie eben der ganze Faulkner-Kosmos sehr viel von Ratliff hat. Fast überflüssig zu erwähnen, das die krude Schocktherapie den Schluckauf tatsächlich vertreibt.
William Faulkner, dessen 50. Todestag heute zu begehen ist, gehörte in der DDR seltamerweise nicht zu Geächteten der spätbürgerlichen Moderne. Im Gegenteil, im Lauf der Jahre erschienen mindestens 17 separate Titel (das ist die Zahl, die ich besitze) und der Blick auf die drei Bände der so genannten Snopes-Trilogie, deren Schutzumschläge auf für mein damaliges Fassungsvermögen wundersame Art völlig ausbleichten, bis man weder Titel noch Verfasser, einst blau und rot, erkennen konnte, gehört zu meinen Kindheitserinnerungen der unauslöschlichen Sorte. Die Schutzumschläge mit Klemke-Gestaltung machten die Buchreihe zur Werkausgabe, ohne dass sie je so deklariert wurde. Vielleicht relativiert ja das Dasein Faulkners in der DDR ganz und gar die Abwesenheit anderer, weil aus allem einfach kein gemeinsamer Begriff, kein gemeinsames Bild zu gewinnen ist, jedenfalls nicht in der brachialen Art heutiger Deutungshoheitler.
Hans Petersen, der vor annähernd fünfzig Jahren einige DDR-Ausgaben mit Nachworten versah, ließ freilich kaum Zweifel: „Denn der Inhalt seiner Romane bedingt ihre spezifische, historisch gewachsene Form, die für unsere Literatur heute nicht beispielgebend sein kann.“ Das Nachwort zu „Die Legende“, aus dem das zitiert ist, führt auch einen Faulkner-Satz an, den intime Kenner der DDR-Literatur für einen Satz von Christa Wolf halten mögen: „Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ Bei Christa Wolf, es ist der Beginn von „Kindheitsmuster“, liest sich das so: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Man könnte eine junge Master-Aspirantin auf das Thema „Das Beispielgebende an William Faulker, dargestellt an Christa Wolfs Bild des faschistischen Alltags“ in Auftrag geben und das Ergebnis auf Petersens Grab legen.
Dass Rezeptionsgeschichte immer auch Zeitgeschichte ist, erhellt am Beispiel Petersens wie auch an beliebigen anderen Beispielen. Und überrascht, das ausdrücklich angemerkt, natürlich nicht. Wenn Petersen festhält, dass in der Trilogie auch eine Kommunistin gestaltet ist, freilich vom bürgerlich-humanistischen Standpunkt aus, dessen Schatten bekanntlich immer einer ist, über den diese späten Bürger nicht springen können (als wäre dergleichen sonst eigentlich eine leichte Übung), dann ist das kaum weniger belustigt hinnehmbar als etwa Günter Blöckers Versuch, die Realität aus Faulkners Büchern zu vertreiben, respektive sie für irrelevant zu erklären, weil angeblich ganz andere Dinge wichtig sind. Blöcker, dessen 100.Geburtstag im kommenden Jahr zu begehen sein wird, diktierte der literarischen Moderne immerhin in den Block. „Je mehr ein Dichter seinen Geschöpfen (und seinen Lesern!) zumutet, desto positiver ist seine Einstellung zu ihnen.“ Dies aus Faulkner destilliert zu haben, soll immerhin erwähnt worden sein. Nach dieser Definition wird man bald Matthias Sammer bei Bayern München zum wahren Dichter ernennen müssen, denn der will seinen Geschöpfen und deren Fans mehr zumuten, als an der Isar je üblich.
Lesen sollte man über Faulkner auf alle Fälle Siegfried Lenz, den man ohnehin immer lesen sollte, wenn man etwas Zeit hat und diese nicht mit Lektüreschrott vergeuden möchte. Lesen darf man über Faulkner Jean-Paul Sartre. Der wie Camus zu Faulkners europäischem Ruhm schon beitrug, als dieser in Amerika selbst noch eher dümpelte. Sartre schreibt freilich kaum über Faulkner, wenn er über Faulkner schreibt, weil er Philosophie entfalten muss und von Existenz reden, was letztlich ins eins fällt. Camus erläutert vor allem, wie er aus einem Roman ein Drama gemacht hat. Der Italiener Cesare Pavese neigte dazu, Faulkner für einen schlechteren Sherwood Anderson zu halten. Der unsterbliche Seitenwechsler Joachim Seyppel, der nicht einmal zu sagen wusste, ob er vier oder fünf Jahre in der Nähe Faulkners wohnte (also was man so Nähe nennt zwischen Frankfurt an der Oder und Frankfurt am Main, um die Dimension zu verstehen), blamierte sich selbst mit der Überlegung, ob man Faulkners Werk nicht ablehnen müsse, „weil es womöglich einer bereits untergegangenen Welt angehört“. Solche Typen kamen einst aus dem Westen in die DDR, um diese dann wieder aus Protest zu verlassen, bis zur Rückkehr in die späten Schöße des gedruckten Post-Sozialismus des Hauses „Neues Deutschland“.
Schließen wir mit Emily. Emily gehört auch zu den Geschöpfen Faulkners, die sich rächen. Was Lesern, wen überrascht das bei der üblichen Erzähltechnik des im wirklichen Leben am liebsten schweigenden Faulkner, erst als Pointe, und zwar als immer noch versteckte Pointe, nahe gebracht wird. Man findet in Emilys Haus, das der alte Diener eilenden Fußes verlässt, nachdem er den neugierigen Trauergästen die Vordertür geöffnet hat, in einem der oberen Zimmer eine verweste Leiche. Man findet im Kopfkissen neben der verwesten Leiche einen Kopfabdruck und ein graues Haar. Das graue Haar sieht aus wie Emilys Haar und vermutlich wird man, falls man danach sucht, was Faulkner nicht interessiert, in den Überresten des toten Mannes Gift finden, welches Emily einst beim Apotheker sehr energisch einforderte und kaufte. Emily brauchte in ihrer Stadt keine Steuern zu zahlen, weil Oberst Sartorius dies so wollte als Bürgermeister. Von Oberst Sartorius führt ein direkter Pfad in fast alle Faulkner-Bücher. Von Faulkners eigener Biographie zu schweigen.