Die kluge Rache Lope's
Der Dichter Rafael Alberti (1902 bis 1999) hat in seinen Erinnerungen eine merkwürdige Szene überliefert: „Ich will unter anderem das Autodafé nennen, bei dem einige Werke der erlauchtesten Góngora-Gegner in Vergangenheit und Gegenwart zum Scheiterhaufen verdammt wurden, und zwar handelte es sich um Lope de Vega, Quevedo, Luzán, Hermosilla, Moratin, Campoamor. Cejador, Hurtado y Palencia, Valle-Inclán etc.“ Die jungen Leute, die später als „Generation 27“ etikettiert wurden, taten, was junge Leute, die auffallen wollen, besonders gern tun, sie provozierten. Ihre selbst gewählte solidarische Vorliebe für Luis de Góngora (1561 bis 1627) verbanden sie mit demonstrativer Aggression gegen Góngora-Gegner: sie inszenierten eine Bücherverbrennung. Was im Mai 1927 vielleicht eben noch als eine seltsame Anknüpfung an unselige Traditionen der katholischen Kirche und ihrer Inquisition gelten konnte, ist sechs Jahre später wieder in einem Mai in Deutschland zum immer währenden Symbol exzessiver Kulturbarbarei geworden.
Es würde weitab führen, darüber zu reflektieren, dass es offenbar nicht erst rassistischer Theorien und faschistischer Politikziele bedurfte, um Bücher brennen zu lassen. Alberti, der nach 1977 im demokratisch gewordenen Spanien für die kommunistische Partei im Parlament saß, erzählt seine Jugendsünde freiweg und ohne schlechtes Gewissen. Sie ist hier nur deshalb dem Vergessenwerden enthoben, weil eben der Name Lope de Vega als erster genannt wird. Als er lebte, Zeitgenosse Góngoras, war die Inquisition in Spanien und im spanischen Weltreich lebendiger Alltag, der Übergang von brennenden Büchern zu brennenden Menschen nahtlos, den viel später Heinrich Heine so prägnant beschrieb. Um Lope soll es hier gehen, dessen voller Name Lope Felix de Vega Carpio war. Dem die Literaturgeschichte den Geburtstag am 25. November 1562 zugeordnet hat, weil seine Taufe am 6. Dezember verbürgt ist und der Tag des Namenspatrons eben jener Novembertag ist. Letztendlich hat es kaum wirkliche Bedeutung, wenn man nur in Betracht zieht, wie viel sonst sehr genau bekannt ist aus diesem Dichterleben verglichen beispielsweise mit dem des zwei Jahre jüngeren Zeitgenossen William Shakespeare.
Mir ist, warum soll ich ein Geheimnis daraus machen, die Lust auf intensivere Beschäftigung mit Lope erst gekommen, als ich mich entschlossen hatte, die diesjährige Sommertheater-Inszenierung des Theaters Rudolstadt zu besuchen. Wie ich „Tumult im Narrenhaus“ erlebte, ist in THEATERGÄNGE nachzulesen, die allgemeineren Sätze zum Autor Lope daraus könnte ich hier einfach wiederholen, was ich natürlich nicht tue. Ich habe mir die Freude gegönnt, zur Biografie von Fritz Rudolf Fries zu greifen, die lesbar ist und keiner ideologischen Entschlackung bedarf, nur weil sie aus DDR-Boden erwuchs, sie ist 1979 ja auch im Westen des Landes erschienen. Und ich habe mir die Freude gegönnt, „Die kluge Rache“ zu lesen, um dreist einen Teil fürs Ganze nehmen zu können, wie es die meisten tun, die wenigsten aber einräumen. Allein das ist schon ein Erlebnis. Es erzeugt schon jenes Staunen und Erstaunen, das angesichts des Phänomens Lope offenbar nicht zu vermeiden ist. Manches Geheimnis ist keines. So hat Franz Grillparzer, der sich intensiv wie keiner unter den Großen deutscher Zunge mit Lope befasste, die gern thematisierte Frage, wieviele Stücke der Spanier denn nun wirklkich schrieb, mit dem einfachen Satz beantwortet: „Das Wahre ist wohl, daß er ihre Zahl selber nicht wußte.“
Selbst wenn er nur die mehr als vierhundert überlieferten Stücke geschrieben hätte, wäre das eine Wahnsinnszahl, da er ja außerdem auch noch Prosa schrieb, Gedichte, Versepen. Vor allem aber lebte er, was angesichts der Produktivität kaum vorstellbar erscheint. Er lebte, liebte, war in Händel der Zeit verwickelt, nahm Dienste an, die ihn anders forderten als heute das Amt eines Stadtschreibers. Er bekam acht Jahre Madrid-Verbannung auferlegt, weil er Verleumderisches in Umlauf gebracht hatte. Heute müssten seine Bücher wohl großenteils geschwärzt verbreitet werden oder wären a la Maxim Biller verboten, weil sich irgendwer erkannt hätte in ihnen. Zu den kuriosen Tätigkeiten seines Lebenslaufes gehörte das Verfassen von Liebesbriefen für einen seiner Dienstherren, er tat das lebenslang. Die Frage, wann er schlief, klingt zu profan, um sie ernsthaft zu stellen. Der Schiller-Freund in mir ist auf eine fast kindische Weise angesprochen, wenn ich lese, dass dieser Lope den tatsächlichen Medina Sidonia kannte, der in heutigen Inszenierungen des „Don Carlos“ fast immer gestrichen wird, er kannte auch die Eboli und den Alba. Er schrieb als Zeitgenosse nach der Hinrichtung von Maria Stuart ein Werk über sie und gehörte mit Selbstverständlichkeit natürlich nicht zu den Bewunderern der Elisabeth wie Zeitgenosse Shakespeare, dem sie ewige Anregerin für starke und überlegene Frauenfiguren war und blieb.
In der Novelle „Das Unglück der Ehre wegen“ formuliert Lope an die Adressatin Marcia Leonarda: „Überdies habe ich gedacht, daß die Novellen nach den denselben Vorschriften verfaßt werden wie die Theaterstücke, deren Zweck es ist, dem Autor Befriedigung und dem Publikum Vergnügen zu bereiten, auch wenn die Kunst dabei umgebracht wird.“ Wenn wir, nur als Arbeitshypothese, der Notiz Grillparzers aus dem Jahre 1827 folgen, dann haben wir es hier mit einer geradezu sensationellen Aussage zu tun. Bei Grillparzer steht: „Calderon, der Schiller der spanischen Literatur, Lope de Vega ihr Goethe.“ Dem Publikum Vergnügen bereiten, auch wenn die Kunst dabei umgebracht wird? Das schluckt in Deutschland niemand, ohne Schaden an der literarischen Speiseröhre zu nehmen. Schon gar nicht, wenn es Goethe gesagt hätte. Lope aber meinte es mit Sicherheit genau so. Man war damals noch nicht auf der Suche nach dem künstlerischen Alleinstellungsmerkmal um jeden Preis, man bediente sich hemmungslos bei anderen, schrieb gar komplette Passagen ab, worüber heute ganze Feuilletonredaktionen kollabieren würden. Und zwar eben nicht, um den Fans der Intertextualität Suchfutter zu geben, sondern weil es auf der Hand lag.
„Die kluge Rache“ ist ein Fall von Irreführung. Der gehörnte Ehemann Marcelo rächt sich freilich mörderisch und blutig und fast wie ein Amokläufer. Doch sein Schöpfer Lope gibt dem den Titel wohl nur, um den Widerspruch seiner Adressatin und der Leser herauszulocken. Am Ende zieht er das Resümee: „Dies war die kluge Rache, wenn überhaupt eine Rache diese Bezeichnung verdient, und sie ward, wie schon gesagt, nicht den Beleidigten zum Beispiel aufgeschrieben, sondern zur Warnung aller, die beleidigen, und auf daß man sehe, wie berechtigt der Ausspruch ist, daß die Beleidigten in Marmor schreiben, in Wasser aber die Beleidiger.“ Man kann mit Lope-Biografie im Hinterkopf hier sogar eine Selbstermahnung hören. Lisardo wird im Wasser angefallen vom Ehemann seiner Laura, die schon ermordet ist, der Schreck macht ihn ohnmächtig, er ertrinkt ganz profan und wird als Wasserleiche gefunden. Denn es geht deftig und heftig zu bei Lope. Es wechselt auch mal mittendrin die Perspektive, ohne dass dies als listige Irreführung des Lesers gemeint wäre. Grillparzer bringt auch dieses Nicht-Verfahren auf den Punkt, und zwar 1841 so: „Wie es aber einmal zum Spaß kommt, hört alles Recht der Folgerichtigkeit auf. Der Zweck ist nur den Zuschauer zu unterhalten und je toller je besser.“ Den Leser ebenso, versteht sich.
Die Novellen haben etwas, das der eingeweihtere Leser aus den ESSAIS von Bacon oder Montaigne kennt, die extreme Zitierfreudigkeit, die humanistische Belesenheit vorführen. Dabei ist das nicht ohne Geschmäckle, denn gerade den humanistischen Kritikern war Lope mit seiner postaristotelischen Poetik durchaus ein Dorn im Auge. Er wollte ihnen sowohl ein Däumchen drehen als auch imponieren, ein keineswegs von selbst laufendes Unterfangen. Manchmal wird Lope mitten im Liebes- und Intrigenschildern zeitlos aktuell: „Auch seid Ihr gleich in die Hauptstadt gefahren: ein bewährtes Mittel, als hättet Ihr gewußt, daß dort der Fluß des Vergessens fließt und daß dort, wie es heißt, so viele bleiben, die in alle Ewigkeit nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.“ Das schreibt Laura an Lisardo, der plötzlich als „Mensch in der Hauptstadt“ erscheint. Genau das kennt Lope sehr genau aus eigener Erfahrung. In seinen Stücken tritt er immer wieder einmal als Belardo auf die Szene, viele seiner Gedichte nehmen Biographie ganz direkt auf.
1912, als es den 350. Geburtstag Lopes zu feiern galt, beteiligte sich auch ein Mann, der unter Lenin nach der Oktoberrevolution erster Volkskommissar für das Bildungswesen wurde, unter Stalin fast vollständig in Vergessenheit geriet und nach dem 1956er XX. Parteitag mit seinen Enthüllungen neue Würdigung erfuhr. Dieser Anatoli Lunatscharski, von dem auch ein durchaus als „Faust III“ gedachtes Stück „Faust und die Stadt“ überliefert ist, zwischen 1906 und 1916 entstanden, zitierte die Lope-Figur Gracioso aus „Der Stern Sevillas“ ausgerechnet mit dem Satz: „Kann man denn immer dem Wort treu sein, wenn sich rings um uns alles verändert?“ Das hatte in DDR-Zeiten ansehnliche Sprengkraft, ich erinnere mich der fast verächtlichen Rückfrage eines Professors, was mich dazu bringe, ausgerechnet Lunatscharski zu zitieren, den niemand mehr zitiere. Eben deshalb, war meine Antwort. Sie ließe sich heute unter anderen Vorzeichen wortgleich wiederholen.