Caroline von Wolzogen 250
Vor reichlich fünf Jahren hatte Rolf Vollmann die nicht ganz glückliche Idee, im ZEIT-Feuilleton Caroline von Wolzogens Roman „Agnes von Lilien“, von Thomas Anz mit Material-Anhang in Marburg 2005 neu herausgegeben, zu behandeln, als wäre das Werk damit zum ersten Mal seit 1796 überhaupt wieder zugänglich. Anz, Marburger Professor, war nobel genug, in seinem zwei Wochen später vermutlich nur in Teilen veröffentlichten Leserbrief (ZEIT, 31. Januar 2008), aus der prinzipiellen Faktenschwäche des flotten Vollmann-Textes lediglich die auf Goethe bezogenen Falschaussagen dezent anzusprechen. Infam nennt Anz, was Vollmann (Jahrgang 1934) Goethe andichte. Und in der Tat muss es mehr als verwundern, dass der bewährte ZEIT-Autor, der einem breiteren Publikum mit seiner lesenswerten zweibändigen Roman-Geschichte ab 1800 „Die wunderbaren Falschmünzer“ bekannt wurde, überhaupt noch auf die Neuedition zu sprechen kam. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE hatte da mit Thomas Meißner zwei volle Jahre Vorsprung.
Vollmann fand den Roman der Frau von Wolzogen recht fürchterlich, „eine Lektüre wie ewiges Puddingessen“, das sei aber letztlich nicht weiter schlimm, „sie kann nur einfach nicht schreiben“. Die Literaturamateure Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schlegel und ziemlich viele Leser des Vorabdrucks in den HOREN und auch der bald folgenden Buchausgabe (von der Vollmann offenbar gar nichts wusste) sahen das freilich deutlich anders. Der Blick in die erstbeste Ausgabe des Goethe-Schiller-Briefwechsels mit Register hätte den Behauptungseifer Vollmanns bremsen können. Er gefiel sich stattdessen lieber in Sottisen wie „er hatte seine Schwägerin zum Verwechseln gern“ (gemeint: Schiller). Dabei war die schriftstellerischen Arbeit der Caroline Friederike Sophie Auguste von Wolzogen, die erst von Lengefeld, dann von Beulwitz war, ehe sie den Schillerfreund Wilhelm von Wolzogen heiratete, auf keinen Fall Trittbrettfahrerei im Fahrwasser Schillers. Wie übrigens auch nicht das literarische Treiben von Goethes Schwager Vulpius bezüglich Goethes.
Caroline von Wolzogen, die ältere der beiden Lengefeld-Schwestern aus Rudolstadt, der „heimlichen Liebe“ Schillers, war selbst die gar nicht so heimliche Liebe Schillers, ihr heutiger 250. Geburtstag ist nicht nötig, um sie mit gespieltem Erstaunen neu oder wieder zu entdecken. Die beiden grenzwertig selbstbewussten Autorinnen Kirsten Jüngling und Brigitte Roßbeck haben den Hype der beiden Schillerjahre 2005 und 2009 genutzt, um ein durchaus empfehlenswertes Buch mit dem Titel „Schillers Doppelliebe“ (List-Verlag) auf den flüchtigen Buchmarkt zu werfen und bekannt, den somit knapp 100 jahre alten Titel bei Karl Berger entliehen zu haben. Ihr vorweggenommenes Fazit im Vorwort lautet bezüglich der Schwester Caroline: „Und endlich standen sie vor uns, wie sie nie zuvor gesehen worden waren: Caroline gar nicht verrucht, sondern fast hoffnungslos romantisch, sich nichts weniger wünschend als Emanzipation, getrieben von der Sehnsucht nach einem - möglichst bedeutenden – Gatten, an den sie sich attachieren wollte.“
Man muss freilich, sich praktisch souverän, selbstbewusst und in wichtigen Zügen eben nicht zeitkonform verhaltend, dies keineswegs zwingend als absichtliche, oder gar demonstrative Aktion betreiben. Derartiges Installieren von Emanzipation als Zeichen ist dann doch späteren Zeiten vorbehalten geblieben, ob zu deren Vorteil, wäre ein eigenes Thema. Doch bleibt es gut zu wissen, wie diese Caroline mit Schwester und viel späterem Gatten oder als noch nicht geschiedene Frau mit einem anderen Mann in Mitteleuropa reiste. Ebenso gut, wie Kleists Schwester Ulrike allein aufbrach und ankam, zufällig ebenfalls in der Schweiz, als Bruder Heinrich die nicht ganz wahrheitsgemäße Nachricht von seiner schweren Krankheit in die Welt setzte, um vor allem finanzielle Hilfe zu erlangen und Zuspruch. Caroline konfrontierte, Schiller bezeugt es im Brief an Goethe vom 6. Februar 1798, ihren Schwager mit dem fertigen Manuskript des ersten Teiles, beim zweiten habe er „nicht einmal mehr auf die Sprache Einfluß gehabt. Wie also der 2te Teil geschrieben ist, so kann meine Schwägerin völlig ohne fremde Beihülfe schreiben.“
Auch die Untertöne in Schillers und Goethes Äußerungen zum Roman, alle anderen recht zahlreichen Vorkommen des Namens oder der Person Caroline im Briefwechsel sind Grußweitergaben, Erwähnungen in rein familiären Zusammenhängen, wären ein eigenes Thema. Mindestens bei Schiller ist genau jenes Frauenbild spürbar, dass ihm im Zusammenhang mit der „Glocke“ seit der Jenaer Romantik bis heute gern engagiert vorgeworfen wird. Auch Goethe sah das Buch kritisch, hätte weniger Eile empfohlen, wies aber auf keinen Fall sofort die Unterstellung entrüstet zurück, die in Gerüchten und von Schlegel vertreten wurde, Goethe sei der Verfasser des anonym erschienenen Buches. Er vermutete seinerseits einen kräftigen Werkstattanteil Schillers am Manuskript, was Schiller wiederum mit seiner genannten Erläuterung ins richtige Licht rückte. Vorhanden und viel gelesen aber war das Buch, Caroline von Wolzogen hatte sich mit ihm auch keineswegs leer geschrieben, wie Goethe in seiner Antwort an Schiller von 7. Februar 1798 vermuten zu dürfen glaubte.
Die 1990 edierte Ausgabe „Gesammelte Schriften“, Herausgeber Peter Boerner, umfasst immerhin neben dem Roman, neben der zweiteiligen Schiller-Biografie „Schillers Leben“ zwei Bände Erzählungen, einen Nachlassband und „Cordelia“. Auch von ihrem Gatten Wilhelm von Wolzogen ist Hinterlassenes längst nachlesbar, Tagebücher aus den Revolutionsjahren, teilweise bei S. Fischer, teilweise bei Kohlhammer Stuttgart erschienen und in maßgebenden Feuilletons wie der NEUEN ZÜRCHER oder in DIE WELT auffallend ausführlich gewürdigt. Weder davon noch von einer sich Mark Lehmstedt verdankenden CD-ROM mit sehr vielen Seiten Caroline von Wolzogen hatte Vollmann Kenntnis, als er der ZEIT sein „Stilleben mit Buch“ unter der Überschrift „Wer mit wem?“ lieferte. (Deutsche Literatur von Frauen, Digitale Bibliothek 45, ein Fundgrube!). In Schillers NEUE THALIA, zweiter Band 1792, Seiten 241 bis 266 und 275 bis 297, das als Ergänzung, erschien Carolines Schauspiel „Der leukadische Fels“ gedruckt, das öffentliche Debüt gewissermaßen. Eine knappe Information dazu liefert Kirsten Okun im „Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts“.
Die Schweiz hat im langen Leben der Caroline von Wolzogen eine besondere Rolle gespielt. Die erste Reise dorthin begann im April 1783 und endete mehr als ein Jahr später wieder in Rudolstadt. Reisebegleiter Wilhelm Ludwig von Beulwitz wurde der erste Gatte und las später mit seiner zweiten Frau durchaus angetan den Roman seine Ex-Frau, ohne zu ahnen, dass sie die Autorin war. Zehn Jahre nach der ersten Reise war sie mit Wilhelm von Wolzogen erneut fast ein halbes Jahr in der Schweiz. Nach der Scheidung gab es eine zweite Trauung in Bauerbach, wo bekanntlich die neue Schwiegermama Henriette ein Anwesen besaß. Der gemeinsame Sohn Adolf wurde in Stein am Rhein geboren, sein Leben endete an seinem dreißigsten Geburtstag, die Biografie vermutet Selbstmord. 1810 ist Caroline wieder in der Schweiz, sie besucht Pestalozzi in Yverdon, jetzt als Witwe, denn Wilhelm von Wolzogen starb am 17. Dezember 1809.
Ob wir den Briefwechsel von Goethe und Schiller so überliefert hätten, wie wir ihn haben, wenn es Caroline nicht gelungen wäre, die Verhandlungen zwischen Goethe und Schwester Charlotte dazu geschickt zum positiven Ergebnis zu fördern, ist Spekulation. Ihre Schillerbiografie aber und Andreas Streichers Erinnerungsbuch gehören zum Fundament aller Schiller-Darstellung. Mit fast 84 Jahren starb sie am 11. Januar 1847. Und es bleibt am heutigen Jubiläumstag abschließend Raum für eine nahe liegende und dennoch sicher vor allem im Interesse der Schiller-Legende, soweit ich es übersehe, unerörterte Vermutung. Die erstaunliche Detailkenntnis Schillers, die sich zweifellos in seinem „Wilhelm Tell“ manifestiert, ist ziemlich sicher keineswegs nur aus Karten und Büchern gezogen. Die farbige Darstellung schweizerischer Örtlichkeiten, Gegebenheiten, Gepflogenheiten verdankt sich ziemlich sicher nicht nur der Imaginationskraft eines Genies, das nie Schweizer Boden betrat. Schwägerin Caroline, die neben und mit ihrer Schwester Charlotte noch am Sterbebett Schillers saß, wird ein unerschöpflicher Quell gewesen sein. Wie natürlich auch Goethes Reisebriefe aus der Schweiz.