Stefan Heym 100
Ein Würdigung wird dies nicht. Zu viele der fürchterlich vielen gedruckten Seiten, die Stefan Heym hinterlassen hat, kenne ich nicht. Zu gering ist mein Ehrgeiz, meine diesbezüglichen Defizite auszugleichen. Immer, wenn ich bei passender und unpassender Gelegenheit mein Lamento über die mäßigen literarischen Qualitäten Heyms auszubreiten beginne, ist ein Kundiger in der Nähe, der mir als Gegenargument wahlweise diesen oder jenen Heym-Titel, meist sind es der „König David Bericht“ und die „Schmähschrift“, um die Ohren haut, ich gehe dann sofort in mich, blicke betreten auf meine Schuhspitzen. Mir fällt die alte Dame aus dem Helmholtz-Bau der jetzigen TU Ilmenau ein, die mir mit Verschwörermiene irgendwann in der ersten Hälfte der siebziger Jahre den biblischen Roman zu rascher Lektüre hinhielt. Sie hatte ihn in erster Auflage, alle anderen nicht und sie war maßlos enttäuscht, als ich nicht sofort vor Begeisterung zu Boden sank.
Dann war ich ein Student im brodelnden Berlin, hatte mit kochenden Ohren „Die Schlacht“ von Heiner Müller gesehen, ein leider schon verstorbener Kommilitone war eigens aus Schöneweide in mein Studentenwohnheim „Victor Jara“ gekommen, um mir zu seiner Klampfe Biermann-Lieder zu Gehör zu bringen. Und ein anderer Freund lieh mir „Fünf Tage im Juni“. Ich las dieses Buch wegen der vielen Geschichten, die von ihm und um es herum erzählt wurden, vielleicht mit einer der höchsten Erwartungshaltungen, die ich je auf ein mir bis dahin unbekanntes Buch richtete. Und ich hatte inzwischen für das geistige Umfeld des sehr jungen Günter Kunert, dem meine Diplom-Arbeit gelten sollte, ganze Berge spätstalinistischer Literaturtheorie und Ästhetik gelesen, Übersetzungen aus dem Russischen und Eigengewächse angehender DDR-Hausgötter.
Das war keine gute Mischung, denn mir schien und scheint heute noch, als hätte nie ein Autor auf dem Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik derart naiv, derart vollständig nach Handbuch des sozialistischen Realismus a la Shdanow und Co. geschrieben wie dieser Stefan Heym in diesem Buch über die Ereignisse des 17. Juni 1953. Die Plattköpfe, die es zu beurteilen hatten, haben das offenbar nicht bemerken wollen, alle Verdikte galten einem der bravsten Bücher, die ich dazumal kannte. Jedes Oberseminar über schematische Figurencharakteristik, über Kleinfritzchen-Dramaturgie, meinte ich zu bemerken, hätte anhand dieses angeblich so dissidentischen Buches bestritten werden können.
Da saß ich, zu Hause von Kindesbeinen an konfrontiert einer stets wachsenden Reihe von Heym-Büchern im elterlichen Bücherschrank, die fetten „Kreuzfahrer von heute“ in schmutziggelbem Schutzumschlag unvergesslich, daneben „Der Fall Glasenapp“, blau-weiß-orange, „Die Augen der Vernunft“ überwiegend weißgrau, wenn die Erinnerung nicht täuscht. Ich selbst trug später immer wieder neue Stücke bei zur Sammlung, stets willkommene Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke, ohne je Wünsche zu entwickeln, selbst ein Heym-Besitzer zu werden. Als „Collin“ erschien, war es all meinen Freunden klar, dass dieses ihnen wichtige Buch von der DDR-Literatur-Obrigkeit nur deshalb literarisch herabgewürdigt wurde, um den Argusohren des Westens keine politische Argumentation als gefundenes Fressen zu liefern. Später las ich natürlich Kritiken zu den ganz späten Büchern, jetzt kamen die Verrisse fast in Serie. Und ich sah mich mit meiner frühen Meinung bestätigt und wenig getrieben, eigenäugig meinem eventuellen Irrtum nachzulesen.
Den heutigen hundertsten Geburtstag von Stefan Heym will ich dennoch nicht verstreichen lassen, ohne an einen wahrlich interessanten frühen Text von ihm zu erinnern. Damals saß Heym noch nicht öfter im Nachrichtenstudio von ARD und ZDF als heute Arnulf Baring in allen Talk-Shows sämtlicher Sender, um sonor-knarzig alles zu wissen, alles zu kommentieren und auf alles eine schweinchenschlaue Antwort zu haben, wie er es in den späten DDR-Zeiten tat. Damals liebte Stefan Heym den Arbeiterpräsidenten Wilhelm Pieck. Er liebte ihn hymnisch. Und er liebte ihn im Verbund mit allen, die ihn auch öffentlich-bekennend liebten. Und weil das so schön war, wurde es für die Ewigkeit in weinrotes Ganzleinen gebunden. Der im offenen Sarg liegende Wilhelm Pieck gehört, als Zeitungsfoto, auch zu meinen frühen Erinnerungen.
Also: „... der, dem die Worte gelten, hat die seltene Fähigkeit, die Herzen der Menschen anzusprechen. Das kommt, meine ich, von der Güte und der Weisheit, der Güte und der Weisheit eines alten Arbeiters. Nicht zufällig besteht ein Zusammenhang zwischen dem Charakter eines Menschen und der Klasse, zu der er gehört, und der Weltanschauung, die er sich erringt.“ Pieck hatte tatsächlich einige Jahre als Tischler in Bremen gearbeitet, ehe er hauptamtlicher Funktionär wurde, freilich zählt der Tischler in strenger Nomenklatur eher als Handwerker, denn als Arbeiter.
„Der Klassenfeind, der auch der Feind des Friedens und des Glücklichseins und jeder anständigen menschlichen Regung ist, berechnet genau, was er tut. Da ist es interessant zu sehen, wie der Klassenfeind sein Schmutzfeuer dirigiert und gegen wen er es richtet.“
Das gehört nun in der Tat zu den linken Urüberzeugungen, dass irgendwo ein virtuelles imperialistisches Politbüro thront, das ein Arsenal von Operativvorgängen plant und im Vollzug dann das ihrer Herrschaft ausgelieferte Weltganze zur Erfüllung genau dieser Pläne in Dienst nimmt. Dieses Denken lässt sich vom Satz „Der König hat geweint!“ niemals erschüttern, denn der König ist ein Angehöriger der Ausbeuterklasse, während Posa notfalls immer zum Arbeiter ehrenhalber ernannt werden kann. Darüber würde freilich ein tatsächliches Politbüro Entscheidungsbefugnis haben. „Aber sie fürchten, daß er zuviel Vertrauen genießt bei all jenen, die ein Gefühl haben für die Güte und Weisheit und Menschlichkeit, und daß die Propaganda und die Anwürfe und die Unterschiebungen sich daher gegen ihre Urheber richten könnten. Sie fürchten mit Recht.“ Schrieb Wunschdenker Heym.
„Die Revolution schafft ihren Mann; der Mann wiederum drückt ihr seinen Stempel auf.“ Andere erwischt es härter: „Wie viele, die abfallen, sich verirren, niedersinken!“ Und dennoch: „Und Glückwunsch dem Volk, das ihn, den Arbeiter Wilhelm Pieck, zum Präsidenten wählte – den ersten Arbeiterpräsidenten in der deutschen Geschichte, aber nicht den letzten.“ Nur wenig später, als der von Ulbricht kalt gestellte Pieck im September 1960 gestorben war, wurde das Präsidentenamt in den Orkus der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik verbannt. Es gibt einen schwarzweißen Dokumentarfilm, in dem unter anderem die spätere Dissidentin Monika Maron mit Pionierhalstuch lauschend an den Lippen Johannes R. Bechers hängt, der vom Präsidenten spricht.
Stoff für Vorwürfe oder gar Verurteilungen liefert das freilich nur denen, die in den Glashäusern dieser Welt den Beruf ergriffen haben, dem Glaserhandwerk Auftragskoninuität zu verschaffen. Als Stefan Heym 2001 gestorben war, gab es im SPIEGEL einen Nachruf von Günter Kunert. Der schrieb (Heft 52, Seite 194) unter anderem: „Der Emigrant Heym litt, wie fast alle Menschen mit seinen Erfahrungen, an einer besonderen Eigenschaft: der Sucht nach materieller Sicherheit. Ich wette, dass, hätte man ihn nach der Uhrzeit gefragt, er sich erkundigt haben würde, wie hoch das Honorar für die Antwort wäre.“ In den Augen derer, die der Materialist Heym im Sinne von Marx und Engels Idealisten genannt haben würde, ist das ein arg desavouierender Zug. Wir aber wissen: Solange das mit dem Kommunismus nicht klappt, geht es nicht ohne Honorar, denn Ehre und Nachruhm sowie christliche Moral sind auf Landbrot nicht recht streichfähig.