Carl von Ossietzky 1913
25 Jahre nach meinen beiden ersten und einzigen kleinen Zeitungsartikeln über Carl von Ossietzky (vgl. „Carl von Ossietzky 1988“ in der Rubrik ALTE SACHEN) fesseln mich seine ganz frühen Texte. Ich führe mir vor Augen, dass er am 3. Oktober 1913 ja erst 24 Jahre alt wurde. 1911, als der erste der in den acht Bänden „Sämtliche Schriften“ gesammelten Texte entstand, war der junge Mann aus Hamburg 22 Jahre alt. Wie eigentlich alle in diesem Alter gab er sich geneigt, sehr weitreichende Behauptungen aufzustellen. Wie bis heute wenige in seinem Alter aber entwickelte er auf sehr verschiedenen Feldern der ihn umgebenden Wirklichkeit frappierendes Urteilsvermögen. Und zwar auf Basis erstaunlicher Kenntnisse. Er hat 1911, 1912 und 1913 schon Sätze zu Papier gebracht, die mir jetzt zeitgenössischer erscheinen als manches, was eben im Brustton mancher Überzeugungen vorgetragen wird.
Posthum werden Aussagen, die scheinbar alterslos sich wandelnde Realität in höchster Prägnanz beschreiben, gern als hellseherisch missverstanden. In Wahrheit heißt die Diagnose ja nicht zugunsten des Aussagenden, er habe weit voraus geschaut. Sie heißt zuungunsten der Realität, sie habe sich seit den Zeiten des Aussagenden eben doch nicht geändert. Der Pessimist beruft sich auf die Sonne, unter der es nichts Neues gebe. Der Optimist hat ohnehin gerade frei und beruft sich auf gar nichts. Carl von Ossietzky ist am Tage, da sein Tod sich zum 75. Male jährt, ohne Wenn und Aber zu bewundern. Das gilt es festzuhalten in Zeiten, da das politische Buch des Frühjahrs im Sommer selbst seinen bekennenden Freunden schon vom Titel her nicht mehr fest im Gedächtnis sitzt. Die acht Bände der „Sämtlichen Schriften“ benötigen natürlich heute einen umfangreichen Anmerkungsapparat, die Fakten des Alltags vor jenem Krieg von 1914 bis 1918 haben sich aus dem präsenten Gedächtnis lange verloren. Das war es dann aber auch schon.
Seine journalistische Laufbahn begann Ossietzky mit einem Temperamentsausbruch. Er schalt in der Wochenzeitschrift „Das freie Volk“ Publikum und Kritik, vor dem Stück „Alles um Liebe“ von Herbert Eulenberg (1876 – 1949) versagt zu haben. Die Zeitschrift wurde von der „Demokratischen Vereinigung“ (DV) herausgegeben, einer kurzlebigen Partei, deren erster Vorsitzender Rudolf Breitscheid war, der nach einer heftigen Wahlschlappe 1912 zur SPD überwechselte. Ossietzky war nicht nur Mitglied dieser Partei, er gehörte 1924 auch zu den Gründern der Republikanischen Partei Deutschlands (RPD), in diesen Punkten war ich 1988 schlecht informiert. Der junge Autor Ossietzky empfahl dem zahlungsfähigen Hamburger Bourgeoispublikum, sich aufrichtig zu schämen. Doch Publikum schämt sich selten. Es strömte früher gern zu öffentlichen Hinrichtungen und mag dergleichen auch heute noch, wo die Köpfe lediglich im übertragenen Sinne rollen.
Der erste Ossietzky-Satz aus dem Jahr 1912, der mir imponiert, es sind natürlich zwei Sätze, geht so: „Die Partei hat kein Programm. Darum sucht sie krampfhaft nach Parolen.“ Was sich damals auf die Nationalliberalen bezog, ist es nicht von deprimierender Zeitlosigkeit? Es folgt: „Die schlimmste Zeit für die Partei ist die Wahlzeit. Da müssen die Unglückswürmer von Kandidaten vor die Öffentlichkeit.“ Und kurz vor Anbruch des Jahres 1913, über den Kulturpolitiker Paul von Hoensbroech (1852 – 1923): „Solche Männer, die in keine Parteischablone passen, haben oft einen scharfen Blick für das Wesen der Parteien.“ Es gibt sie, würde ich sofort ergänzen wollen, gerade auch innerhalb von Parteien, so seltsam das Schablonenfreunden von außerhalb jeweils erscheinen mag. Und schon kommt 1913, es braucht gar nicht erst eigens Florian Illies, um dieses bedeutende Jahr als solches zu sehen und für ein Publikum interessant zu machen. Ich lange in die gut gefüllte Terrine, um das eine oder andere Markklößchen auf die Kelle zu bekommen.
„Die bürgerliche Presse ist nur zu geneigt, Übergriffe der Industriedemagogie zu übersehen.“ (18. Januar 1913) „Das Streben, die Gesinnungen zu uniformieren, ist das alte Kennzeichen pfäffischer Herrschsucht.“ (22. März 1913) „Wer aber einen Schild mit ins Gefecht nimmt, der darf nicht klagen, wenn er ramponiert wird.“ (22. März 1913) Ossietzky findet einen holländischen Dorfpfarrer vorbildlich, weil der einer Predigt ein Thema von Oscar Wilde zugrunde legte. Dass Emil Felden (1874 – 1959) mit seinen Kanzelreden über Ibsens Schauspiele da nicht weit weg lag in den Sympathiewerten, ist nahe liegend. Er war sicher einer der ersten Pastoren, die SPD-Mitglied wurden und saß kurzzeitig sogar im Reichstag. Das aber war 1913 für Ossietzky natürlich noch kein Thema. Wohl aber der Balkankrieg und die Diplomatie der europäischen Großmächte: „Die Kleinen müssen geduckt werden. Das scheint in der Tat die Quintessenz modern europäischer Diplomatenweisheit zu sein. Wer schwach war, musste es bitter fühlen.“ Das war lange vor Bankenkrisen und Rettungsschirmen.
Zum so genannten Panslavismus schrieb Ossietzky am 19. April 1913: „Je mehr eine bodenständige geistige Kultur ein Volk durchdringt, um so mehr müssen die nationalistischen Strömungen abflauen, die ihre Wurzeln nur in grober Unbildung und intellektueller Minderwertigkeit haben.“ Auf die angeblich aus dem Osten bedrohte deutsche Kultur bezogen: „Und wenn wir die Kraft finden, unser politisches Leben freiheitlich, demokratisch auszugestalten, so werden wir einen neuen gewaltigen Vorsprung erringen.“ Es mag heute Menschen außerhalb Deutschlands geben, die eben diese Art von Freiheit und Demokratie uns lieber nicht eigen sähen wegen des daraus womöglich tatsächlich erwachsenden Vorsprungs. Ich will den Abgründen des Gedankens hier einstweilen nicht nachgehen. Verblüffender aber als die verblüffend präzisen Sichten auf solche Phänomene der Politik scheint mir die Kühnheit, mit der der noch Dreiundzwanzigjährige die Bilanz des Schauspielhaus-Intendanten Carl Hagemann (1871 – 1945) zieht.
Der, mit vollem Namen Christian Carl Hagemann, gehört zur faszinierenden und extrem seltenen Spezies der Theaterkritiker, die ohne die geringste bühnenpraktische Erfahrung zum Theaterleiter wurden. Und liest man, was Ossietzky ihm nachsagt, dann war das für das Hamburger Schauspielhaus keinesfalls die reine Katastrophe. „Vieleicht mag man verneinen, dass es taktisch klug gehandelt war, schon in der ersten Saison ein demonstrativ modernes Programm aufzwingen zu wollen.“ Damals schien Berlin dem Bilanzierer der möglicherweise einzige Ort für „litterarische“ Wagnisse. Immerhin auch, allgemein gesprochen: „Aber ein Theaterleiter hat die Verpflichtung, unbekannten Autoren den Weg zu ebnen.“ Publiziert worden ist der Text zu Lebzeiten seines Verfassers nicht. Wohl dagegen „Der heilige Mars“ am 31. Mai 1913. Man ahnt nach wenigen Zeilen, wie kurz der Weg Ossietzkys von hier bis zu seiner Verurteilung 1914 wegen Beleidigung eines Militärgerichts sein wird. „Bei uns herrscht eine namenlose Überschätzung des Militarismus.“ „Aber dieses blinde, urteilslose Vertrauen auf die bewaffnete Macht ist eine wahre Kulturschande.“
„Wir halten den Gedanken des kommenden Krieges für zu furchtbar, um mit ihm kokettieren zu können.“ Das am, wie schon erwähnt, 31 Mai 1913! Da blieb bis zum Taumel des August 1914, da bis auf sehr wenige Ausnahmen auch die Intellektuellen Deutschlands von allen guten Geistern verlassen ins Horn bliesen, noch mehr als ein Jahr. Wenige Zeilen vorher stand: „Unsere Regierung ist nicht verpflichtet, aus Katastrophen zu lernen. Wenn es nur das Volk täte!“ Die Antwort darauf hat ein für alle Male Günter Kunert gegeben in seinem vielleicht am häufigsten nachgedruckten Gedicht „Über einige Davongekommene“: „Nie wieder. // Jedenfalls nicht gleich.“ Am 5. Juli 1913 dann hieß es: „Die militärische Justitia hat nicht nur verbundene Augen, sondern auch verstopfte Ohren und ein gepanzertes Herz.“ Es wird darauf zurückzukommen sein. Vorher noch dies: „Eine lange, schwere Arbeit liegt vor uns: die Mauern des Misstrauens und der Gehässigkeit niederzureißen, die von den Nationalisten aller Länder aufgerichtet worden sind.“
Am 29. November 1913 erschien, immer noch in „Das freie Volk“, der letzte Artikel Ossietzkys in diesem geschichtsträchtigen Jahr. Zum wiederholten Male widmete er sich Elsaß-Lothringen und dem General von Deimling: „Wir sind es in Deutschland nicht gewöhnt, daß dem militärischen Dünkel die Zähne gezeigt werden...“ Der geborene Hamburger lobt die Elsässer nicht wegen ihres oft wunderbaren Weines: „Aber ihre von den Alldeutschen so gehaßte gallische Blutmischung hat sie zum Glück vor der trübseligsten Eigenschaft deutscher Staatsbürger bewahrt: der Schafsgeduld.“ Ein Jahr später war brutaler Krieg. Ein Jahr später war Carl von Ossietzky immer noch sehr jung. Weil er heute vor 75 Jahren starb, sei hier versprochen, dass sein 125. Geburtstag im kommenden Jahr neue Gelegenheit bieten wird, vielleicht auch an die schäbige Geschichte der Namensgebung für die Oldenburger Universität zu erinnern. Seine erste Geldstrafe 1914 ist auf alle Fälle im Terminkalender der besseren Jubiläen des kommenden Jahres vermerkt.