Was bleibt von Jürgen Kuczynski?
Als ich nach verspäteten fünf Jahren Philosophiestudium an der Humboldt-Universität 1980 meine befristete Assistentenstelle an der TH Ilmenau antrat, hatte ich etwas, was Außenstehende sicher befremdend finden mussten: seltsame Ideale davon, wie man, wenn man gezwungen ist, unwilligen Technikstudenten im so genannten marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium Philosophie näher zu bringen, verfahren sollte. Meine ehemaligen Studenten erinnern sich besser daran als ich. Einer sagte kürzlich nach einer Ausstellungseröffnung zu mir, ich hätte ihm damals imponiert, weil ich die Aufmärsche der FDJ in Berlin mit den Fackelzügen unter Hitler verglichen hätte. Ich könnte das vor Gericht weder bestätigen noch ableugnen, der Zeuge hat es mehr als 30 Jahre nicht vergessen und mich regelrecht gerührt.
Was ich aber noch sehr genau weiß: Ich habe in meinen Seminaren eine Geschichte von Günter Kunert vorgelesen, vielleicht auch als stillen Protest dagegen, dass mir mein Humboldt-Professor, er hieß Herbert Steininger, Anfang 1980 meine zwei Jahre intensiv vorbereitete Diplomarbeit über Kunert kurzerhand verboten hatte, die Geschichte heißt: „Das Bild der Schlacht vom Isonzo“. Sie endet damit, dass sich ein General, der das realistische Schlachtbild fürchterlich findet, aus dem Bild das Detail eines fröhlich trommelnden Knaben ausschneidet. Als ich heute den Vortrag von Dr. Peter Beurton gehört hatte, der im GoetheStadtMuseum zu dem Thema sprach, das hier als Überschrift dient, wurde ich Zeuge eines Gesprächs, in dem einer der beiden Teilnehmer, Jahrgang 1948 wie der Vortragende, seinem Gegenüber mitteilte, er freue sich, jetzt wieder „Faschismus“ sagen zu dürfen, er könne das jetzt zitieren und müsse nicht mehr „Nationalsozialismus“ sagen. Das war sein trommelnder Knabe, den er sich aus dem Vortrag geschnitten hatte, in dem es, ich war Zeuge, um alles, nur nicht um die Benennung der Hitlerzeit gegangen war. Und es war natürlich auch sein ewig fortlebender Obrigkeitsglaube, dem das parteiliche Zitat alles ist.
Dr. Peter Beurton ist ein Sohn von Ruth Werner, die wiederum die Schwester von Jürgen Kuczynski war, er ist studierter Biologe, hat später noch Philosophie dazu studiert und es bis zur Habilitation gebracht. Er wurde in England geboren, war nach der Rückkehr nach Deutschland in einem Kinderheim, in dem auch Kinder von Kuczynski oder von Karl Eduard von Schnitzler eine Zeit verbrachten. Sein ergänzendes Philosophiestudium absolvierte er von 1972 bis 1976 in Berlin. Da kann ich wenigstens zum Teil selbst einordnen, was er sagt, denn von 1975 an studierte auch ich dort Philosophie und landete mit meiner wissenschaftlichen Spezialisierung in einem Wissenschaftsbereich, den auch er, wenngleich nicht da, wo ich war, als nennenswert empfand, weil bestimmte Freiheiten bringend. Das hieß offiziell „Philosphische Probleme der Naturwissenschaften“ und erlaubte ihm das Befassen mit acht Stunden Evolutionstheorie täglich, was bei den Biologen angeblich nie gegangen wäre. Ich kann dazu nichts sagen, es ist mit Bezug auf das Thema auch unerheblich.
Beurton beantwortete seine selbst gestellte Frage sehr knapp: Von Kuczynski bleibt, dass er ein Unikat war und dass es ihn gegeben hat. Er wertete die philosophische Substanz seines Onkels Jürgen nicht besonders hoch, er schätzte die Wirkung seiner unendlich vielen vielbändigen Werke als geringer ein, als angenommen werde bisweilen, legte sogar den Gedanken nahe, die vierzig Bände „Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus“ seien weltweit von kaum jemandem je komplett gelesen worden. Er habe immer vor allem publizieren wollen, sei nie einer gewesen, der lange mit einem Gedanken oder einer Frage schwanger ging, er habe immer und überall publiziert, wo es sich ergab. Darauf, dass er mehr geschrieben habe als Marx und Engels zusammen, mehr auch als die meisten Professoren aller Fachgebiete, in die er sich wagte und das waren nicht wenige, die eben nicht sein Metier waren, darunter Kunst und Literatur, war er stolz. Manches, was er in den letzten Jahren publiziert habe, sei besser nicht erschienen. Sagt der Neffe.
Nicht-Fachleute haben seinerzeit ohnehin fast nur Kuczynskis „Dialog mit meinem Urenkel“ wahrgenommen und sich an den daraus destillierbaren „Stellen“ ergötzt, wie es allgemeine Lesepraxis in der DDR war, die alles, was auch nur entfernt wie Kritik klang, aufsaugte wie der sprichwörtliche Schwamm. Kuczynski war in den letzten Jahren der DDR ein sehr gern gebuchter und auch eifrig die Einladungen wahrnehmender Redner. Wie er als Autor einer war, der wahrscheinlich die meisten Selbstzitate aller je deutsch schreibenden Buch- und Artikelautoren verwendet hat, so war er als Redner einer, der auf die Sekunde bei Ablauf der vereinbarten Redezeit inklusive Fragezeit abbrach und kein Wort mehr verlauten ließ. So habe ich ihn erlebt, an der Uni in Ilmenau, beim Schriftstellerverband in Meiningen. Er war, das nur nebenbei, allein durch seine Art ein unvergessliches Erlebnis. Wenngleich seine Vertrautheiten mit allen Obrigkeiten schon damals nicht nur mit Wohlwollen und Interesse registriert wurden bei seinen Hörern.
Wenn nun jetzt sein Neffe Peter Beurton mit einigem Nachdruck sagt, die Aussage in einem späten Interview Kuczynskis, eine unsägliche Aussage, bei der einem noch jetzt die Spucke weg bleibt, er habe bis in die siebziger Jahre nichts von dem gewusst, was unter Stalin passiert sei, stimme so, wie sie gesagt wurde, dann muss man schon sehr tapfer sein, um nicht zu schlucken. Während meines Philosophiestudiums zu Berlin haben wir sogar, wenn auch gegen den heftigen Widerstand des Lehrkörpers, im Fach „Geschichte der KPdSU“, das gab es, über die Details von Stalins Mordtaten geredet, wir hatten an der Tafel, freilich nicht vom Dozenten dort mit Kreide notiert, sogar die Zahlen der auf dem 17. Parteitag ins ZK gewählten Mitglieder und wie viele davon wenige Jahre später noch lebten. Sollte der alte Jürgen Kuczynski also tatsächlich nicht nur den fragenden (West-)Journalisten auf zweifelhafte Weise veräppelt haben, dann wäre seine Behauptung haarsträubend, peinlich, unfassbar, verlogen, dummdreist, man mag sich aussuchen, was, eine Verhöhnung auch der Opfer unter den deutschen Kommunisten, die guten Glaubens in die Emigration gegangen waren ins Mutterland der Arbeiterklasse und dort unter mehr oder minder merkwürdigen Umständen ums Leben kamen.
Dass einer wie Kuczynski auch einmal etwas sagen durfte, was anderen den Kopf gekostet hätte und ja auch vielfach, wenn selbst nur im übertragenen Sinne, gekostet hat, zeigt neben allem, was es zeigt, auch das treppenwitzige Funktionieren von Privilegien. Selbst Biermann durfte Jahre weitestgehend unbehelligt treiben, was er trieb, weil Margot Honecker die Hand über ihn hielt. Wehe aber, einer hatte solchen Schutz nicht. Mein Lieblingsdozent an der Humboldt-Universität, Gerd Irrlitz, einer der wirklich bedeutenden Köpfe im Vergleich mit jenen drittklassigen Trittbrettfahrern der späten fünfziger Jahre, die sich an die Decke streckten, als etwa Bloch und Mayer vergrault worden waren, Lukacs zum Abschuss durch Dummköpfe freigegeben, und so weiter und sofort, musste in der Industrie schmoren als Parteisekretär, wenn ich mich recht erinnere und wurde dann von allem, was verfänglich hätte werden können, fern gehalten. Er durfte sich nur noch mit der griechischen Antike befassen. So war das eben auch.
Jüngeren Hörern, von denen leider keine den Weg ins GoetheStadtMuseum fanden, müssten die Ohren klingen, wenn sie hören, welche absurden Konsequenzen kommunistische Parteidisziplin hatte. Selbst in einer zusammen haltenden jüdischen kommunistischen Großfamilie wurde die eine Schwester, die dem Verdikt kleinbürgerlich anheimfiel, gemieden wie die Pest und nicht mehr erwähnt. Das erzählte Peter Beurton, als wäre es eine selbstverständliche Sache. Er las auch jenen unsäglichen Brief vor, mit dem sich Kuczynski an den Verräter Bloch wandte. So etwas ist schon verdienstvoll, weil es Abgründe dem Blick freigibt, an deren Rändern einem das fröhliche Lachen über diese so fröhliche DDR-Zeit mit ihren saulustigen Episoden einfach nur quer im Hals stecken bleibt. Es tut mir leid. Ein Urteil wie dieses über die Schwester bedeutete in Stalins Reich nicht nur ausnahmsweise schon die Zuordnung zur Gruppe der Kulaken und damit im Fall der Fälle auch ein Todesurteil. Daran ist nichts lustig, daran wird niemals etwas lustig werden.
Im großen Bücherregal meines Arbeitszimmers ist Jürgen Kuczynski übrigens auch geblieben. Dort stehen einträchtig nebeneinander: das Kinderbuch „Vom Knüppel zur automatischen Fabrik“, „Zur Philosophie des Huhnes“, „Jahre mit Büchern“, „Schwierige Jahre“ , „Ich bin der Meinung. Bemerkungen zur Kritik“ sowie „Alte Gelehrte“. Von den Büchern seiner Schwester Ruth Werner habe ich keines je einzeln besprochen, doch zu ihrem 80. Geburtstag nahm das damalige Organ der Bezirksleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Suhl, „Freies Wort“, mir einen Beitrag ab und veröffentlichte ihn unter der Überschrift „Ihre Bücher sind ihre Lebenshaltung“ (16. Mai 1987, Seite 6, 36. Jahrgang, Ausgabe 114, das für Suchende!). Auch ich war dreieinhalb meiner jetzt 59 Lebensjahre Mitglied in jener Partei. Mich Kommunist zu nennen, wäre mir nie eingefallen deshalb. Eine mir sehr nahe stehende Person weiblichen Geschlechts trat 1948 in jene Partei ein und verwahrte sich bei jeder Gelegenheit bis zum Ende der DDR vor der Vereinnahmung in der späten SED-Formulierung: „Wir Kommunisten“. So war das eben auch.