Gruppenbild mit Goethe-Schiller-Archiv
Sollte sich in diesen Tagen, da das Goethe-Schiller-Archiv in Weimar nach der feierlichen, förmlichen und offiziellen Eröffnung Führungen anbietet, jemand finden, der mehrere, mindestens jedoch zwei davon erlebt und hört, dann wird er erstaunt und erfreut dies registrieren: Es wird kein Standardtext in Varianten vorgetragen. Wer, wie ich, von Dr. Manfred Koltes durchs Haus geführt wurde, hört anderes als die, die den kurzfristig wegen Übergröße der zu führenden Gruppe eingesprungenen Direktor des Hauses hören und die wiederum auch anderes, als es die Führerinnen bringen, die sich darauf vorbereitet haben. Das Interesse ist groß, die von uns erhoffte Flaute in der Mittagszeit war nicht wahrnehmbar und selbst das Wetter steigerte sich. So fanden die trocknenden Schirme der 12-Uhr-Führung im Foyer keine Nachfolger.
Ich weiß jetzt, wonach ich nie gefragt hätte und habe, obwohl ich von den Archivalien des Archivs fast nichts hörte, doch nicht das Gefühl, Informationen vermissen zu müssen. Vielleicht hält mich das, was ich hörte, davon ab, den kulturkritischen Mollton anzustimmen, indem sich in die Jahre gekommene Edelfedern am Verschwinden des Briefes festhalten, man spricht heute gern vom Haptischen, wobei das Haptische, durch weiße Archivhandschuhe vermittelt, immer noch anders ist, als der Griff der nackten Hand, der fließend ins Grabschen übergeht. Nicht erst der fettige Leberwurstfinger eines Banausen im Herrn bedroht ja die unersetzlichen, unbezahlbaren und, wir danken dem Vortrag, auch nicht wirklich zu versichernden Papiere. Das Papier selbst ist ein endliches Produkt, die Tinten, die Druckfarben, Licht, Luft und ihre Feuchtigkeit und unter dem Weimarer Archiv verkehrt keine Metro.
Dr. Manfred Koltes, der vieles schilderte, schilderte auch, wie er quasi als Bodyguard der Originale die neueste Videotechnik einsetzen kann, den „Visualizer“, und gleichzeitig abschirmen, was sichtbar gemacht wird in jedem Detail. Er zeigte die Beleuchtung, die als Zeilenelement im Flattersatz gedeutet werden kann und wohl auch soll, er sprach über Absenkungen im Bereich des Pfeilerfundaments, über Gewinne von Stell- und Lagerfläche trotz Verringerung von Quadratmeterzahlen. Es ist, wenn man es hört, fast trivial, dass eine lichte Höhe von einem Meter nur zwei Vierzig-Zentimeter-Kästen übereinander aufnehmen kann und schon zwanzig Zentimeter mehr ein ganzes Drittel mehr Platz bringen. Man muss es dennoch nicht nur hören und wieder vergessen, denn es hat mit intensiver Raumnutzung zu tun, mit Zukunft ganz nebenbei auch. Ein Archiv hat, obwohl es scheinbar tote Materie aufnimmt, die Eigenschaft zu wachsen.
Dreißig Prozent Reserve hat das neue alte Archiv an der B 7 jetzt, das ist eine Menge. Man kann unten einen Blick durch das Köhler-Fenster werfen, das nicht mehr Köhler-Fenster heißt, weil es keinen gleichnamigen Bundespräsidenten mehr gibt und auch seinen Nachfolger nicht mehr. Der jetzige, hieß es schelmisch, mit Archiven unter seinem Namen ja besonders vertraut, kann sich den Fenster-Namen noch verdienen. Natürlich tappen die Besuchergruppen nicht an den Kästen vorbei, 8500 sollen es sein. Man schaut durch Panzerglas. Und hört von der Sicherheitstechnik. Gelbe Zettel kleben an Scheiben, in Versalien steht Inergen auf ihnen, das ist ein Edelgasgemisch, das mittels ausgeklügelter Technik in die Räume geleitet wird und den dortigen Sauerstoffgehalt im Brandfall auf 13 bis 17 Prozent senkt, falls ich mir die Zahlen richtig gemerkt habe. Da kann man noch überleben als Archivmitarbeiter, man kann auch im Fall eines Infarktes noch gut herausgeholt werden. Der Führende, der auch Stellvertreter des Direktors ist und zuständig für Editionen, zeigt jungenhafte Freude, als er vom erfolgreichen Selbstversuch berichtet.
Vor dem Archiv, dort, wo die „Schublade“ am sichtbarsten ist, die eingebaut wurde, ohne den Baukörper insgesamt äußerlich nennenswert zu verändern, stehen Obstbäume. Es ist die Streuobstwiese aus der Zeit der Gründung 1895, die anhand von vorhandenen Archivalien in Ursprungszustand und -struktur gehalten wird. Das sollte man tatsächlich gehört haben. Die Sicherheitsanlagen sind in summa so ausgelegt, dass eine Evakuierung für den Ernstfall nicht vorgesehen wird. Die Mitarbeiter also, die 15 Sekunden Zeit haben, können freilich flüchten. 15 Sekunden, hören wir, sind viel und glauben es gern. Es sind, auch diese Botschaft ist verkaufbar, mehr und bessere Arbeitsräume im Nebeneffekt hinzugekommen für das Archiv. Transporte wird es keine mehr geben, die eine Gefahrenquelle sind. Jetzt ist alles innerhalb des Hauses möglich, Restaurierungen, Digitalisierung. Die Zeit der krummen Greise, die ihre Nasen über Uraltpapier senken, schreitet ihrem Ende entgegen. Mögliche Nutzungsfrequenzen werden unendlich zunehmen, wenn in Papua-Neuguinea direkt unter Palmen am Laptop der Blick auf Originale geworfen werden kann in hochaufgelösten Digitalbildern.
Vorstellungen über Archivstaub sollte man, so jedenfalls Dr. Manfred Koltes, schon jetzt vollständig und irreversibel vergessen. Nicht so, jedenfalls bis September nicht, wenn die nächste der aktuellen folgt, die Sonderausstellung im Mittelsaal. Das sind keine Faksimilies dort, das ist echter Goethe, echter Schiller, echter Büchner, um nur drei aufzuzählen. Ich habe, drei reicht nicht, natürlich auf Heines Vorschläge zu Immermanns „Tulifäntchen“ geschaut, Hebbel auch da, dessen zweihundertsten Geburtstag 2013 wir stracks entgegen leben. Da ist schon mal eine Sonderschau denkbar, auch Büchner hat 2013 den zweihundersten Geburtstag, dem zu Goethe wenig, zu Schiller etwas mehr einfallen wollte. Die Meditation über Weißtöne im Mittelsaal verkneife ich mir, ich habe mit Interesse gelauscht, als ein Mann fragte, wer denn Julius Petersen gewesen sei. Dessen Bibliothek von da nach da, Spiegelprinzip, gewandert ist, das hatte mit Sonneneinstrahlung zu tun. In den Saal passen 80 Leute bei Vorträgen. Vielleicht halte ich da mal einen, wenn ich den großen Archivberichterstattungspreis der Gottlieb-Wendehals-Stiftung erhalten habe. Oder später.