Ilmenauer Donnerstag

Schön ist er, so warm schon um 8.07 Uhr, als ich das Haus verlasse, dass ich sicher bin, im Amtsgericht bereits mit am Rücken klebenden Hemd anzukommen. Während ich noch am Briefkasten beschäftigt bin, nutzt eine der üblichen dicken Frauen mit ihrem bräunlichen Kombi den ihr nicht zustehenden Mieterparkplatz direkt vor meinem Eingang, mustert mich kurz und eilt dann zum Plattenbau Keplerstraße 1, soweit sie eilen kann, man soll nicht lästern. Ich nutze wie immer an Donnerstagen die Stufen zur Ernst-Abbé-Straße, leichtfüßig im Gedanken an den alten Sozialdemokraten Bartnik, der mit meiner einstigen Tanzstundenpartnerin verheiratet ist und eine wunderbar rauchintensive Heizung betreibt, den ich gestern mit Feldherrengeste im Fernsehen auf einer Brücke stehen sah, um der geneigten Zuschauerschaft zu zeigen, wo nun doch kein Haltepunkt Wümbach entsteht. Das wäre, ich gebe es zu, eine schlichte Katastrophe für die zahlreichen Bahnfreunde, die sich seit Jahren darauf freuen, mit dem Pendler nach Wümbach zu reisen, um dort in einen Nicht-ICE zu steigen. Unsereiner ist seit 1990 exakt dreimal mit dem Zug gefahren, soweit es nicht die Tour nach Arnstadt betraf, die sich vom Hauptbahnhof Ilmenau und später vom Haltepunkt Pörlitzer Höhe bewältigen ließ. Auch diese drei Fahrten, nach Geraberg, nach Mönchengladbach und nach Mönchengladbach, waren nicht geeignet als Motiv, in den schwarzen Block der Haltestellen-Befürworter überzuwechseln.

Günter aber war nur der optische Übergang zu meiner neuen Landrätin, ohne Sonnenbrille im Haar diesmal entfaltete sie eine Karte und sprach so schön von den kommenden Kosten eines Haltepunktes, falls der Haltepunkt jetzt nicht, sondern erst später gebaut würde, dass ich dann doch schon wieder ein bisschen näher rückte an diese wunderbare Idee. Einst besuchte ich als Pressemensch in gewissen Abständen den Haltepunkt Niederwillingen, der neu gebaut wurde für den großen Bedarf an dieser Bahnstrecke. Es drängelten sich Massen von bis zu einem Fahrgast immer danach, endlich einmal das eigene Auto stehen lassen zu können. Es wurden wunderschöne Reden gehalten, der Landrat kam damals noch aus Stadtilm und war berühmt für sein herrlich sonores „Sooo“, welches sein unmittelbares und höchstselbiges Erscheinen ankündigte.

Die dicke Frau mit dem dicken Hund begegnet mir auf Höhe der Abfallcontainer, wo sie mir immer begegnet. Die Bauschaffenden, die IWG-Wohnungen aufmotzen seit Wochen, blockierten wie immer nicht nur die paar Parkflächen da unten, sondern erschweren auch die Passage des Fußwegs, den sie mit Waschbecken und Toilettenschüsseln verstellen. Würden sich die Kleintransporter die Treppen hinauf in die Wohnungen fahren lassen, wo die Handwerker arbeiten, würden die Kleintransporter in diesen Wohnungen stehen, leider sind die Wendeschleifen auf den Treppenabsätzen zu eng, der Gegenverkehr ungeregelt. Der Holunder an der Sparkasse blüht nicht mehr, an der Brauerei rankt sich, wenn ich meine biologischen Hilfsschulkenntnisse richtig anwende, echter Hopfen. Auf dem Asphaltweg am Sportplatz kommen mir nicht alle der üblichen Radfahrer entgegen, denn auch an der Assisi-Schule sind jetzt Ferien.

Wie immer ist die Fußgänger-Ampel an der Feuerwehr auf Rot geschaltet, ich begehe mein donnerstägliches Verkehrsdelikt, obwohl ich Verständnis dafür habe, dass die Programmierer hier der farblichen Abstimmung mit dem Anrainer den Vorrang gaben vor der üblichen Abwechslung von Rot, Gelb und Grün. Es gelingt mir, noch vor der Katholischen Kirche die Straßenseite zu wechseln, die mir dort sonst begegnende sehr dicke Frau ist heute nicht zu sehen. Vielleicht schmilzt sie auf Ibiza wie Schwager Ralf nebst Familie. Eine Kurzberockte ersteigt die Gerichtsstufen vor mir, die freundliche Frau an der Wache ruft mir hinterher, es fänden heute keine Verhandlungen statt, die Richterin sei krank. Dergleichen freut mich an warmen Tagen noch weniger als an kühlen. An der Tür der Geschäftsstelle hängt ein Zettel, man solle sich bei 3.09 melden. Bei 3.09 hängt ein Zettel, man solle sich bei 3.10 melden und 3.10 ist zu. Die Kurzberockte betätigt ihr Handy, um irgendwem mitzuteilen, dass sie vor verschlossener Tür stehe, das Leben ist hart und grausam, meistens beides zugleich. THÜRINGER ALLGEMEINE wird also exakt fünf Gerichtsberichte weniger in den Vorratsordner speichern können für den terminarmen August, unsereiner muss dreistelligen Honorarverlust buchen (niedrigster unterer Bereich, also kein Neid!).

Immerhin sind die Schindler-Semmeln, die ich wie jeden Donnerstag erwerbe, noch mit Restwärme gesättigt, zwei Rettungswagenfahrer lassen sich Frühstücksbrötchen anfertigen, weil die fertigen, die hinter Glas liegen, nicht ihren speziellen Wünschen entsprechen. Zwischen Kirche und Pfarramt hindurch passiere ich die öffentliche Toilette mit den Edelstahltüren, ein Mann mit zwei Krückstöcken wirft mir leidende Blicke entgegen, die Krückstöcke selbst verhalten sich neutral. Ich eile nach dem üblichen Klingeln die Treppen zur Redaktion empor, um den Ausfall der Gerichtsberichte mitzuteilen, der junge Mann, der als einziger schon da ist, weiß es bereits und hätte mich angerufen, wenn er meine Telefonnummer gehabt hätte. In diesem Beruf, wo bisweilen hart und investigativ recherchiert wird, sind einfache Suchhandlungen wie der Griff zum öffentlichen Telefonbuch nicht mehr Standard. Umsonst war mein Weg dennoch nicht, denn ich muss ja auch meine Zeitungen mitnehmen, die im Mühltor-Center auf mich warten.

Ich kaufe, um dies offene Geheimnis zu lüften, eine ZEIT, eine BERLINER ZEITUNG und ein NEUES DEUTSCHLAND. Ich treffe einen Feuerwehrmann ohne Uniform, dessen Diplomarbeit ich beinahe einmal betreut hätte gegen ein übrigens auch dreistelliges Honorar, das mir die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gezahlt hätte, wenn der erste Arbeiter- und Bauern-Staat auf deutschem Boden nicht seinen etwas engen Geist aufgegeben hätte. Der Mann ist jetzt ohne Diplom, ich habe den damaligen Honorarausfall deutlich besser verkraftet als den heutigen. Der Mann, der die halben Hähne verkauft, die sich schon am frühen Morgen auf ihren Spießen drehen, unterhält sich mit einer Frau über Menschen, die schon am frühen Morgen Bier trinken an Kaufhallen. Die Biertrinker reden vermutlich über halbe Hähne, die sie sich vor Überweisung der nächsten Hilfe zum Lebensunterhalt in der kommenden Woche nur schwersten Herzens leisten könnten, auch muss man an Hähnen deutlich mehr kauen als an Bier.

Auf dem Heimweg passiere ich die Bahnhofstraße 19a, wo jetzt Schülern geholfen wird, mein kleiner Büroerker ist noch da, wie weit die Feuchtigkeit im Keller, der einst nach Siebenpfeiffer benannt wurde, schon gestiegen ist, ahne ich nicht. Am neuen Hotel wird emsig gearbeitet. Eine Gruppe kleiner Radfahrerinnen passiert die große Kreuzung am Busbahnhof, einer fällt eine Trinkflasche aus der Halterung und es gibt eine lebensgefährliche Situation. Zum Glück sind heute nur vorausschauende Kraftfahrer unterwegs in diesem Bereich, alle Kinder und die Flasche überleben. „Du nervst“ wird das kleine Mädchen von einem etwas größeren kleinen Mädchen angebrüllt, dann geht das Leben weiter. Wie ich halt auch. In Höhe des Fiat-Autohauses bedaure ich, dass das letzte Wahlplakat von Dr. Benno Kaufhold nun doch in die ewigen Jagdgründe gegangen zu sein scheint. Es hing so schön hoch und durchgängig seit den Wahlen, seit den Stichwahlen natürlich ebenfalls und nach der Niederlage, seither also durchgängig und die ersten drei Wochen der neuen Landrätin auch. Da war das Plakat dann schon geknickt und zuletzt hing es kopfunter. Man soll Symbolik nicht übertreiben.

Die mit Kreide geschriebenen Angebotspreise des Jäcklein-Getränkemarktes waren heute nicht ihrer ersten Ziffer beraubt. Der wischende Schelm, der so seinem Kasten-Wunschpreis Gestalt verleiht mit schöner Regelmäßigkeit, könnte im Urlaub sein oder er fand seine immer gleiche Idee nun nicht mehr lustig, vielleicht hat ihn sein Hund gebissen oder sein Nasenring hat eine Entzündung verursacht, falls er denn mit Hund und Nasenring ausgerüstet ist. Der ehemalige Sowjetbürger, der am Laptop auf dem Balkon sitzt, ob es regnet oder schneit, ob Tieffliegerangriffe oder geschossene Fußbälle drohen, die einen eher selten, die anderen eher nie, sitzt am Laptop. Die Treppe nach oben ist die Treppe nach unten, nur wird sie nun von mir in umgekehrter Richtung begangen. Vor meiner Haustür ist die eine dicke Falschparkerin von einer anderen abgelöst worden. Die nutzt zur Hälfte den Motorradparkplatz ganz vorn. Es lebe IKL. In der Wohnung überrasche ich meine Frau mit einem Anruf, mit dem sie frühestens fünf Stunden später gerechnet hätte. Danach rufe ich die Bundesagentur für Arbeit an. In meiner Eigenschaft als freiwillig Versicherter. Mal sehen, ob ich in diesem Jahr wieder eine AGENTUR-BLÜTE verfassen kann, das war ein früher Shooting-Star unter meinen Texten.


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