Schütteln in der Festhalle (2)
Sigurd Schwager wirft, weil sein Goldberg sich rar macht, die Frage auf, bis wann sich denn eigentlich Neujahrsempfänge Neujahrsempfänge nennen dürfen. Das wäre, meine ich, eine lohnenswerte Aufgabe für das Europa-Parlament oder auch ein Wahlkampfthema für eine kleinere Partei, die noch nicht richtig breit ist, ehem, breit aufgestellt ist. Mir ist das also ziemlich wurscht, solange mich die Einladung in alter Freundlichkeit erreicht. Ich kenne den Oberbürgermeister schon so lange und wenn er mich einlädt und dabei auch noch andeutet, es gebe was zu Knuspern nach den Reden, dann bin ich fast unbegrenzt bereit, tatsächlich zu erscheinen. Nach dem vorjährigen Wechsel von links außen zur linken Mitte gab ich dem sanften Druck der mit mir seit Jahren gemeinsam steuerlich veranlagten Dame ohne Hündchen nach und vollzog erneut einen, wenn auch altersgemäß gemäßigten, Platzwechsel.
Vorwegnehmend erkläre ich, dass die Zahl derer, deren Anblick mich erfreut, wenn ich in der Festhalle wandele, radikal deutlich die Zahl derer übertrifft, deren Angesicht, um es nicht Visage nennen zu müssen, stimulierend auf meine Brechwürgemuskeln ausstrahlt. Zum Beispiel freue ich mich, wenn ich den nunmehrigen Ehrenbürger der Stadt Ilmenau, den nicht promovierten Oberarzt Helmut Krause, erblicke, mit dem ich, wie man so sagt, die Schulbank drückte für eine gewisse Weile, was der Schulbank wahrscheinlich eher gleichgültig blieb. Der Hinweis auf den akademischen Dingsbums fällt übrigens nicht aus Stolz oder gar Überheblichkeit meinerseits, was olle Helmut auf alle Fälle versteht und der Rest ist ja schließlich nicht Ehrenbürger geworden. Also, wenn sich alle neben ihrer Arbeit, die zirka 23 Stunden pro Tag beansprucht, weitere 25 Stunden pro Tag so engagieren würden wie dieser Helmut Krause, hätten wir auf der Erde wahrscheinlich schon die ersten Asylbewerber vom Alpha Centauri wegen hochgradiger Paradieshaftigkeit dieses angeblich von außen gesehen ziemlich blauen Planeten.
Ansonsten bedauere ich, dass ich nicht Trendforscher geworden bin. Dann könnte ich heuer mir auf beide Schultern klopfen, denn der Trend, dass Oberbürgermeister Gerd-Michael Seeber mit fortschreitender Jugend immer mehr Neigung zu den großen Themen dieser Welt und immer weniger zu den gewöhnlichen Abwassergebühren zeigt, hat sich fortgesetzt, als wäre er ein Börsenwert. Also es ging um China, um die Kanzlerin, die ein Segen sei, um Russland und vor allem darum, dass er meine, es sei sehr gut, wenn niemand mehr glaube, am deutschen Wesen die Welt genesen lassen zu müssen. Da auch ich dazu neige, die Weltlage mit einem gewissen philosphischen Realismus zu betrachten, welcher wohl die Folgerung zulässt, das zweikommafünf Milliarden Chinesen und Inder eventuell auf die Idee kommen könnten, dreihundertfünfzig Millionen Europäer seien nicht wirklich wichtig für den Fortbestand der Welt, aber auf eben diesen Gedanken bisher glücklicherweise noch nicht gekommen sind, bin ich sehr OB-nah unbedingt dafür, die Besserwisser- und Maulaufreißerrolle doch lieber anderen zu überlassen, sie steht uns einfach nicht gut zu Gesicht.
Dann war da noch die Wachablöserei. Zuerst durfte Neubürgermeister Kay Tischer den Teil Begrüßung der Gäste übernehmen, was er mit dem Hinweis, er sei der neue Volker Acker, begründete, wobei jener Volker, der außerdem einen, so Tischer, gut bestellten Acker hinterlassen habe, nie tun musste oder durfte oder wollte. Volker Acker ist, es sei ausdrücklich gesagt, nicht in die Ilmenauer Geschichte als großer Rhetoriker eingegangen. Kay Tischer dagegen ist rechtzeitig genug Bürgermeister geworden, um nicht noch einmal aus Verlegenheit bei Gericht einen Befangenheitsantrag gegen eine vollkommen unbefangene Richterin stellen zu müssen. Die erklärende Vermutung der gewöhnlich gut unterrichteten Kreise, sein Wahlkampf habe zuviel Kraft und Konzentration gekostet, muss im Reich der Vermutungen verbleiben, was ja nicht der schlechteste Aufenthaltsort ist.
Marion Mertin, vorjährig schon durch das Weglassen ihrer alljährlichen Redelängenanspielung aufgefallen, fiel dieses Jahr dadurch auf, dass sie jetzt Ingolf Preiß heißt. Auch andere Gäste wechselten ihre Namen: Hans-Christian Köllmer hat sich in Alexander Dill verwandelt, Benno Kaufhold wurde Petra Enders und hatte plötzlich eine Locke aus der Stirn zu schieben. Karl-Heinz Kräuter aus Wetzlar ist immer noch Karl-Heinz Kräuter aus Wetzlar und hält immer noch die letzte Rede vorm kalten Buffett. Falls der Hessentag mal in Ilmenau stattfinden sollte, müssen wir mit einem Minus von fünf Millionen Euro rechnen, aber mit einem Investitionsplus von siebzehn Millionen Euro. Das hört man gern in der Stadt der Terminals A und B, in der unter vorläufigem Ausschluss der Öffentlichkeit dem Hermann Töpfer schon die nächsten Projekte auf die Agenda geschoben werden, was er mit Schweigen und Augenzwinkern auf Nachfrage kommentiert.
Um das heimische Taxi-Gewerbe zu stärken und den enthemmteren Genuss von Rotkäppchen Riesling trocken respektive Spätburgunder trocken zu ermöglichen, haben wir das private Automobil in den vorzeitigen abendlichen Ruhestand versetzt. Mehrere Gespräche in den Räumen der Festhalle hatten vorzeitige Ruhestände zum Gegenstand. Ruhephasen der Altersteilzeit hätten noch vor wenigen Jahren nicht unser primäres Interesse gefunden, jetzt aber wollen reihenweise alter Bekannter unter die Gärtner, Angler oder Gutbuchleser gehen, sich mehr Zeit für Gattin, Hund und Enkel nehmen und was man so sagt. Ich habe nach Kräften Werbung gemacht für ein Produkt, mit dem ich in Bälde den Markt zwar nicht überfluten aber doch wenigstens bestücken will, was teilweise auf lebhaftes, teilweise auf geheucheltes Interesse stieß. Zwei Bürger fragten zielgerichtet nach dem gemeinten Druckerzeugnis, eine Bürgerin bot sich als Laudatorin an, falls es einmal nötig sein sollte, eine Laudatio auf mich zu halten.
Wegen des Anteils von Spätburgunder in meinem Blut sowie der Tatsache, dass die meisten meiner Fans in Neuseeland und am Bodensee nach Mitternacht zwar gern Theaterkritiken von mir lesen, nicht aber Nachrichten von Ilmenauer Neujahrsempfängen, habe ich zu meinem Schreibehrgeiz gesagt: Ruhephase, wenn auch ohne Altersteilzeit. Morgen ist auch noch ein Tag. Der heutige halt. Und für Christina Rommel muss ich nicht Werbung machen, die ist schon ohne mein Zutun in der Zeitung. Als Diabetiker bekenne ich, dass Lieder über Schokolade Schokolade nicht vollwertig ersetzen, dennoch besser wirken als Lieder über roten Paprika und tiefgefrorene Himbeeren.