Mein Glück mit Anselm Glücksmann
Der 30. Juni 1989 war ein Freitag. Für mich der vorletzte Prüfungstag, der dritte der letzten Juniwoche. Damals wurde auch, wie ich meinem Kalender entnehme, am Sonnabend geprüft, am Ende hatte ich wohl 150 Prüflinge hinter mir. Es wäre ein hübsches Nebenthema, die Psychologie des Prüfens zu erinnern. Fragen zu beantworten wie: Hat es der letzte Prüfling vor der Mittagspause schwer oder leicht? Hat es der erste Prüfling nach der Mittagspause leicht oder schwer? Wie hoch war der Anteil an Studentinnen, die es tatsächlich mit einem zusätzlichen offenen Blusenknopf versuchten? Ich erinnere mich an einige dieser eifrigen Mädchen, die in den Konsultationen vor der Prüfungszeit 20 und mehr handschriftlich ausgearbeitete Seiten vorlegten, um in Erfahrung zu bringen, ob der Text gut genug sei, ihn nun zu lernen, sprich: auswendig zu lernen. Wie oft habe ich geraten, nur Sätze zu sagen, die man selbst verstanden hat, es schütze vor Zusatzfragen?
An Freitagen gab es für mich 1989 zwei- bis dreimal die Woche eine Veranstaltung in der „Alten Försterei“. Dort hatte der Kreisverband des Kulturbundes seinen Sitz nach dem Umzug aus den vorherigen Räumlichkeiten in der Marktstraße, dort saß auch der „Klub der Intelligenz Ilmenau“, der schon fleißig arbeitete, ehe er am 16. September 1989 auch förmlich und offiziell begründet wurde. Das Februar-Programm von 1990, das letzte gedruckte, enthält noch einmal abschließend das damalige Personaltableau: Klubvorsitzender: Dr. Eckhard Ullrich, Freischaffender Autor; Stellvertreter: Dr. sc. Dagmar Schipanski, Dozent; Klubsekretär: Ulrich Thierbach; Leiter der Klubgaststätte Andreas Becherer. Am 30. Juni 1989 hatte ich die Aufgabe, einen Gast aus Berlin zu begrüßen, der mit seiner Frau anreiste: Doz. Dr. jur. Anselm Glücksmann. Thema des Abends: Der lange Weg nach Hause, es ging um seine Emigrationszeit in Mittelamerika. Glücksmann war 1939 aus der Schweiz kommend in Honduras gelandet. Wolfgang Kießlings „Exil in Lateinamerika“, 1980 und 1981 in beiden deutschen Staaten erschienen, widmet Glücksmann immerhin einige Seiten, obwohl er kein kommunistischer Emigrant war.
Wie komme ich jetzt auf ein Ereignis, an das ich auch bei großer Gedächtnis-Abfrage in der Hauptsache keinerlei Erinnerungen mehr abrufen kann, sehr wohl aber an das Gespräch danach? Es liegt auf meinem Arbeitstisch eine Rezension zu einem Buch, das im mir bis dahin unbekannten Alibri Verlag erschien, Verfasser der 1949 geborene Horst Groschopp, Rezensent der 1940 geborene Siegfried Prokop. „Nische und Ankerplatz“ steht über dem Dreispalter, den die verantwortlichen Redakteure von NEUES DEUTSCHLAND in ihrer Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse 2014 auf der Seite 19 einrückten. Normalerweise überblättere ich die Sachbuchseiten in dieser Beilage nur kursorisch, denn im Sachbuchteil gehen die sonst durchaus vorhandenen Tugenden des nicht-affirmativ-nostalgischen Blicks auf die DDR signifikant häufiger verloren als auf den anderen Seiten der teuersten Tageszeitung des Landes.
Hier aber sah ich die Unterzeile: „Horst Groschopp berichtet über den Freidenker-Verband der DDR“. Groschopp war, wie man seiner Homepage entnehmen kann, Mitbegründer des Verbandes, was der Rezensent aus unbekannten Gründen verschweigt. Am 6. Dezember 1988 hat es es einen Politbüro-Beschluss gegeben zur Gründung des Verbandes, am 7. Juni 1989 wurde er dann auch tatsächlich gegründet. Jüngeren Lesern sei gesagt, dass in der DDR aufgrund ihrer zentralistischen Verfasstheit kaum etwas von Bedeutung geschah, was nicht vorher über die Tische des Politbüros (des Zentralkomitees der SED) lief. Nach der Wende erfuhr man, dass die Rentnerbrigade, die sich da allwöchentlich an Dienstagen versammelte, bis zu 80 und mehr Vorlagen zu bearbeiten hatte. Man ahnt, wie tief bei den einzelnen Mitgliedern die Sachkenntnis verankert war, die zur schließlichen Beschlussfassung führte.
Der Rezension entnehme ich, dass die Neugründung die erste DDR-Neugründung nach 23 Jahren war, Vorläufer, wenn man das so nennen will, war der Verband der Theaterschaffenden. „Das war für viele Zeitgenossen schon eine Überraschung, die umso größer ausfiel, als dieser Verein „freies Denken“ zu erlauben versprach. Kein Wunder, dass er es in kürzester Zeit auf 12.000 Mitglieder brachte.“ Man muss schon sehr tapfer sein für die Annahe, dass es eines Vereines bedurfte, um frei zu denken, das ist auf seltsame Weise eher eine westliche Logik, der zufolge Freikörperkultur eine Vereinssache ist mit Satzung und Schatzmeister, die DDR hatte mit deutscher Vereinsmeierei eigentlich weniger am Hut, was keineswegs nur schlecht war. Wer je das Pech hatte, etwa als Journalist Vereinsneugründungen mit dazu gehöriger Satzungsdiskussion durchleiden zu müssen, versteht sofort, was ich meine. Weiter im Rezensionstext: „Jedoch wurde der Höhenflug rasch gestoppt. Bürgerrechtler verhängten am Runden Tisch das Verdikt über die DDR-Freidenker, eine „Stasi-Organisation“ zu sein.“
So weit ich mich erinnere, waren die Runden Tische nicht Einrichtungen zum Verhängen von Verdikten, sondern eher dazu da, Konfliktlagen in moderierter friedlicher Debatte zu entschärfen oder gar zu lösen. Wie gut das jeweils gelang, wie diese oder jene Meinung rezipiert wurde in Medien und Öffentlichkeit, steht auf einem anderen Blatt. Genau hier ist die Stolperstelle für mich. Und ich kann den Bogen zu Anselm Glücksmann zurück finden. Im „Klub der Intelligenz Ilmenau“, der neben seinen Mitgliedern ein solides kleines Stammpublikum hatte und außerhalb von Kirchenräumen der einzige öffentliche Ort war, wo ziemlich offen und ziemlich kritisch auch über sehr brennende DDR-Probleme gesprochen wurde, gab es ein harmloses Ritual: man setzte sich anschließend zusammen, um noch weiter und auch vom Thema des Abends unabhängig zu diskutieren. Wir kamen offenbar folgerichtig auch auf den neuen Freidenker-Verband zu sprechen. Vielleicht gab ich sogar den Anstoß dazu, denn ich war, wann genau, weiß ich nicht mehr, auch nicht, von wem, gefragt worden, ob ich nicht eventuell den Kreisvorsitz übernehmen würde.
Ich weiß ganz sicher, dass die Frage nicht von der Staatssicherheit kam, obwohl die nach meiner Aufnahme in der Bezirksverband Suhl des Schriftstellerverbandes der DDR lebhaftes Interesse für mich entwickelte und im Verlauf des Spätsommers und des Herbstes ziemlich ausdauernd versuchte, mich anzuwerben für eine Tätigkeit, von der ich später erfuhr, dass sie „Experten-IM“ genannt worden wäre. Es hat am Ende nicht geklappt, der letzte werbende Kassiber des für mich zuständigen Feldwebels Olaf I. fand sich noch im Januar 1990 in meinem Briefkasten. Der Mann ist eines schlimmen Todes gestorben, was mich sowohl nach meiner Akteneinsicht 1993 und auch später davon abhielt, Geschichten darüber öffentlich zu machen. Ich traf ihn noch einmal, als er in Arnstadt ein Fotogeschäft betrieb und sich äußerlich vollkommen verändert hatte. Mich wundert noch heute, dass er unter seinem tatsächlichen Namen agierte.
Es wäre unehrlich, würde ich behaupten, ich hätte sofort und rundheraus abgelehnt. Denn ich war der sicher nicht unbegründeten Ansicht, dass mir in meiner am 1. September 1989 beginnenden Freiberuflichkeit öffentliche Präzenz keinesfalls schaden könnte. Inzwischen wissen selbst die Ahnungslosesten, dass das, was wir uns eine Weile als alte oder sonst gefährliche Seilschaften um die Ohren hauen lassen mussten, heute unter dem neutralen Namen Netzwerk zur Grundsubstanz des Lebens gehört. Man wird ohne Netzwerk weder in einen Kreistag gewählt noch zu einer Lesung in eine Schule eingeladen, man darf nicht auf eine Parteikarriere hoffen oder auf einen Auftrag einer Redaktion. Die ausschließende Funktion von Netzwerken ist sicher größer als die einbeziehende. Man kann sich das schönreden. Ich wäre also bereit gewesen, ein Freidenker zu sein. Ob man mir im leider vergessenen Gespräch eine „Nische für kritischen Disput“ ausmalte, wage ich zu bezweifeln, ebenso die mögliche Aussicht, es werde „unzufriedenen Bevölkerungsgruppen ein Ankerplatz geboten“.
Solche Phrasen hätten mir vermutlich Tränen in die Augen getrieben und ich hätte keine Sekunde gezögert, sofort und umstandslos nein zu sagen. Als eine „Art Gegenkirche“ dagegen wurde mir der Verband ziemlich sicher schmackhaft gemacht, da lag ja wohl auch am ehesten die Tradition des Freidenkertums. Leider aber entwickelte sich unsere Rotweinrunde in der Ilmenauer „Alten Försterei“ rasch zu einer frappierenden Vertrautheit und Vertraulichkeit. Und so hörte ich, dass auch Anselm Glücksmann in Berlin wie ich gefragt worden war, für welche Position, weiß ich nicht mehr. Und als er das erzählte und zugleich hörte, ich sei ebenfalls angesprochen worden, bekam er ein beschwörend ernstes Gesicht und sagte ziemlich wörtlich: „Um Gottes Willen, lassen Sie die Finger davon, der Laden ist komplett von Stasi durchsetzt.“ Der Runde Tisch kann es also nicht erst gewesen sein, der den Höhenflug beendete, denn es wäre höchst wundersam, wenn nur im popligen Ilmenau neben Berlin in dieser Sache Klarsicht geherrscht hätte. In Ilmenau fand sich ein Schuldirektor für den Vorsitz, der dann die erste „nachwendliche“ Evaluierungsrunde an seiner Schule nicht überstand. Was das bedeutete, habe ich nicht zu kommentieren.
Wohl aber kann ich mich von der ND-Rezension nur schwer trennen. „Da die Archive des Verbandes verschollen sind, haben sich die Herausgeber auf eine mühsame Spurensuche begeben müssen.“ Wie ist denn das um alles in der Welt passiert? Hat ein Mitbegründer tatsächlich keinerlei aussagekräftiges Material in seinen privaten Unterlagen? Warum sind Unterlagen eines angeblich stasifreien Vereines vollständig verschwunden, nicht aber die Unterlagen einer Behörde, die wochenlang Aktenvernichtungsorgien organisierte, solange sie es konnte? „Die angebliche MfS-Verstrickung konnte widerlegt werden, reduziert sich auf eine interne Stasiinformation über den eingangs genannten Politbürobeschluss.“ Wer das glaubt, muss sich mit ganz großer Sicherheit seine Hose täglich mit vier bis neun Kneifzangen hochziehen. „Plausibel wird erklärt, warum es in der SBZ/DDR zu keiner Wiedergründung kam; zurückgewiesen wird das Fehlurteil, dass es ein Verbot gegeben habe.“ Ob es Verbote gab oder nicht, ist noch nie eine Frage von Urteilen oder Fehlurteilen gewesen. Da gibt es Dokumente oder keine. Und was ist die plausible Erklärung?
Jenes Ministerium, das auf die harmlosesten Provinzlyriker, die einmal das Wort Mauer in eines ihrer Gedichte einbauten, IM-Scharen ansetzte, sollte bei einem neuen Verband, der quasi eine Opposition unter selbst geschaffenen Labor-Bedingungen beobachtbar machen würde, unbeteiligt gewesen sein, jenes Ministerium, das, wie sich bald nach der Wende herausstellte, alle neuen Parteien so intensiv unterwandert hatte, dass ihre Vorsitzenden gleich reihenweise enttarnt werden konnten? Welche ND-Leser soll hier auf den Arm genommen werden? Ob die Neugründung des Verbandes der Freidenker der DDR (VdF) tatsächlich der letzte Versuch einer SED-Offensive war, bezweifele ich schon aus dem Grund, weil diese Partei, die ja nicht erst im Sommer 1989 durchweg gelähmt wirkte, zu Aktivitäten, die den Namen Offensive verdient hätten, gar nicht mehr in der Lage war. Eine Partei, die die verbal immer als Bündnispartner apostrophierte Schicht der Intelligenz mit einem Urmisstrauen beobachtete und bei jeder sich bietenden Gelegenheit so behandelte, dass es heutigen Begriffen von Diskriminierung durchaus nahe kam, hatte mit albernen Maßnahmen wie einem spät ins Leben gerufenen Edel-Parteilehrjahr für Akademiker in der Partei oder einem so oder so konstituierten Auffangbecken kaum wirkliche Erfolgschancen. Insofern wäre selbst die Geschichte des „Klubs der Intelligenz Ilmenau“ einmal ein Forschungsthema.
Anselm Glücksmann hat, wie ich leider jetzt erst sehe, sich große Verdienste um das Urheberrecht erworben, er lebte vom 31. Juli 1913 bis zum 8. September 1999, vertrat im höchsten Alter noch die Veranstalter der Love Parade gegen den Senat von Berlin. Sein Buch „Theorie und Praxis der Pressearbeit“ aus dem Jahr 1962 ist in den Antiquariatsnetzwerken des World Wide Web derzeit nicht im Angebot. Bis ins große zweibändige Lexikon „Wer war wer in der DDR?“ hat er noch nicht gefunden, da bleibt dem Christoph Links Verlag noch eine Aufgabe für spätere Auflagen. Gern wüsste ich, ob Anselm Glücksmann uns am 30. Juni 1989 auch erzählte, dass er der Schwager des berühmt-berüchtigten Chemie-Nobelpreisträgers Fritz Haber war, der als Jude seit 1933 in Cambridge lehrte und Glücksmann riet, sein begonnenes Studium in Madrid fortzusetzen. Ich erinnere mich nicht mehr. Empfand es aber damals wie heute als ein Glück, ihn getroffen und ziemlich lange gesprochen zu haben.