Helmut Sakowski 100

Den Sozialismus, wie er war, hat er eher nicht beschrieben. Den Sozialismus, wie er gern gewesen wäre, wenn man ihn gefragt hätte, dafür ganz nett. Man kann das ohne alles Vorgruseln durchaus genießen, phasenweise auf jeden Fall, textweise oder auch nur textteilweise. Helmut Sakowski war ein Schriftsteller, den man nicht lesen musste. Denn er kam über den Bildschirm. Oder aus dem Radio. Was ihm früh satte Honorare brachte und in den Jahren von 1959 bis 1972 satte vier Nationalpreise. Er war somit etwas wie der Rekord-NPT. Dass er Neid auf sich zog, vor allem da, wo man sich literarisch himmelhoch über ihm siedeln sah, versteht sich. Sakowski hat den Neid natürlich gespürt und versucht, ihm mit Ironie und Selbstironie beizukommen. Sakowski schreibe für Lieschen Müller und Wogatzki für Doktor Lieschen Müller, sagte er mindestens zweimal in mindestens zwei Reden. Sakowski war auch ein Redner, gab sein Debüt an einem 1. Mai. Er sprach auf vier Schriftstellerkongressen, auf einer Konferenz des Staatlichen Komitees für Fernsehen beim Ministerrat der DDR. Sein Höhenflug war einer der sechziger Jahre, als der Fernsehroman erfunden wurde und in der DDR die Vier- und Fünfteiler Konjunktur hatten, die Straßenfeger des Ostens.

Dass die DDR Schauspieler hatte, wusste man im Westen nicht durchgehend, Fernsehzuschauern in der DDR musste das niemand beweisen. Sie spielten ja ständig vor aller Augen: im DEFA-Film, im Fernsehfilm oder -spiel, es gab ein hochkarätiges Ensemble, das nur noch über die Bildschirme zum Publikum kam und viele natürlich, die auf den Bühnen des Kleinstaats unvergesslich agierten. In „Der Musenkuss“ erzählt Sakowski, wie ihm Gisela May um den Hals fiel, ihn küsste. Gerade hatte er sie als Melkerin Lene Mattke erlebt, gerade noch hatte er seine Zweifel flüchtig begraben, die könne so eine Rolle gar nicht spielen, weil sie doch immer nur die Nutten spielte in Berlin. Der Name Brecht fällt nicht bei Sakowski, hier nicht und auch sonst nicht, wenn ich es recht bedenke, Beweise des Gegenteils sind willkommen. Ob Sakowski im Sommer 1957 bewusst war, dass die May nur einen Tag älter war als er selbst, weiß ich nicht. Wie es umgekehrt stand, natürlich auch nicht. Also folgt der 100. Geburtstag von Helmut Sakowski heute dem 100. Geburtstag von Gisela May gestern. „Die Entscheidung der Lene Mattke“ landete 1959 gemeinsam mit „Die Entscheidung der Hanne Glauda“ in einem Büchlein mit dem anspruchslosen Titel „Zwei Frauen“ („die reihe“).

Aus „Die Entscheidung der Hanne Glauda“ wurde später „Das Urteil“, beide Frauen landeten in der ersten umfänglicheren Prosa-Sammlung Sakowskis, „Zwei Zentner Leichtigkeit“. Deren Nachwort-Autor Günter Ebert ebenso zum Neubrandenburger Schriftstellerverband gehörte wie Margarete Neumann und dann auch Brigitte Reimann. Dass Sakowski die Trauerrede für Brigitte Reimann hielt, sei hier nur erwähnt, dass der Mitteldeutsche Verlag sie für seine beiden Bände „Kritik in der Zeit. Literaturkritik der DDR 1945 – 1975“ kürzte, ebenfalls. Ebert äußerte sich auch in „Sinn und Form“ zu „Zwei Zentner Leichtigkeit“. Margarete Neumann nannte ihren Beitrag zum Sammelband „Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller“ (1972) „Was für ein Mensch ist er?“ Da steht dann über Sakowski: „Es gibt Schriftsteller, die, was immer sie geben, sich selbst geben. Er hingegen zieht, was er berührt, durch sich hindurch.“ Er hörte gern Barockmusik, Mahalia Jackson und Manfred Krug. Den er dann, wir erinnern uns bestens, als Hauptdarsteller in seinen Fernsehromanen hatte, solange Manfred Krug noch ein DDR-Schauspieler war, was sich 1977 plötzlich änderte. Sakowski selbst übrigens schrieb damals niemandem eine Liebeserklärung.

Wer sich in DDR-Nachschlagewerken oder sonstigen biographischen Angaben zu Helmut Sakowski umschaut, sieht sich mit einer gewissen Informationsdürre für die frühen Jahre konfrontiert. Erst der kleine Text „Mit Vorliebe Balladen“, veröffentlicht in der Aufbau-Sammlung „Das schönste Buch der Welt. Wie ich lesen lernte“ stieß mich auf die Stadt Gera und ihr Theater und Sakowskis Mutter, die ihn unbedingt davon abhalten wollte, in diesem Theater „Undine“ zu sehen. Bis dahin hatte ich Sakowski immer mit dem Norden, allenfalls der Mitte des Landes in Zusammenhang gebracht. Nun plötzlich Gera. Das Lexikon „Schriftsteller der DDR“ nennt den Geburtsort Jüterbog, danach erst wieder Berlin als erste Ortsangabe. Das ältere „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ in zwei Bänden hielt es ebenso. Ebenso in „Auskünfte. Werkstattgespräche mit DDR-Autoren“. Ebenso in „Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen“. Zitieren wir „Wer war wer in der DDR?“ (Ch. Links Verlag): „Geb. in Jüterbog; Vater Angest., Obersteuerinspektor beim Finanzamt; 1931 – 41 Volks- u. Mittelschule in Gera; 1941 – 43 Ausbildung zum Förster beim Forstamt Katzhütte u. Wasungen/Thür.; Sept. 1942 NSDAP; 1943 – 45 Wehrmacht (Div. »Hermann Göring«); 1945/ 46 Kriegsgefangenschaft in Kyborg (Dänemark).“

Die Verkniffenheit aller DDR-Medien erklärt sich so auf wenig wunderbare Weise: das langjährige Mitglied des ZK der SED, der sozialistische Vorzeigeschriftsteller Sakowski, war, bevor er 1947 in die SED eintrat, auch schon in der NSDAP gewesen, mindestens für drei Jahre offenbar. Die Division „Hermann Göring“ gab es als solche seit November 1942, sie wurde 1944 zur Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring“. Sakowski erlebte dort vier Divisionskommandeure. Ob er als Kriegsgefangener in Dänemark an den heute als Kriegsverbrechen geltenden Minenräumungen am Strand teilnehmen musste, ist meines Wissens nicht belegt, hier wären gesicherte Informationen ebenfalls willkommen. Sicher ist dagegen nun ein zehnjähriger Schulbesuch in Gera sowie die Forstausbildung in Katzhütte und Wasungen. Mithin eine ganze Reihe von thüringischen Jahren. Bei Brigitte Reimann ist nachzulesen, dass Sakowski mit seinem Fernsehspiel „Steine im Weg“ auf dem VI. Bauernkongress sowie auf dem 11. Plenum des ZK der SED im November 1960 öffentlich gerügt wurde: wegen der vermeintlich negativen Figur eines Mittelbauern und damit verbundener „Unklarheit über die Bündnispolitik auf dem Lande“. Erst 1984 folgte die (kuriose) nächste Rüge.

Nachzulesen ist diese Geschichte bei Joachim Walther in „Sicherungsbereich Literatur“ (Ch. Links Verlag): „Sakowski hatte auf der Bezirksdelegiertenkonferenz der SED in Neubrandenburg gesagt: „Wir preisen unsere Heimat, indem wir von den Menschen erzählen, von ihren Taten und auch von ihren Mühen, denn es kann nicht die Aufgabe kämpferischer Gegenwartskunst sein, nur das Eiapopeia vom Sozialismus zu singen.“ Wie einem Schreiben vom 22. Februar von Ursula Ragwitz an Honecker zu entnehmen ist, reagierte Honecker persönlich auf die Darstellung Sakowskis: „... Ich halte eine so politisch verantwortungslose und auch arrogante Darstellung der Funktion unserer sozialistischen Literatur durch ein Mitglied des ZK für unmöglich und habe Genossen Hager eine Abschrift des Beitrages zugeschickt.“ … Auch beim MfS zeigte der zitierte Satz, der in den Unterlagen des MfS unterstrichen ist, verspätet Folgen.“ Natürlich hatten weder der Literaturhistoriker Erich Honecker noch seine Akademie für Verfolgungswissenschaften die geringste Ahnung, dass Sakowski sich quasi selbst aus einem fast zwanzig Jahre alten Text zitierte, aus „Die Aussteuer“ nämlich, 1965 geschrieben und in „Zwei Zentner Leichtigkeit“ nachgedruckt.

Dort fordert ein Reporter in Schwedt ein junges Paar, welches er porträtieren will, auf: „Also, nun packt mal aus Freunde. Und keine Scheu. Ihr braucht mir kein Eiapopeia vom Sozialismus zu singen. Ehrlich! Kritisch!“ Nachwortautor Günter Ebert verriet: „Aktueller Anlass war das 11. Plenum im Jahre 1965. Das Selbstmitleid des Schriftstellers und seine Begründung für die Reportagefahrt – nämlich sein Glück an der Basis zu machen – ergeben eine feine Ironie auf Elfenbeintürmer.“ Erich Honecker hatte 1965 das Vernichtungsreferat gehalten. Dem Schlusswort von Ulbricht ist zu entnehmen, dass Sakowski selbst während des Plenums sprach, den Wortlaut kenne ich leider nicht, auch die Aufbau-Dokumentation über das „Kahlschlag“-Plenum kennt ihn nicht. In „Die Aussteuer“ eingebaut ist ein kleiner Seitenhieb gegen Dieter Noll, was insofern von Interesse ist, dass Sakowskis sonstige Seitenhiebe nicht so leicht zu entschlüsseln sind. 1969 sagte er in einem Interview: „Ein Fernsehautor weiß, dass er die Möglichkeit hat, mit einem guten Stück Millionen Leute aufzuregen oder aber mit einem schwachen Stück zu langweilen. Er setzt sich auf einen Schlag, wie Wogatzki sagt, der Massenkontrolle aus.“ Dem Buchautor gehe es eben nicht so.

„Ich glaube“, so Sakowski im Februar 1969, „es ist das schönste für einen Schriftsteller, wenn er erfährt, dass er von den Leuten wirklich gehört und verstanden worden ist. … Die großen sozialistischen Schriftsteller haben sich nie angebiedert bei irgendwelchen Ästheten auf der anderen Seite, die mit sanften Händen Beifall klatschen.“ Ohne ein freies Verhältnis zum Stoff könne kein Schriftsteller arbeiten: „Aber freies Verhältnis zum Stoff bedeutet nicht, dass der Schriftsteller das Recht und die Freiheit hat, unabhängig von Zeit und Raum mit einer gewissen Hemdsärmeligkeit alles und jedes zu kritisieren.“ Nun hat gerade Günter Ebert verraten, wie sich Sakowski von Fall zu Fall verhielt: nicht nur „Die Aussteuer“ entstand anlässlich eines Plenums des ZK der SED, „Schlechte Zeiten für Mäuse“ zum VII. Parteitag der SED, „Wie sich das Nachdenken ausgezahlt hat“ aus Anlass des 10. Plenums 1969. „Wir Fernsehautoren halten uns überhaupt nicht für die Größten, wie Böswillige das manchmal behauptet haben.“ Sagte er Ende Mai 1969 vor dem VI. Schriftstellerkongress. Und keilte kräftig gegen Weimar aus, wo seiner Meinung nach die Autorin Annelies Paul (29. Mai 1920 – 23. Februar 2009) nicht hinreichend unterstützt worden war.

„Wenn sehr gutverdienende Weimarer Autoren sich damit begnügen, einem Kollegen, der in Not ist, das Geld zu sperren, und sonst nichts tun, dann ist das keine Hilfe. Ich glaube, in unserem Verband in Neubrandenburg, wo wir weiß Gott auch Meinungsverschiedenheiten auszutragen haben, wäre dieser Fall nicht denkbar gewesen.“ Man pflegte, muss man dazu wissen, in Neubrandenburg den Hausgebrauchsmythos vom neuen, vom sozialistischen Weimar. Die Herder, Wieland, Schiller, Goethe der DDR-Gegenwart wären demgemäß nun Joachim Wohlgemuth, Werner Lindemann, Helmut Sakowski, Margarete Neumann und Brigitte Reimann. „Egon und das achte Weltwunder“ reichte dann aber doch nicht ganz an „Wilhelm Meister“ heran, „Ankunft im Alltag“ nicht an „Die Jungfrau von Orleans“. Interviewer Volker Kurzweg war 1969 auf die Rolle der Frauen im Werk Sakowskis aus und erhielt diese Antwort: „Wenn man erzählt, welch große Entwicklung die Frauen bei uns durchgemacht haben, kann man einleuchtend und überzeugungskräftig nachweisen, was sozialistische Gegenwart ist. Jeder Schriftsteller will originelle und interessante Geschichten erzählen, und derjenige Schriftsteller ist nicht klug, der sich diese Möglichkeit entgehen lässt.“

1988 brachte der Verlag Neues Leben Berlin, Sakowskis Hausverlag bis dahin, das schmale Buch „Die letzte Hochzeit“ heraus, auf 166 Druckseiten zwei Hörspiele und drei „Lebensgeschichten“, so der Untertitel für alle fünf Texte. Die beiden Hörspiele waren 1987 und 1988 mit dem Hörspielpreis ausgezeichnet worden, die drei in Ich-Form erzählten Geschichten porträtieren den Vorsitzenden einer LPG, Erhard Sawall, eine Kommunistin und KZ-Überlebende, Irmgard Konrad, und einen General der Staatssicherheit im Ruhestand, Gustav Szinda. Damit dürfte Helmut Sakowski der einzige Autor der DDR gewesen sein, der einen leibhaftigen hochrangigen Mann des Ministeriums auf Wunsch des Ministeriums in eine gewissermaßen literarische Figur verwandelte. Es gibt auch einen separaten kleinformatigen Druck dieses stilisierten Selbstporträts eines Neunzigjährigen, das, wie es da steht, mehr über die DDR und ihre affirmative Literatur sagt, als vielseitige und meist ahnungslose Studien. Denn der alte General ist ja eben nicht verlogen, das wäre zu einfach, um schön zu sein: er glaubt, was er sagt. Und Helmut Sakowski gibt nicht den geringsten Fingerzeig, dass nicht auch er glaubt, was der noch im höchsten Alter sexprotzerische General a.D. glaubt.

Die beiden Hörspiele, „Schrei der Wildgänse“ und „Die letzte Hochzeit“ haben ihre Preise verdient, meine ich, auch wenn ich sie nur las und nicht hörte. In der Dankrede für den Preis von 1987 sagte Sakowski: „Das Hörspiel, diese junge, sehr bescheidene, sehr besondere Form der Literatur, sendet, glaube ich Botschaft, die gültig ist von alters her. Sie ist klassisch, also humanistisch und kommunistisch allemal, sie lautet als eine Friedensbotschaft: Der Mensch bedarf des Menschen sehr.“ Man muss kein Wort über dieses also verlieren: Helmut Sakowski dachte tatsächlich nicht für Dr. Lieschen Müller. 1973, die sozialistische Menschengemeinschaft des VII. Parteitages der SED war verabschiedet, ein sechstes und ein neuntes Plenum hatten Hoffnungen geweckt, die scheinbar tatsächlich Realität zu werden begannen, meldete sich Kongress-Redner Sakowski erneut zu Wort: „Es scheint mir eine Torheit zu sein, nur von Traurigkeit zu singen, und eine Torheit, Traurigkeit abschaffen zu wollen. Es scheint mir töricht, den Tod wie eine Modefrage hochzuspielen, und ebenso töricht erscheint es mir, den Tod aus der Literatur verbannen zu wollen.“ Die Geschichte der Kulturpolitik der DDR war eine, zum Glück kurze, Geschichte der Torheiten, freundlich gesagt.


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