Reto Flückiger schaut ins Hundeauge
Das Wort bräsig habe ich in meiner mitteldeutschen Naivität bis dato immer dem hohen Norden zugeordnet, dem deutschen hohen Norden. Und meine Vorstellung dabei bezog Nahrung sich aus einer Reportage über einen Postzusteller im winterlichen Wattenmeer, der dem neugierigen Fernsehmann sagte: „Ja, manchmal bricht man auch ein.“ Die unnachahmlich platte Sprachmelodie bei diesem Geständnis eines unvermeidlichen Berufsrisikos kann ich hier leider nicht wiedergeben. Inzwischen aber weiß ich, dass von Hamburg aus gesehen südlich, also etwa in Berlin, ein Regierender Bürgermeister, der seinen Rücktritt verkündet hat, „die kleine fiese Schwester der Entspanntheit verkörpert: die Bräsigkeit, die wenig mit Toleranz und viel mit Gleichgültigkeit zu tun hat.“ Und noch weiter südlich, in München, blickt man auf „die unter Bräsigkeitsverdacht stehenden Schweizer“. Und das berührt nun schon, zumal es den siebenten Tatort aus Luzern direkt betrifft, meine Restkenntnisse aus dem Fach Logik, in welchem ich eine Note erhielt nach nur vier Semestern. Demnach müsste aus den Gleichungen A=C und B=C in fieser Konsequenz folgen, dass auch A=B gilt, was wiederum die Schweiz mit Berlin gleichsetzen würde und mich fies irritieren.
Als ich mir „Verfolgt“ anschaute in insgesamt drei Etappen wegen des Länderspiels gegen Schottland, ein Lob gilt der Planung einer solchen Premiere in den Gremien der ARD, die uns sonst immer gern Altfolgen präsentiert in vergleicbaren Fällen, war ich leicht euphorisiert, weil meine „TV Spielfilm“ das Werk zum „Tipp des Tages“ gemacht hatte, was Tatorten zwar relativ oft passiert, nie aber bisher den Schweizerischen Tatort traf. Zwar war ich als ohne sonderliche Beteiligung von Ehre rein altershalber ergrauter Zuschauer noch nicht komplett geneigt, eine eigene Verschwörungstheorie zu entwickeln, all meine Sichten auf die bisherigen Flückiger-Filme sind in dieser Rubrik immer noch leicht nachlesbar, konnte mich der Diagnose einer gewissen Auffälligkeit dennoch nicht verschließen. Wer die nötige Standfestigkeit besitzt, kann zum Glück mittlerweile den Sonntagskrimi fast in Endlosschleife bis Montag einschließlich genießen und dabei all seine Meinungen wiederholt überprüfen. Seit ich kürzlich irgendwo aus Anlass des großen runden Jubiläums des Flaggschiffs lesen durfte, dass unter den dreizehn besten Tatorten aller Zeiten ziemlich exakt mindestens siebzehn Folgen aus München zu finden sind, glaube ich ohnehin nur noch meinem eigenen Urteil, es sei, der Bayerische Rundfunk überwiese mir eine stattliche, sagen wir: sechseinhalbstellige Ablösesumme für ein abweichendes.
Zuerst sah ich also Menschen, die sich verfolgt fühlten und auch verfolgt wurden. Die Vorabkritiker haben kurioserweise einen anderen Film gesehen, was ich allerdings erst später registrierte. Der eine sah Schlägereien im Plural, die andere den Niederschlag eines Wartenden, beides kam in dem Sonntagabend-Tatort des Regisseurs Tobias Ineichen aber nicht vor. Eine unruhige Handkamera sah auch ich den Verfolgten begleiten, vor vierzig Jahren war das Avantgarde in einer sich „Studiofilm“ nennenden Spätreihe der ARD an Montagen, die man in der DDR gern sah wegen der dort zuweilen gezeigten Nuditäten, die es zwar bei DEFA und Co. auch gab, aber nicht so verzittert, verwackelt und also künstlerisch. Später liegt jemand tot in einer Wohnung, die gar nicht seine Wohnung ist, der Jemand ist eine Frau, von einem weißen Hund gefunden, der danach eine blutige Pfote hat, es ist die linke Vorderpfote. Reto Flückiger und Liz Ritschard greifen erst vergleichsweise spät ins Geschehen ein und ich will mir ins Bein beißen, wenn ich die Fragen, die sie dann stellen, nur deshalb doof finde, weil Lena Odenthal auch diese Fragen stellt. Reto Flückiger fixiert den weißen Hund, was den zum Knurren und Bellen bringt, ihn selbst wiederum zu der Frage, warum die Hundebesitzerin wohl von Auge und nicht von Augen sprach. Schau mir in die Augen, Kleiner, oder so. Immerhin gibt es eine weitere Hundeszene mit Blick ins Auge und es gibt ein wenig Hundeblick-Mythologie, die an den Esoterik-Kursleiter der sechsten Episode anknüpft, wenn auch keineswegs nahtlos, aber so waren früher ja nicht einmal Damenstrümpfe.
Nach und nach zeigt sich, dass es sich um eine brisante Thematik handelt, denn der Verfolgte ist ein IT-Spezialist in der kleinen Privatbank Von Wyl, was man so klein nennt in der kleinen Schweiz, und hat heiße Daten gestohlen, die er den deutschen Steuerbehörden verticken will. Da bekanntlich schon bei sehr viel weniger Geld der Spaß aufhört, ergreifen die Spitzen der Bank, Kenneth Huber als Markus Reichlin und Pierre Siegenthaler als Werner Sonderer, das, was man früher Maßnahmen genannt hätte. In deren Folge landet der IT-Spezialist in der Psychiatrie, wo er sich, wie es den Anschein hat, an seinen Schnürsenkeln erhängt. Die Verfolgte, die seine Frau ist und Mutter der gemeinsamen Tochter, wird bis an den Rand der Panik unter Druck gesetzt von einem Mann, der ein beauftragter Privatdetektiv ist und wie ein Lotterbube aussieht. Sie (Karin Plachetka) schafft es, Reto Flückiger auf eindrucksvolle Weise mit Verlegenheitsblicken und Verlegensheitsgesten so für sich einzunehmen, dass er sich sogar bereit erklärt, der Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Während der Ermittler also vom Pinocchio liest, dem Polizisten einen großen Hund hinterher hetzen, schläft das Kind ein. Bräsig ist das nicht, sondern nett erfunden.
Wer auch nur ein wenig mit Schweizer Gegebenheiten vertraut ist, wird von den Wohnverhältnissen des IT-Spezialisten Behrens nicht vollkommen überrascht sein, man schreitet auf Schrägen statt über Treppenstufen, um nach oben zu kommen, der Jahresbonus schon kleinster Banker ginge hierzulande locker als Gesamteinkommen mehrerer Verkäuferinnen über den Tisch, da lässt man sich schon mal eine schiefe Ebene aus Holz bauen. Wohltuend wirkt, dass dem verfolgten Datendieb keine Aura angedichtet wird, dass er optisch und in den Schilderungen seiner Frau, die er betrogen hat, nicht zum Helden im Kampf gegen das internationale Finanzkapital gemacht wird. Er folgt eher monomanisch einem Bild, dass er von sich für sich selbst gebastelt hat. Beunruhigend kommt dafür die offenbar wenig wirkliche Hürden überwinden müssende Art daher, wie man in einem Schweizer Krankenhaus einem eben vernehmungsfähig gewordenen Patienten, der ein sehr gfährlicher Täter war, das Lebenslicht abdrehen kann. Der Film zeigt gegen Ende einen Mann, der alles, was er brauchte, um glaubhaft den Arzt zu spielen, in eine Tasche verpackt und unbeobachtet entschwindet. Der Zuschauer darf sich denken, dass er es war, der eine mögliche Zeugenaussage final verhinderte. Und einen Blick auf eine Tätowierung werfen.
Der übliche Verdächtige ist auch von der Partie, der es nicht war, es aber hätte sein können. Diesen Michael Straub spielt Georg Scharegg. Es ist Eifersucht im Spiel und wieder dieser Regierungsrat Mattmann (Jean-Pierre Cornu), der sich von all den anderen Vorgesetzten aller anderen Ermittler in den anderen Tatorten vor allem dadurch unterscheidet, dass er stets selbst verdächtig wirkt, unabhängig vom jeweiligen Fall, um den es sich handelt. Hier ist er indirekt dafür verantwortlich, dass die ganz Bösen den gefährlichen Zeugen finden und töten können, weil er seinen Aufenthaltsort in Gegenwart genau des Mannes nennt, der die Hintergrundsperson ist. Die witzige Schweizer Idee für diesen Mann, der eine eidgenössische Privatbank nutzt, um auf den Cayman-Inseln Geldwäschegeschäfte zu tätigen, besteht darin, dass er ein deutscher Staatssekretär ist, Name Demand (Markus Scheumann). Die Geschäftsphilosophie, die er in Gegenwart der Banker und des Regierungsrates Mattmann verkündet, ist derart platt, dass einem sämtliche Tränen gleichzeitig in beide Augen steigen. So hätte man deutsche Staatssekretäre wohl am liebsten, könnte oder sollte man vielleicht glauben. Reto Flückiger prägt den schönen Satz „Currywurst können die Deutschen definitiv besser.“ Was man in Thüringen und andernorts wohl als Diskriminierung zu verstehen hätte, denn auch Bratwurst können wir besser.
Mit einem Schuss rettet Liz Ritschard ihrem Partner das Polizistenleben, das Feierabendbier aber lehnt der immer noch ab. Da bleibt also, für das Phrasenschwein, noch Luft nach oben. Der Mörder des Mörders mit der Tätowierung auf dem Schulterblatt sah ein wenig nach Migrationshintergrund aus, der ermordete Mörder nicht weniger. Dafür der deutsche Staatssekretär wie eine Maske aus einem alten Fantomas-Film. In München hält man leitmedial den Regierungsrat Mattmann für eine zusammengezimmerte Karikatur eines Chefs. Ich verkneife es mir zu vermuten, woher die dortigen kritischen Edelfedern derartige Chefs kennen. Vielleicht kann ja gelegentlich der Luzerner Tatort mal wieder bis zum Bodensee jagen oder in andere Richtung zu Eiger, Mönch und Jungfrau. Sonst entsteht eines Tages noch jener Ystad-Eindruck, der suggeriert, dass in einer ziemlich kleinen Stadt mehr Kriminalität tobt als in den Metropolen von Mord und Totschlag.