Reto Flückiger und der Freitod
So ein Tatort ist noch gar nicht gelaufen, da ist das Netz schon voll mit Urteilen, die in diesem Fall gar echte Vor-Urteile sind. Die jeweiligen Kritiker zeigen so ihren privilegierten Status an, denn sie dürfen sehen, ehe alle anderen auch sehen dürfen. Wer mehr liest als das, was in seiner jeweiligen Programmzeitschrift steht, falls er denn eine hält, ist selbst schuld. Wer auf Überraschung aus ist, noch wenn es eine schlechte wird, setze sich einfach in seinen Fernsehsessel und halte die neunzig Minuten ohne Werbepause aus. Schlimmstenfalls entschädigt anschließend die Zusammenfassung der Sonntagsspiele der Bundesliga in den dritten Programmen und ein paar Schweizer haben ja auch dort ihren Auftritt. Vom humanen Sterben in der Schweiz las man in gewissen Abständen, die Debatte ruft mit reflexhafter Gleichförmigkeit die üblichen Verdächtigen in den Ring, die die hinreichend bekannten Argumente einander an den Kopf zu werfen allzeit bereit sind. Und der militante Gegner von was auch immer ist ein idealer Anfangsverdächtiger, wie der erfahrene Tatort-Seher seit langem weiß, der Täter ist er in schönster Regelmäßigkeit nicht, es wäre zu schön.
Der Luzern-Krimi führt zunächst einmal vor, wie es geht mit dem Sterben inklusive gerichtsfester Dokumentation. Die auch missbraucht werden kann, was man später sehen darf. Seltsamerweise stehen draußen vor der Wohnung in einem sonst verlassenen Haus diverse mit Plakaten bewaffnete Demonstranten. In den USA ermorden solche Demonstranten schon mal einen Abtreibungsarzt, das kommt aber nur in die lokalen Abendnachrichten und nicht in eine Krimi-Serie. Woher wissen diese eifernden Demonstranten, wann eine Sterbehilfe stattfindet? Columbo würde sich eine Weile am Wuschelkopf kratzen und dann wissen, welche einzigen beiden Möglichkeiten es dafür gäbe. In Luzern ist es die räumlich nächstliegende, nicht die andere. Ein Schwerstkranker, der auf eine Spenderniere wartet und mehrmals pro Woche zur Dialyse muss, lässt sich von einer pseudoreligösen Organisation namens Pro Vita als IM gebrauchen. Der Kopf von Pro Vita wird in drei Vorab-Kritiken charismatisch genannt, zwei der drei schrieben es wohl vom dritten ab, ich sah lediglich einen Lackaffen, der sich dann auch noch als klassischer Doppelmoraler entpuppte.
Bedenklich in hohem Maße seine private Personen-Daten-Sammlung, die das Material für Pressionen zu liefern hat, die bis hin zu einem Brandanschlag gehen können. Zum Krimi wird alles, weil unmittelbar nach der Sterbehilfe an einer alten Frau eine Sterbehelferin ermordet wird. Sie bekommt einen Schlag gegen den Kopf, der nicht tödlich ist, wird anschließend mit einer Tüte erstickt, wie wir sie von der Fleischtheke im Supermarkt kennen oder von der Selbstbedienungsrolle in der Abteilung Obst und Gemüse. Einige Vorab-Kritiker nennen das Mordinstrument Plastik-Sack, was auf ihre Herkunft aus dem alpinen Raum deutet, denn dorten heißen Tüten Sackerl. Bei uns sind Säcke einfach viel größer als Tüten, ausgenommen nasse Säcke und Trantüten. Ein sehr namhafter Vorab-Kritiker, der den Film am liebsten nach fünfzehn Minuten nicht weiter gesehen hätte, aber das darf er wegen des Honorars vermutlich nicht, nannte das Mordopfer Chefin der Sterbehilfeorganisation, was sie freilich nicht war, der Kritiker nutzte wohl eine der nicht vorhandenen Werbepausen zum Pinkeln an der aufklärenden Stelle. Sie war einfach Sterbehelferin.
Das Ermittler-Duo, ergänzt um eine sehr flotte und mit einem migrationshintergründlichen Praktikanten plänkelnde Gerichtsmedizinerin, hat zunächst einmal den ersten Hauptverdächtigen im Visier, der es nie ist. Es ist ein bipolar gestörter Bruder jener Frau, die ihre Mutter zum Sterben aus Köln in die Schweiz begleitete. Der im Penner-Look durch die Szenen geisternde Mann hat wohl eine durchaus ansehnliche kriminelle Energie, aber ein Mörder ist er nicht. Dafür weiß er, wie man die Schweizer Verbrennungssärge mit einem einfachen Handgriff öffnet, um zu sehen, wer drin liegt. Er führt auch eine stattliche Menge Teelichter mit sich, die er alle im Lagerraum des Krematoriums entzündet, um dann von seiner Mutter Abschied zu nehmen. Immerhin ist er hell genug zu erkennen, dass seine Mutter tatsächlich freiwillig und selbstbestimmt aus dem Leben schied. Er ist nicht der Mörder, der Nierenkranke ist nicht der Mörder, der Lackaffe auch nicht, für Spannung sorgt das schon, zumal die bewährte Schauspielertheorie in diesem Fall nicht hilft. Ein Vorab-Kritiker bemerkte, dass der schließliche Täter schon früh einen verdächtigen Satz sprach.
Der elfte Schweiz-Tatort schafft es, aus Luzern zu kommen und Luzern zugleich vollkommen unkenntlich zu halten. Der sonst stets wie neben dem Fall oder außerhalb jeder Kompetenz stehend wirkende Chef Eugen Mattmann ist diesmal auf kleinste Flamme gedreht, er wirkt im Team mit und sitzt als einer unter vielen am Tisch, folgsam, als hätte er ein Teamfähigkeitsseminar für ältere Führungskräfte besucht. Die Ermittler Reto Flückiger und Liz Ritschard halten die nötige Neutralität im Thema Freitod, der Film insgesamt ist keineswegs davon gekennzeichnet, keine eigene Meinung zu haben, wie ein Vorab-Kritiker schrieb. Dass er alles abarbeitet, was Themenabende des öffentlich-rechtlichen oder privaten Fernsehens bereits bis zur üblichen Brechgrenze erörterten, kann nur den Krimifreund nerven, der dumm genug ist, dieses ewige Gesülze immer wieder anzuschauen, obwohl es viel, viel, viel vorhersehbarer ist, als noch der dämlichste Krimi es je sein könnte. Oder gab es schon einmal einen talkenden Moral-Theologen, der Gott des mangelnden Überblicks zieh in Sachen Sterbehilfe und ungeborenes Leben?
Natürlich nicht, denn die Talk-Show ist viel strenger dramaturgisch strukturiert, als mancher Naive glauben mag. Es gibt noch zwei weitere Mordopfer in diesem Film und die passen nicht ins Schema des Beginns. Das wiederum ist keine Abweichung von der strengen Linie eines Plots der Marke „Wünsch dir was“, sondern tatörtliche Normalität. Wie sonst könnte die Serie an vierzig und mehr Wochenenden des Jahres Lebenswirklichkeiten, Realität ins Bild bringen, die als Humus für Mordmotive nach aller bekannten und eben auch tatsächlichen Wahrscheinlichkeit eher nicht in Frage kommen? Dass ein Schmetterlingssammler einen Schmetterlingssammler erschlägt, weil der das vorletzte frei flatternde Exemplar im Urwald von Borneo fing, ist vielleicht etwas für Agatha Christie, im wirklichen Leben aber geht es meist um Liebe oder Eifersucht oder beides, schon etwas abgeschlagen kommt gekränkte Ehre. Das Treiben des Täters, der, nun sei es endlich verraten, eine Täterin ist, würde auch den Krimi-Titel „Todesengel“ bedienen, wie ein Vorab-Kritiker schrieb, dann aber zu viel verraten. Nach der Erstausstrahlung ist ein wenig Verrat nicht mehr ehrenrührig.
Reto Flückiger ist in diesem elften Luzern-Fall ein wenig neben der Mütze, empfängt Botschaften auf dem Handy und verrät erst mit dem Abspann, dass es sich um eine Evelyn handelt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich wissen will, wer das ist und sehen, wie der Kommissar mit ihr beim Nobel-Spanier Tapas futtert. Die Einsamkeiten der Liz Ritschard interessieren mich schon deutlich mehr, andererseits nimmt die Zahl der Krimis zu, in denen der Fall neben den Macken der Ermittler immer nebensächlicher wird. Es war also eigentlich schon alles da, man hat nur die Wahl, das zu wiederholen und auszubauen, was bisher am wenigsten da war. Ein Vorab-Kritiker bemängelte, dass Fall 11 hinter dem stärksten Fall zurückblieb. Nach dieser Logik ist Goethe zu schelten, weil nicht siebzehn, sondern nur einen „Faust“ vollbrachte. Auch in allen anderen Tatort-Städten erreichen alle anderen Folgen die stärkste nicht, sonst wäre die stärkste nämlich nicht die stärkste. Nur gegen Luzern wird halt, wo immer möglich, ins Feld geführt, was nicht bei Drei auf dem Baum sitzt an Argumenten. Ich freue mich auf Nummer 12 und folgende, warum auch nicht?