Tagebuch
14. Februar 2021
Lindenberg und Kickelhahn wie Kitschpostkartenberge vor strahlend blauem Hintergrund, die Morgentemperatur vor meinem Arbeitszimmerfenster minus 14 Grad, das darf man Winter nennen. Es ist der 83. Todestag von Arthur Eloesser heute, nichts für große Begängnisse, wohl aber für mein nicht mehr nur privates Wiederentdeckungsunternehmen ein guter Anlass, einen weiteren Text zu ihm ins Netz zu stellen. In seinem Buch über Elisabeth Bergner steht der hübsche Satz „Die Großen deckt kein Inkognito, nicht das des Königs, nicht das des Bettlers.“ In Arnold Zweigs Buch „Juden auf der deutschen Bühne“ steht weniger hübsch als eindringlich: „Das Theater hat das Unglück, rentabel sein zu müssen dank seiner Grundlagen“. Das ist etwa genau die Stelle, an der Beflissene gern rufen: „Es kann doch nicht alles nur am Geld liegen.“ Genau deshalb wollen jene Beflissenen möglichst jede Ruinenstätte in ein freies Kulturinstitut verwandeln, das finanziert werden muss.
13. Februar 2021
Männer mit Feindbild Frau gab es auch früher, einer wäre schlimmeren Falles sogar Literatur-Nobelpreisträger geworden. Sie hatten aber noch kein handlich-medientaugliches Etikett auf ihrer hühnerhaft heldischen Brust kleben. Jetzt ist das anders: sie heißen Incels. Als ich das Wort zum ersten Male las, war ich mild überrascht, es vorher nie gehört zu haben, inzwischen gibt es sogar schon frische Fernsehkrimis, in denen der Incel sein Unwesen treibt. Der SPIEGEL ist mit seinem heutigen Titel also eher Mainstream als Entdecker. Das Ilmenauer Amtsblatt hat eine Nachruf-Anzeige für Dr. Siegfried Lusche, mit dem ich in seiner Zeit als Bürgermeister von Oberpörlitz manches nette Gespräch hatte, zumal sein EDV-Mitarbeiter ein alter Schulfreund von mir war. Unglaublich: damals war Oberpörlitz noch selbständig, widersetzte sich halbwegs tapfer allen Eingemeindungswünschen der Großstadt Ilmenau, um schließlich trotzdem aufgeben zu müssen.
12. Februar 2021
Noch immer bin ich aufgeregt, weil mein PC wieder funktioniert und ich neue Optiken sehe. Ich habe nicht nur mein gutes altes Outlook wieder mit all meinen alten Mails im Ordner „Gelöschte Objekte“, ich kann sie auch wieder für immer und ewig löschen. Die große Überraschung des gestrigen Donnerstags trägt den Titel „Juden auf deutschen Bühnen“, als Buch zuletzt 1927 bei „Der Heine-Bund“ erschienen, gedruckt in der Rossberg’schen Buchdruckerei in Leipzig und geschrieben von Arnold Zweig. Überraschend, weil ich nicht ahnte, dass mein alter Lieblingsautor auch derart bedeutend in Theatergeschichte ist. Die Ordnung des Buches ist verblüffend und wenn die Verblüffung vorbei ist, eigentlich gar nicht anders denkbar. Zweigs Bücher, die man „Judaica“ nennen könnte, fehlten in der DDR in der großen Ausgabe mit ihren 16 Bänden. An den Nachträgen hätte ich bei Aufbau Berlin vielleicht gearbeitet, doch die DDR wählte die Flucht in die Geschichte.
11. Februar 2021
Dies ist, wegen des Datums, der Tag des Notrufs 112. Ich will hoffen, ihn nicht zu brauchen und das nicht nur wegen der üblichen Umwege über Rettungsleitstellen. Es schneit immer wieder und bleibt natürlich liegen. Bei dieser Temperatur knirscht der Schnee, der Sahara-Anteil ist an vielen Stellen immer noch gut zu sehen. Die Nachricht, dass am 1. März die Frisör-Läden wieder öffnen dürfen, trifft bei weiten Teilen der Bevölkerung, so weit sie die Wohnung mit mir teilt, auf ungeteilte Freude. Unsereiner schädigt diese Branche seit 44 Jahren ausdauernd. Thüringen ist mit dem heutigen Tag das einzige Bundesland mit einem Inzidenzwert über 100, dafür aber liegen wir mit dem Impfen plötzlich im oberen Drittel, nachdem wir anfangs hinterher hinkten. Die Kritiker kritisieren wie üblich alles, das nennt man Demokratie. Die Regierung tut prinzipiell alles zu spät, zu früh, zu viel oder zu wenig, und zwar immer, wahlweise anzukreuzen. Wann wusste sie wovon?
10. Februar 2021
An Margarete Hannsmanns 100. Geburtstag habe ich nicht einmal gedacht, geschweige den Versuch unternommen, etwas zu ihr zu machen. Ich besitze von ihr nur ein einziges Buch, das sie sich auch noch mit Günter Herburger teilen muss, es stammt aus dem Jahr 1978. Dafür beginne ich, mein vernachlässigtes Tagebuch zu aktualisieren, ohne die Nachträge auch Nachträge zu nennen. Es kann sein, dass noch einmal eine Zwangspause eintritt, wegen einer PC-Nachsorge. „Graf Öderland“ von Max Frisch hatte in seiner ersten Fassung vor 70 Jahren Uraufführung, der Text, der dazu heute erscheinen sollte, ist weitgehend vorbereitet, ich muss nur vorher noch andere Defizite ausgleichen, schon am 7. März wird das nächste Uraufführungs-Jubiläum sein, „Santa Cruz“. Die Temperaturen schleichen sich leise wieder nach oben, mitternächtliche 17 Grad minus bleiben hoffentlich unser aktueller Rekord. Unsere große Runde sind wir voll vermummt auch bei 13 Grad minus gelaufen.
9. Februar 2021
Fahrt zur Sparkasse, unsere Kontenzugänge wieder zu ermöglichen mit neuen Zugangsdaten. Wir bekommen am Schalter zwei Ausdrucke, haben aber nur den alten Zugang wieder neu, als wir es testen. Am Nachmittag die zweite Tour, diesmal die neue Installation direkt bei unserem Berater. Zwei neue Überweisungen klappen problemlos. Den 90. Geburtstag von Thomas Bernhard lasse ich nun doch verstreichen. Wer außer mir selbst achtet eigentlich darauf, ob ich einen Tag vorher, am Tag selbst oder drei Tage später ins Netz stelle, was ich geschrieben habe? Erfreulichste Nachricht des Tages aber ist die, dass der Verlust, den ich als Lehrgeld verbuchte, wieder auf dem Konto ist, die Sparkasse hat die Rückbuchung geschafft. Ich bin voller Schadenfreude: haben also die Arschlöcher mit dem indischen Akzent und der 0044-Vorwahl am Ende nicht einen Cent von mir ergattert. Inzwischen kenne ich einen Warntext der Verbraucherzentrale, die Masche läuft seit 2014.
8. Februar 2021
Das angekündigte Chaos scheint weitgehend eingetreten, ich erreiche zunächst bei der Ilmenauer Polizei nur einen genervten Mann, der nicht weiß, wer schon im Haus ist und wer noch nicht. Wir haben gestern und vorgestern immerhin schon so viel Schnee von Auto und Parkplatz entfernt, dass wir es heute viel leichter haben als unsere Nachbarn mit dem Eis auf ihren Scheiben. Später erwische ich meine Ansprechpartnerin, sie gibt mir ihre Mail-Anschrift. Ich kann, ehe sie meine Unterlagen weiterreicht, noch die Daten vom Wochenende nachliefern: drei neue Kontaktversuche am Sonnabend, einer heute in den Morgenstunden. Am Nachmittag die befreiende Nachricht vom PC-Service. Es ist alles bereinigt, alles erhalten, ich muss mir keine Sorgen machen. Tatsächlich funktioniert erst einmal alles, was ich am dringendsten brauche, mein altes Sicherheitsprogramm wurde gelöscht, weil es die Attacke nicht erkannte, mein neues haben viele, die ich gut kenne, auch.
7. Februar 2021
Als ich gestern in den Nachrichten Wüstensand über dem Süden Deutschlands sah, ahnte ich nicht, dass ich heute eine Schicht orange-gelben Schnees sehen würde auf dem Weg zur Tankstelle und zurück. Die Sahara hat tatsächlich Grüße per Luftpost bis in unsere Höhen und Breiten versandt, die Schicht ist nicht viel höher als ein Zentimeter. Mangels Online-Zugang zu meinem Konto muss ich mich erstmals seit einer kleinen Ewigkeit am Überweisungsautomaten betätigen, wo wird früher sogar ein paar Daten gespeichert hatten. Die Betrüger-Beute sehen wir als Lehrgeld an, der Griff zum Netzstecker hat Schlimmeres verhindert. Immerhin bekommen auf diesem Wege mal wieder eine Quittung, die aussieht wie früher alle Konto-Auszüge. Bargeld ist für den Augenblick genug im Haus, wir werden morgen fragen, ob trotz Sperrung auch die Lastschriften funktionieren, nicht dass wir nun irgendwo als Schuldner in Erscheinung treten, ohne solche zu sein. Wir sind altmodisch.
6. Februar 2021
Es ist dicker Winter angekündigt, wir haben jetzt schon mehr davon, als wir in den letzten Jahren hatten. Inklusive zwischenzeitlichen Wegtauens selbst der höchsten Haufen. Die WELT hat heute Thomas Bernhard auf der Titelseite, er füllt auch die erste Seite der „Literarischen Welt“. Teresa Präauer, aus meiner Sicht eine sehr junge Autorin, obwohl sie die 40 auch schon hinter sich hat, erzählt von Berührungspunkten ihres Lebens mit dem des „Übertreibungskünstlers“, wie ihn ihr Vater nannte. Ein Übertreibungskünstler der DDR, der Lyriker Heinz Kahlau, hätte heute seinen 90. Geburtstag feiern können, wenn er nicht 2012 bereits gestorben wäre. Ich sehe immer, wenn sein Name fällt, seine Latzhose, sein großkariertes Hemd und seinen Sturmlauf zur Bühne, wo ein böser Bube Biermann-Lieder singen wollte, diesen dort herunter zu zerren. Das war einst in Schwerin, ich ein Teilnehmer des Poetenseminars, und die bösen Buben kamen alle aus Jena und bald zu Ruhm.
5. Februar 2021
Diesen Donnerstag werde ich so schnell nicht vergessen: erst meine Notbremse am PC, dann sofort Anruf bei der Polizei, wir sitzen eine Stunde im Warteraum insgesamt, ich gehe mit Formularen, die ich zu Hause ausfüllen darf, soll den Tatverlauf möglichst detailliert schildern. Zum Glück habe ich alle Telefonnummern aufgeschrieben, die mein gutes altes Festnetztelefon brav speicherte. Die mit deutscher Vorwahl waren alle ungültig, wie ein Proberückruf sofort ergab. Heute Abgabe der aller Papiere. Ich ging zu Fuß in die Stadt und zurück, das Ergebnis: ein Schrittrekord im neuen Jahr. Während wir in der Polizei-Inspektion saßen, gab es gestern zwei weitere Kontaktversuche. Alle meine Pläne sind erst einmal hinfällig, ich habe keinen Zugang zu meinen Dateien, weil der PC durchsucht wird auf Software, die den Zugriff ermöglichte. Im schlimmsten Fall habe ich Jahre umsonst gearbeitet, weil alle Texte nicht mehr zugänglich sind. Tag 2 des großen Passwort-Änderns.
4. Februar 2021
Wir sitzen beim Frühstück, als die Sparkasse anfragt, ob ich gestern Online-Überweisungen getätigt hätte. Ich habe. Der Grund der Nachfrage ist mehr als verblüffend: die Überweisungen an drei deutsche Antiquariate seien nicht freigegeben worden, weil sie offenbar in England ausgelöst wurden. Natürlich habe ich nicht die geringste Ahnung, wie das möglich ist, es sind auf alle Fälle meine Überweisungen, an meinem PC getätigt. Keine zwei Stunden später, ich habe meinen PC noch nicht wieder genutzt, weil ich noch zwei kurze Sachen lesen will, ehe ich meinen Text zu Glausers 125. Geburtstag beginne, startet ein knapp zweistündiger Gruseltrip in die Welt der hoch organisierten, perfektionierten und bestens geschulten Internet-Kriminalität. Ich falle auf einen vermeintlichen Mitarbeiter von Microsoft herein, der mir helfen will, die von ihm oder seinen Kumpanen selbst erzeugten Fehlleistungen meines PC zu beseitigen. Rettung in letzter Sekunde.
3. Februar 2021
Der dreizehnte Tag in Folge mit 7.000 und mehr Schritten. Wir sehen Licht in einer oberen Hausetage, wo früher nie Licht zu sehen war, wir sehen einen Weihnachtsbaum, der bis in diesen Februar hinein leuchtet. Wir wetten, ob die Hunde bellen, wenn wir unterhalb des Tierheims vorbeikommen, denn einer bellt so krank und heiser, dass man ihn am liebsten heiße Zitrone mit Honig schlecken lassen würde. Zwischen den Garagen fast immer die eine oder andere Person, vor vielen sieht man keinerlei Spur im Schnee, wenn Schnee liegt. Wir schauen am Abend einen uralten „Wilsberg“ im sicheren Wissen, ihn nicht zu kennen, weil wir früher nie „Wilsberg“ sahen. Am Abend neue Probleme: Es dauert ewig, bis ich ein paar Überweisungen tätigen kann, es dauert ewig, bis ich ein paar Mails löschen kann von Absendern, deren Botschaften seit ewigen Zeiten ungelesen bleiben. Morgen nicht weniger als vier Jubiläen, drei muss ich sausen lassen, nur Glauser bleibt.