Tagebuch

8. Juni 2020

Was fällt mir beim Titel „Eine Million Trennungen“ ein? Ich tröste mich: Erst einmal gar nichts. Zwei Suchanläufe später weiß ich: am 8. Juni 1980 las ich, es war auch damals schon der Vorabend meines Hochzeitstages, diese Geschichte von Wassili Axjonow, die die Titelgeschichte des gleichnamigen Buches ist, erst am 2. Juli trug ich es als zu Ende gelesen in mein Register ein. Ich las auch etwas von Helga Königsdorf: „Eine Idee und ich“ fand ich schwach, „Rundfahrt“ dagegen recht gut. Schrieb ich damals tatsächlich auch an meiner Diplomarbeit? Mein damaliges Tagebuch zeigt, dass mein Tag offenbar 27 Stunden hatte. Heute bin ich den lieben langen Tag bei Charles Dickens, weil mein Heinrich Lautensack zeitig genug fertig wurde. Ich notiere mir als Idee, von geistigem Kellerbier zu schreiben, naturtrüb wie das flüssige auch, mit Schwebstoffen, die nicht herausgefiltert sind. Wahrscheinlich vergesse ich die Idee, notiert auf einem alten Briefumschlag.

7. Juni 2020

„Am Morgen des 7. Juni 1970 wurde die Fahne am altehrwürdigen King’s College der Universität Cambridge auf halbmast gesenkt. Mit dem 91jährigen Edward Morgan Forster war einer der bedeutendsten englischen Schriftsteller  des 20. Jahrhunderts verstorben.“ So beginnt das DDR-Nachwort zu Forsters vielleicht bekanntestem Roman „A Passage to India“, verdeutscht „Auf der Suche nach Indien“. Das ist jetzt 50 Jahre her, genau zehn Jahre nach Forster starb Henry Miller, das ist jetzt vierzig Jahre her, bei dem immer nur alle an Pornographie denken so wie nicht wenige bei Forster nur noch an Homosexualität. Womit jemand im Gedächtnis der Nachwelt bleibt, kann er sich nicht aussuchen, selbst wenn er sich alle Mühe gibt, darauf Einfluss zu nehmen. In Brasilien breitet sich Springinsfeld CoVid19 wie verrückt aus, was dem lustigen Präsidenten die Idee eingibt, keine Statistiken mehr veröffentlichen zu lassen, die ein falsches Bild abgeben. Grandiose Idee.

6. Juni 2020

Heute hat einer seinen 80. Geburtstag, den ich nur dann näher zu meinen Autoren gemacht hätte, wenn das Projekt „Jahrgang 1940“ im Mitteldeutschen Verlag nicht gleich 1990 gestrichen worden wäre: Reinhard Bernhof. Drei Bücher stehen immerhin in Griffweite neben mir: „Der Angriff des Efeus“, „Leipzig, Hauptbahnhof“, „Tägliches Utopia“. Am 18. Oktober 1989, Honecker war eben aus dem Amt gejagt worden, las ich Bernhofs Kinderbuch „Ben sucht die Quelle“, ich tippte meine Notizen mit einem offenbar ganz frisch eingelegten schwarz-roten Farbband auf meiner guten alten Schreibmaschine. Einen Monat zuvor hatte ich begonnen, rein schwarzes Farbband, mich intensiver mit der Literatur über Bernhof zu befassen, mehr als zwei Seiten sind es aber nicht mehr geworden. Das Smartphone erinnert uns an unsere Venedig-Tour 2016, zeigt Fotos von den quietschbunten Häusern auf Burano. Ein Jahr noch müssen wir warten, bis wir es wiedersehen. Das halten wir aus.

5. Juni 2020

Es gab eine Zeit vor unserer Zeit, vor Corona, also nicht v. Chr., sondern v. Co., da waren sich alle Journalisten mit anderthalb Ausnahmen einig im Streben, Angela Merkel vorzeitig aus dem Amt zu schreiben, Magazine titelten in dieser Richtung, Kommentare kommentierten. Jetzt steht die CDU bei 38 Prozent, Angela Merkel hat Zustimmungswerte von 70 Prozent und einige der Journalisten fragen vorsichtig an, ob die Kanzlerin nicht doch vielleicht noch eine Amtszeit anhängen möchte. Kohl hätte, eben schon im Koma, sofort JA! gebrüllt, Adenauer sowieso, der hätte noch aus der Gruft gekanzelt. Angela Merkel aber wird in die Uckermark gehen und mit Professor Sauer dies und jenes tun. Ein Politikstil wird weg sein und ungekämmte Kerle und Twitter-Vollpfosten werden die wichtigste Gegengröße in der Weltpolitik los sein. Man müsste es eigentlich bedauern. Man kann jedem x-beliebigen Nachfolger nur wünschen, er müsse erst einmal lange keine Krisen managen.

4. Juni 2020

Seit wir in dieser Corona-Krise leben, debattieren die berufsmäßigen Debattierer darüber, wie es danach aussehen wird und zwölf von sieben aus ihren Reihen äußern den Wunsch, alles möge besser werden, wir möchten gelernt haben und so weiter. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass sich nichts ändern wird. Die Leute, die ihre Kinder in den wiedereröffneten Kindergarten bringen oder sie von dort holen, sind immer noch genauso faul wie vorher, auch nur einen Meter zu viel zu laufen, nur dass sie jetzt mit Mundschutz kurven und kurbeln und Chaos verursachen mit ihren Autos, die möglichst alle direkt am Zugang zur Einrichtung halten wollen. Am 4. Juni 1945 starb in Ascona, das ich leidlich gut kenne, der Dramatiker Georg Kaiser. Ich las zwischen dem 10. August und dem 17. November 2003 nicht weniger als 21 Stücke von ihm, stellte am 4. Juni 2015 einen alten Zeitungstext von mir (aus dem Jahr 2003) in meine junge Rubrik ALTE SACHEN.

3. Juni 2020

Manchmal bin ich doch ehrgeiziger, als ich sein sollte: ich wollte meinen Beitrag zu Georg Seidel, der heute vor 30 Jahren starb, noch vor Mitternacht ins Netz stellen und ich schaffte es. Ich wollte nach dem Hinweg zum Zahnarzt, letzte Kontrolle heute und nun Rückkehr zum Normalmodus der Besuche, auch den Rückweg zu Fuß laufen. Geriet dabei in einen derartigen Platzregen, dass ich bis auf die Haut durchnässt nach Hause kam. Dafür zeigt mein lieber Schrittzähler, den ich unterwegs vor Wasser schützte mit meinem noch unbenutzten Brillentuch, schon eben mehr als 11.000 Schritte an, und einige kommen noch hinzu. Das Hotel, das wir kommende Woche nutzen wollten, weil es seit langem unser Stammhotel in Berlin ist, hat noch bis zum 30. Juni geschlossen, wir wechseln in ein Haus, dessen Rezeption in der 7. Etage ist. Die Post brachte mir ein Buch von Reich-Ranicki aus dem Jahr 1965, das tatsächlich überwiegend mir unbekannte Sachen enthält, es freut mich sehr.

2. Juni 2020

Das ist er nun, der 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki. Daraus ergibt sich messerscharf, dass es sein 80. Geburtstag war, an dem wir so zeitig wie möglich in Gehren meine Eltern nebst Gepäck im Auto verstauten, um das nachträgliche Geschenk zur Goldenen Hochzeit zu realisieren. Wir fuhren über das Großherzogtum Luxemburg, bis Chervaux kannte ich die Strecke sehr genau, in die belgische Provinz Luxemburg, den Unterschied erfassten meine alten Herrschaften erst nach Erklärung. Es war ein bisschen anstrengend, vom Parkplatz zu unserem Bungalow 718 zu gelangen mit allem Gepäck, aber dann war alles gut. Mein neunter Belgien-Aufenthalt, Elkes dritter, der erste für meine Eltern. Beide waren noch leidlich zu Fuß. Wir sahen La Roche, Bastogne, Stavelot, Spa und Malmedy. Am Morgen las ich noch „Über Hilde Spiel“ zu Ende und die Rede „Über das eigene Land“. Ich beginne zu schreiben, wenn wir in Gera angerufen haben, auch ein Geburtstag, der 71.

1. Juni 2020

Ausgerechnet der wie immer etwas krude, aber auf angenehme Art krude TATORT aus Weimar führt mir die seit 1994 leer stehenden Sophienheilstätten München nahe Bad Berka vor Augen. Diese idyllische Ruine ist ein idealer Schauplatz für einen Krimi-Showdown. Für meinen Vater war sie vor vielen Jahren der Ort, wo seine erste Tuberkulose-Erkrankung soweit geheilt wurde, dass er ein normales Leben führen konnte. Nach seiner zweiten Erkrankung war er schon im modernen Haus, wir Kontaktpersonen wurden alle mehrfach getestet und rochen, als wir ihn besuchten, dass Lungenkranke gern auf ihren Krankenhaus-Toiletten rauchen. Eine ehemalige Mitschülerin von mir sorgte als Lungenärztin für uns, wir hatten Glück, nur negative Befunde. Nach gestern fast acht Kilometern zu Fuß heute etwas weniger, dafür Umzugshilfe, wenn auch ohne mich. Ich bin mit meinem Titan-Rücken nicht mehr der große Träger, las in Ruhe ein Büchlein „Über Literaturkritik“.

31. Mai 2020

Im fernen Jahr 1987 las ich nur ganze zwei Bühnentexte: „Spartakus“ von Georg Heym und „Katzelmacher“ von Rainer Werner Fassbinder. Als ich im April 2017, fast 30 Jahre später, „Katzelmacher“ erneut las, jetzt mit zeitgemäßem Textmarker und Blick auf die Aufführung am Landestheater Coburg am folgenden Tag, war es der sechzehnte Bühnentext des Jahres, ich aber inzwischen auch Betreiber des kleinen Kritik-Portals THEATERGÄNGE. Dort ist meine Kritik noch heute leicht nachlesbar, vierstellig inzwischen die Zahl der Aufrufe immerhin, es könnte besser sein. Einst sah ich wahrscheinlich so gut wie alle Fassbinder-Filme, auch den nicht enden wollenden „Berlin Alexanderplatz“ mit Günter Lamprecht. Nach dem Maestro selber sterben nach und nach auch seine Mimen weg, zuletzt Irm Hermann, die knapp drei Jahre älter war als er. Heute ist sein 75. Geburtstag und in zwei Jahren er schon vierzig Jahre tot. Er war ein wilder Hecht.

30. Mai 2020

So langsam beginnt der 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki seine Schatten voraus zu werfen, mehr als eine ganze Seite widmet die LITERARISCHE WELT ihm heute, auch ich sitze in meinem Startloch, werde allerdings altmodisch, wie ich bin, erst am Geburtstag selbst in Aktion treten und danach freilich in diesem Jahr jede sich bietende Gelegenheit nutzen. Er hat es verdient. Beginnend im Dezember 1996 las ich in dichter Folge zwölf Bücher von ihm, zwei über ihn bis Juni 1997, seither genieße ich ihn anlassbezogen portionsweise. Wenn ich seine Reden lese, höre ich seine Stimme und wenn er vom Niedergang des Theaters in Frankfurt am Main und darüber hinaus redet, bin ich mehr bei ihm als je. Wenn er mit „Übrigens“ beginnt, kommt fast immer Wichtiges, was kurioserweise Hermann Kant für Stephan Hermlin behauptet hat. Wer nahm da wohl bei wem eine zarte Anleihe? Übrigens war Kant bezüglich Hermlins „Abendlicht“ ein ganz Hinterhältiger.

29. Mai 2020

Noch eben fragten wir uns, wann unser REWE-Markt denn bekannt geben will, dass er für längere Zeit wegen Umbaus schließt. Die Regale wurden schon seit einer Weile bei ganzen Warengruppen nicht mehr aufgefüllt, im Getränkemarkt fehlte die oberste Reihe bei Wein, wo die teuren standen. Sie waren einfach eine Reihe nach unten umgesiedelt. Nun ist es amtlich und wir dürfen in der kommenden Woche an den beiden letzten Öffnungstagen bei Angabe unserer Postleitzahl zehn Prozent Rabatt auf den Gesamteinkauf verlangen. Rückblick: Zuerst hatte der Konsum nur zwei Wohnungen als Verkaufsfläche, wir gingen in die HO-Kaufhalle, wo jetzt das Fraunhofer-Institut steht. Dann wurde der „Glasmacher“ gebaut, verglichen mit der jetzigen Kombination für Aldi und Rewe war das noch richtige Architektur. Wir gingen schon wegen der Konsum-Marken nur noch in den „Glasmacher“. Und zwar täglich, weil es immer irgendetwas gab, was es am Vortag nicht gab.

28. Mai 2020

Heute ist der Internationale Tag der Menstruation, lese ich gerade in einer roten Tageszeitung. Die Wirklichkeit produziert wie so oft die schönsten Kalauer selbst. Ich feiere den Tag nicht, denn meine Tage sind gezählt, könnte ich behaupten. Die Frage ist nur, wie weit der Zähler gekommen ist. Der Covid19-Zähler für unsere Freunde jenseits des atlantischen Großteiches hat heute die Sechsstelligkeit erreicht, nun fehlen nur noch knapp 900.000 Tote bis zur ersten Million, es wird also höchste Zeit, alles zu öffnen, was nur geht. Trump müsste nur noch dafür sorgen, dass nicht vorwiegend seine eigenen Wähler sterben. Es klappt nicht immer wie bei Hillary, dass Millionen weniger Stimmen trotzdem reichen. Was halbwegs klappt, ist die eingehende Post, sie kündigt sich an und dann ist sie auch schon da. Noch immer habe ich mir weder auf die Zunge noch in die Wange gebissen, es könnte also sein, dass ich trotz allem noch ein lernfähiger Organismus bin.


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