Tagebuch
21. April 2020
Drei Stunden fehlt uns heute der Strom, was uns sehr zeitig auf die Beine treibt, denn ohne Strom geht kein Kaffee, kein Toaster, taut keine Semmel aus dem Tiefkühlfach auf, dafür alles, was im Kühlschrank bleibt, soweit es gefroren ist. Hie und da müssen eben Wartungsarbeiten sein. Man kann auch nicht an seinem PC schreiben, nichts ins Netz stellen, keine Mails beantworten, keine SPAM-Offerten löschen, die leckere Mundschutzangebote haben. Ende dieser Woche muss ich meine Zeitung mit Mundschutz kaufen, was ich wohl an einem Tag in der Woche ertragen werde. Jedenfalls besser, als den idiotischen Debatten im Fernsehen zu folgen, warum man im Saarland schon in den Kaufhof-Keller kann, in Vorpommern aber nicht. Seit wann interessieren sich lebende Saarländer für anhaltinische Baumärkte, wen in Sachsen macht es neidisch, wenn in Hamburg schon die Fußpflegerinnen an der Ferse hobeln dürfen. Ich denke heute angesäuert an nichts weiter.
20. April 2020
Heute wären wir nach einem Besuch auf dem Soldatenfriedhof Brixen, den wir nicht kennen und einem Besuch in Brixen, das wir sehr gut kennen, bestens, könnte man sagen, in Bologna gelandet. Tatsächlich sind wir, nachdem ich mich über die Nebenwirkungen von Stephan Hermlin halbwegs ausführlich ausgelassen hatte, zum Altwipferteich gewandert, trafen unterwegs einen jungen Mann, der mit einem Metalldetektor Schätze auf Unterpörlitzer Feldern suchte, auf einer Bank rothaarige Zwillinge, deren einen ist als Gerichtsberichter einmal als Zeugin erlebte, die sich schwer an Rasierklingen verletzt hatte, die jemand am Briefkasten angebracht hatte. Weitere Details sind mir nicht erinnerlich, ich schrieb um die 300 Gerichtsberichte für um die zwei Zeitungen. Ein Herr namens Wolfgang Michal, knapp ein Jahr jünger als ich, lebt in einer erstaunlichen Parallelwelt, aus der er für sehr linke Wochenzeitungen berichtet. Ganz kleiner Tipp: der Boss heißt Jakob Augstein.
19. April 2020
Heute wären wir zu unserer ersten Reise der neuen Saison gestartet: nach Italien, zunächst einmal nur zur ersten Zwischenübernachtung in Sterzing in Südtirol. „Als ich um neun Uhr nach Sterzing gelangte, gab man mir zu verstehen, dass man mich gleich wieder wegwünsche.“ So steht es bei Goethe unter dem Datum des 11. September 1786. Wir hätten uns morgen ganz von selbst weiter gewünscht: erst nach Brixen, später bis Bologna, wo wir noch nie waren. Zum Ausgleich teilte am Morgen die verehrte Foto-App mit, wo wir im vorigen Jahr am 19. April waren: in Chemnitz. Aus dem Kopf hätte ich es nicht mehr gewusst. Beim Blättern in alten Heften von „Sinn und Form“ fällt mir nicht nur ein Plakat des Deutschen Theaters in die Hände, sondern ein gefaltetes Blatt mit Tipps für uns junge Eltern. Denn als Heft 6 des Jahrgangs 1978 erschien, waren wir junge Eltern, die wissen sollten, dass man mit bestimmten Mengen Schleim bestimmte Mengen Babysan vermischte.
18. April 2020
Nicht immer ist die sonnabendliche LITERARISCHE WELT mir eine helle Freude, zu viel ist im Lauf der Jahre verloren gegangen, zu viel an Neuem scheint mir sehr gut verzichtbar, heute aber bin ich zufrieden wie ein Leser nur sein kann: Zwei volle Seiten darf Nell Zink füllen, Amerikanerin, die in Bad Belzig wohnt, was seltsam genug ist, und zwar unter der Überschrift „Auf dem Robert-Walser-Pfad“. „Ich besitze 28 seiner Bücher und habe ein Talent für gedankenlose Wanderungen wie er.“ Schreibt Zink. Nun, ich besitze nur 20 Bücher von ihm, dazu sechs über ihn und wanderte in Herisau natürlich auf dem genannten Pfad. Ich beabsichtige nicht, eine Walser-Biographie zu schreiben. Falls Nell Zink es tut, könnte es passieren, dass ich das Buch kaufe. Ich genieße Walser nur in kleinen Portionen, was leicht ist, weil er mehr Kleines und Winziges als Dickes und Langes schrieb. Beinahe hätte ich geschrieben, Walser habe Suchtpotential, dafür würde ich mich schämen.
17. April 2020
Seit ewigen Zeiten produziert eine mexikanische Brauerei das Bier Corona Extra. Ich trank es nie, weil es kein für meine Sammlung taugliches Etikett trug und trägt. Gestern nun fand ich, während ich mit der Frau an meiner Seite um den Stausee Heyda wanderte, um eben noch rechtzeitig vor Ausverkauf am Ende zwei leckere Bratwürste zu verspeisen, am Sandstrand, der breiter ist als sonst, weil der Wasserstand niedrig ist, ein leeres Six-Pack Corona Extra mit einer leeren Flasche Baileys daneben. Humor in Krisenzeiten: Ist es das Bier zur Krise oder die Krise zum Bier? Am 17. April 1995 reisten wir aus Flandern über Durbuy, La Roche en Ardenne und Luxemburg wieder nach Hause. Ich sah Luxemburg zum zweiten Male (1994 von Trier aus), in La Roche an der sich schlängelnden Ourthe war ich später noch zweimal, auch in Durbuy, wunderbare Gegend. Man trifft am Stausee viele Auswärtige, die Kennzeichen verraten es, auch etliche Jenaer ohne Mundschutz.
16. April 2020
Keine vermummte Corona-Schlange vor meinem Bäcker? Beim Näherkommen: kein Licht auch? Ein Zettel klärt auf: Betriebsruhe vom 14. bis 17. April. Zum Glück verfügt Ilmenau noch über Alternativ-Bäcker, auch wenn sie aus Geraberg kommen. Zum Zeitungshändler nehme ich gleich einen Wagen, obwohl ich natürlich immer noch keinen brauche für drei Zeitungen. Der Wagen hat den Vorteil, dass ich auf der Rolltreppe nicht laufen kann, also wertvolle Kräfte spare für den Gang auf Ilmenauer Wanderpfaden. Am 16. April 1995 sah ich erstmals Brügge und nie war es so schön wie bei diesem ersten Mal. Bei anderen Ersterlebnissen soll das nicht ganz so sein bei vielen Menschen, hört man bisweilen, Brügge aber war überwältigend. Weshalb ich immer wieder kam im Lauf der Jahre. Schon allein, um überall dort hineinzugehen, wo ich gern hineingegangen wäre, es aber unter Zeitdruck wohl nicht geschafft hätte. In den USA nichts Neues: sie sterben und sterben.
15. April 2020
Ich müsste nachlesen, ob ich an einem 15. April schon an die Toten dachte von Jean-Paul Sartre und Jean Genet bis zu Robert Musil und Ulrich Becher. Geschrieben habe ich über Ulrich Becher erst heute. Den Frost müsste ich erwähnen, der gestern und heute Morgen noch sichtbar war, als ich meinen Aufwachblick aus dem Fenster warf. Vermutlich schrieb ich auch schon irgendwann, dass ich am 15. April 1995 direkt neben dem Genter Altar stand, ohne es zu wissen und dann später die Stadtführerin verfluchte, weil die nicht sagte, man müsse extra zahlen, um den Altar zu sehen. Sie kannte die deutschen Geizkragen sicher bestens, die bei Busreisen zusätzlichen Eintritt hassen wie Veganer ein Leberwurstbrot und seine Vertilger. Erstaunliche Funde mache ich derzeit in uralten DDR-Anthologien: Ich finde Stephan Hermlins Stalin-Hymne und Erwin Strittmatters „Aus dem Tagebuch eines Braunkohlenhäuers“. Schön viel Stalin noch 1953, selbst ich wurde eigens geboren.
14. April 2020
Heute hat einer seinen 100. Geburtstag, der nicht in Vergessenheit geraten konnte, weil ihn ohnehin niemand kannte: Erwin Bekier, einer der fleißigsten Autoren der DDR-Literatur, dem die Bücher, vor allem aber die Hefte und Broschüren, fast wie vom Fließband rollten. Allein in der „Tatsachen“-Reihe des Militärverlages veröffentlichte er insgesamt 15 Titel, davon zwei unter neuer Nummer sogar doppelt. Die Reihe brachte es zwischen 1961 und 1990 auf stolze 342 Hefte. Nur ein einziges Buch von ihm behielt ich, als ich im Zuge der großen Nachlassauflösung im Oktober Platz schaffen musste: „Die Insel der sieben Schiffe“, gelesen im April 1967. Drei Jahre später war dieses Buch aus dem Kinderbuchverlag Berlin das erste, in das ein lebender Autor ein Autogramm für mich schrieb: „Für Eckardt von Erwin Bekier, 2. Juni 1970“. Mein Vorname doppelt falsch. Das prägt. Es dauerte bis 1974, ehe ich das nächste Autogramm einsammelte: Von Heiner Rank in „Autodiebe“.
13. April 2020
Am 13. April 1995 traten wir unsere kleine Flandernrundfahrt an mit den Stationen Antwerpen, Leuven, Gent, Brügge und Oostende. Zweimal vorher war die Reise abgesagt worden, weil es zu wenig Interessenten gab. Unser Ausgangsquartier wurde ein Hotel „Fimotel“ im Gewerbegebiet am Rande von Brüssel, nicht weit vom NATO-Hauptquartier, das ich schon kannte und noch mehrfach sah. In Antwerpen und Gent war ich bis heute nicht wieder, in Brügge, Oostende und Brüssel dafür oft. Der 13. April war ein Donnerstag, wir waren zeitig genug am Ziel, um noch eine Rundfahrt mit mehreren Haltepunkten durch die belgische Hauptstadt zu absolvieren. Manneken Pis trug an diesem Tag etwas wie einen weiß-blau-türkisen Jogginganzug, um den Hals ein Mikrofon und Kopfhörer. An Stephan Hermlin dachte ich mit Sicherheit nicht, der seinen 80. Geburtstag feierte und noch nicht als der große Lügner der DDR-Literaturgeschichte galt wie anderthalb Jahre später.
12. April 2020
Dass dies der erste Ostersonntag sein würde, an dem meine Mutter nicht am Mittagstisch sitzt und sich sogar ein Schlückchen Rotwein einschenken lässt, dessen Rest ich dann austrinken muss, war absehbar. Dass wir ganz allein sein werden, nicht. Kein Kind, kein Enkel, Oma ohne Uroma und abends erklärt Bill Gates, der Experte für Pandemien, dass das nächstes Ostern womöglich immer noch so sein wird, aber wir sollten vielmehr online tun. In den ärmsten Ländern wird womöglich auf dem brutalstmöglichen Weg das Bevölkerungswachstum gestoppt. Online Urlaub machen ist aber definitiv Scheiße. Im virtuellen Buschenschank kann man sich womöglich zuprosten, aber man rückt nicht zusammen, wenn noch ein Platz fehlt, man trifft auch nicht die, die man jedes Jahr trifft. Wann werden die ersten Frauen von den Balkonen springen, nachdem sie acht Wochen nicht beim Frisör waren und sich morgens im Spiegel nicht erkannten? Und nachher ist nichts mehr wie vorher.
11. April 2020
Simone Thomalla hat heute Geburtstag, die ich nicht so mag. Stefanie Stappenbeck hat heute auch Geburtstag, die mag ich, seit sie an die Stelle der leider verstorbenen Maja Maranow trat, die ich noch mehr mochte. Dem 100. Geburtstag von Marlen Haushofer habe ich meinen zweiten Versuch zu ihr gewidmet, weitere werden bei passender Gelegenheit folgen. Ein ungeplanter Text ist heute fast nebenbei entstanden, außerdem bewegten wir uns auf dem Ilmenauer Rundwanderweg auf Pfaden, die wir noch nie gesehen hatten, das Ergebnis: die 12.000 Schritte wieder einmal erreicht. Wein aus der Wachau traf ein und führt somit vor, dass dieser Weg auch funktioniert. Das eröffnet neue Chancen für Jahre, da wir, wie in diesem Jahr, nicht nach Weißenkirchen fahren. Wir müssen nicht auf unsere Lieblingströpflein verzichten. Von denen es mehrere gibt. Auf dem Balkon mit Kuchen und Kaffee, zu Ostern eher selten in den vergangenen Jahren, das Wetter spielt noch mit.
10. April 2020
Nicht einmal die Medaillenspiegel Olympischer Spiele oder Leichtathletik-Weltmeisterschaften studierten wir, als die DDR noch alles gewann, so aufmerksam Tag für Tag wie diese Corona-Statistiken auf den Textseiten 812 ff im ARD-Videotext. Unsere amerikanischen Freunde haben derzeit herbere tägliche Verluste als im Vietnamkrieg und das war, wie wir gesamtdeutsch damals dachten, ein schmutziger Krieg. Zugleich rückt der Tag immer näher, da unsere erste diesjährige Reise gen Italien gegangen wäre. In meiner Duschkabine erzeuge ich Italien-Feeling mit den noch vom Vorjahr stammende Gelen „Leocrema Solare“ und „Genera Mentolo-Aloe“, zu Mittag essen wir „Spaghetti Frutti di Mare“ und auf dem Balkon mit Blick auf unerlaubte Zusammentreffen von vier Personen, die nicht unter einem Dach wohnen, erinnern wir uns der Karfreitags-Prozession auf Procida. Die zweite Italienreise 2020 werden wir erst im Mai vermissen, es bleibt noch etwas Zeit.