Tagebuch

3. Mai 2020

An niemanden denken, geht einigermaßen, an nichts denken geht nicht. Während ich des Weges gehe, 5200 Schritte am Stück unter langsam kräftiger werdender Maiensonne, denke ich den Satz: Dem Haar ist es egal, in welcher Suppe es gefunden wird. Sätze, die nach diesem einen Satz fallen könnten, gar müssten, fallen mir keine ein. Es ist ein Sonntag wie mancher, immerhin drei Kapitel über Venedig, eine Geschichte, die ich, wenn ich müsste, den schönsten Geschichten zuordnen würde, die in der DDR geschrieben wurden, ich muss aber nicht. Es gibt weiche Mahlzeiten für mich, nachdem auch das zweite Provisorium nicht halten wollte, was bis mindestens kommenden Donnerstag Geduld erfordert und auch dann werde ich nicht auf Nussknacker umschulen. Man kann wieder in den Ilmenauer Tierpark, nur muss man bis zum letzten Einlass da sein. Die kleine Ziege, die fürwitzig ein neues Brett erkundet und beinahe ausrutscht, sieht man von außen ohne Eintritt.

2. Mai 2020

Minuten vor Mitternacht war ich fertig mit dem Riesenvergnügen, „Das Vergnügen“ zu lesen. Wäre ich jünger, hätte ich mir vor die Stirn geschlagen: Warum hast du das nicht schon früher gelesen? Ich bin aber nicht jünger und mit 67 einer 70-Jährigen irgendwelche literarischen Liebes- oder ähnliche Erklärungen zu machen, ist auch irgendwie nicht standesgemäß. Natürlich ahne ich, was mich abhielt, denn inzwischen habe ich auch seitenweise Kritiken zu „Das Vergnügen“ gelesen. Ich ließ mich nur ungern auf die Figur des Arbeiters in der DDR-Literatur stoßen und wenn sogar Anneliese Löffler (bei Volker Braun: Frau Professor Messerlein) das Buch toll fand, konnte es kein Buch für mich sein. Weit gefehlt, aber tief in die verkehrte Welt der DDR hinein führend! Man las nicht, was gelobt wurde allseits. Rückblickend kann ich mich trösten: der Westen las es auch nicht, war nicht dissidentisch, war „Literatur der Arbeitswelt“, roch irgendwie nach Gruppe 61 und Erika Runge. Alles Unfug: Angela Krauß hat 1984 ein großes Buch geschrieben, so dünn es auch war.

1. Mai 2020

Nicht der Tag der Arbeit sei heute, sondern der Tag der Kurzarbeit. Da sage noch einer, unsere beitragsfinanzierten Hauptkommentatoren hätten keinen Humor. Ein erster Mai ohne Bratwurst ist wie ein Hermlin ohne Falschaussage zu seinem Leben im Exil bis 1945. Während ich mich in zarten Schritten durch eines meiner zahlreichen Venedig-Bücher knabbere, reißt mich ein Blick auf meinen Arbeitstermin-Kalender buchstäblich aus der Bahn: morgen hat Angela Krauß ihren 70. Geburtstag, damit die nicht überraschende Überraschung signalisierend, dass die Angehörigen des Jahrgangs 1950 dran sind mit dem Siebzig-Werden. Eben noch mimten sie den Rentnerlehrling, manche blieben der Literatur treu und schon: Rums. Den Jahrgang 1950 habe ich in Griffweite, ziehe die bescheidenen drei Krauß-Bücher heraus, die ich besitze, darunter das Debüt „Das Vergnügen“ und lese mich fest. Der Tag vergeht, ohne dass ich ins Tagebuch schreibe. Deswegen.

30. April 2020

Darf ein Kommunist mit fest haftender Klassenkampfmoral eine Corona-Maske tragen, die von ausgebeuteten Frauen in Indien genäht wurde im 14-Stunden-Tag? Das wäre einmal eine Frage, die auch ohne Virologen-Beitrag geklärt werden könnte. Dürfen Feuilletons, die nicht über Theater, nicht über Konzert, nicht über Ausstellung berichten können, selbständig auf die Idee kommen, wenigstens vorübergehend mehr über Bücher schreiben zu lassen, es müssen auch nicht immer die üblichen Hype-Schwarten der üblichen Bestsellerlisten oder der jüngsten Long-List sein? Ich kann an Eides statt versichern, dass Bücherlesen im Homeoffice sehr gut geht, über Bücher und ihre Autoren, die auch Autorinnen sein dürfen, schreiben, selbstredend auch. Weil der April heute zu Ende geht, etwas zum April, von Martin Stephan: „Bevor es richtig Sommer wird, passiert es in manchen Jahren, dass der April schon sonnenhell und sommerheiß sich gibt.“ In manchen, ja.

29. April 2020

Wir erobern neue Wanderstrecken. Seit Montag stemmen fleißige Werktätige des kapitalistischen Bauwesens in unserem Nebenaufgang den Betonboden im Keller auf für das Loch, in das hinein später der Fahrstuhl sinken wird. Wir kennen die Übung von unserem Fahrstuhl, doch waren wir damals noch Angehörige der arbeitenden Bevölkerung, während wir jetzt Rentner sind. Heute hatte ich vom Dauer-Wummern schon am späten Vormittag derartige Kopfschmerzen, dass ich unleidlich zu werden drohte, was extrem selten vorkommt: die Kopfscherzen meine ich natürlich nur. Weil das  Bauschaffen auch in jene Zeit reicht, in der meine Nachmittagsruhe fällig wird, brachen wir kurz entschlossen ins Schortetal auf. Liefen eine schöne große Runde von reichlich fünf Kilometern und kamen nach Hause, als die Pressluft nicht mehr presste, der Großventilator nicht mehr lüftete und überhaupt das Leben sich darbot, wie es eben so ist. Lektüre von William Dean Howells fortgesetzt.

28. April 2020

Noch immer sterben unsere amerikanischen Freunde unfroh vor sich hin, die Briten versuchen, in den Kampf um Platz 3 der Sterbestatistik einzugreifen, während ihr Boris sich wieder dem Regieren widmet. Eines meiner gestern eingesetzten Provisorien liegt bereits für den nächsten Termin im Regal, es wollte nicht haften, als ich auf einen wattigen Toast biss. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte ich versucht, mit den Restzähnen eine Haselnuss zu knacken, wovor mich die vermummte Jung-Dame beim Zahnarzt eigens gewarnt hatte. Heute nur Weichnahrung, die zwischen Zunge und Gaumen zum Schlucken gequetscht wurde, auch keine Groß-Märsche heute wie schon gestern nicht: es zittern die morschen Knochen. Es hat sich mir eben ein Kleinwerk zu Bruno Apitz entrungen, dem ich Persönliches beimischte, was mit fortschreitendem Alter wichtiger wird. Wer erinnert sich schon meiner jüngeren Jahre, wenn nicht ich und nochmals ich, wer denn??

27. April 2020

Nicht immer ist die langsame Rückkehr zur Normalität ein erfreuliches Geschehen. Ich zum Beispiel sah gestern entsetzt, dass die Politiker-Talk-Runde wieder da ist: also das Geschwafel der Männer und Frauen, die sich nie ausreden lassen, die die Fragen der Moderatorin nicht beantworten, die alles besser wissen als jeweils alle anderen in der Runde, kurz, die so wunderbar durch ruhige Experten ersetzt waren für einige wenige schöne Wochen. Nicht ausdenkbar, was wir 2021 für Mist sehen werden, weil ja derzeit auch nichts gedreht wird. Tatorte mit Mundschutz? Wir werden auch im Theater nichts sehen, weil ja nichts geprobt wird oder wird geprobt? Und dann sitzen diese Talk-Marodeure da und versuchen sich gegen Fußball stark zu machen. Man müsste ihnen aus kurzer Distanz einen direkten Freistoß gegen die Rüben ballern. Heute dann knapp drei Stunden flach beim Zahnarzt, der Termin vom 6. April. Nur ich nicht vermummt, dafür die anderen drei sogar doppelt.

26. April 2020

Als ich mit meiner neuen rabenschwarzen Corona-Maske die Tankstelle stürme, um mir meine sonntägliche Sonntagszeitung zu holen, werfen sich die anderen Kunden zu Boden und falten die Hände im Nacken, während die Verkäuferin kleinlaut sagt: „Es ist aber kaum Geld in der Kasse.“ Das ist natürlich frei erfunden: wahr ist nur die schwarze Corona-Maske, am Vormittag frisch genäht, weil alle anderen mir die Ohren zu Segelflieger-Löffeln verunstalteten, sie waren einfach zu knapp. Die Gummilitze, früher Schlüpfer-Gummi genannt, ist längst vom Markt verschwunden, von den großen Feuilletons noch unbemerkt, weil die auf die ersten Berichte vom zurückkehrenden Klopapier spekulieren. Gummilitze vom Corona-Großprofiteur Amazon wird voraussichtlich Mitte bis Ende Juni geliefert, geht auch bei Amazon Prime nicht schneller. Bis dahin aber könnte die Maskenpflicht bereits durch eine Ganzkörperkondom-Pflicht ersetzt sein, Probelauf in Bayern.

25. April 2020

Einst hatte ich einen Kollegen des Nachkriegsjahrganges 1948, der saß in einem Wohnwagen auf dem Parkplatz nahe des Hauses, in dem gerade eben die Räume renoviert wurden, die er und die anderen dann als neue Redaktion beziehen sollten. Da klopfte es an die Tür, so oder ähnlich hörte und las ich es inzwischen sicher ein Dutzendmal, und draußen stand: Norbert Blüm. Der Norbert Blüm. Mein Kollege gab bereitwillig Auskunft über die Interna seines Hauses, Geheimnisträger war leider nie eine berufliche Option für ihn und so konnte Norbert nach Kontakt mit einem Vertreter des Volkes, das sich mit seinem Volk zu vereinigen trachtete, zu Hause berichten: die sind ganz in Ordnung da hinter den Bergen, sie tragen ihr grasgrünes Herz am linken Fleck. Nun ist der Norbert tot. Was mich daran hindert, hier und heute über Liebesperlen zu parlieren, was ich zwar dennoch tun werde, nur halt anderen Ortes. Dass wir heute aus Italien heimkehren würden, erwähne ich nur.

24. April 2020

Es scheint ruhig geworden um Otto Reutter, jedenfalls lief mir der Name schon länger nicht mehr über den Weg. Auch ich kann nur eine olle Kamelle aus dem Archiv zaubern, die am 19. Februar 1997 im eben von mir übernommenen Lokalteil von FREIES WORT stand. Kann sein, dass ich da noch mit redaktionseigenem Opel Corsa durch die Gegend fuhr, weil mein weinroter Peugeot nach Frontalcrash mit einer Gartenmauer in Martinroda am 30. Dezember noch seiner Wiederherstellung harrte. Ist aber unwichtig. Die Frau, die sich mir offenbarte als die Kreischende, die ich im Text erwähnte, war eine Kollegin, die gelegentlich auch für mich schrieb, was die Sache umso hübscher machte. Einer der Götter meines blauen Kritikerhimmels, Alfred Polgar, starb heute vor 65 Jahren. Über gelehrte Theaterkritiker schrieb er: „Ich habe bei deren Lektüre immer die Empfindung: die Niederkunft des Zettelkasten.“ In ungeraden Jahren fühle ich mich angesprochen. Jetzt gerade nicht.

23. April 2020

Wir Home-Office-Rentner legten kurz die beiden Fernbedienungen aus der Hand gestern, mittels derer wir an den aufgenommenen vierten Teil von „Maria Theresia“ gelangen wollten und machten fast obszöne Sieges-Gesten: 4,2 Prozent mehr Rente: wir können vom Fünf-Euro-Wein zum Sieben-Euro-Wein übergehen, falls uns nicht vorzeitig der kleine Killer-Schlingel unters Beatmungszelt zwingt. Heute sind wir wieder nüchtern und denken an Albrecht Haushofer, den SS noch kurz vor der Befreiung am 23. April 1945 unmittelbar neben dem Gefängnis Moabit mit Genickschuss tötete. In der Manteltasche hatte er die Gedichte bei sich, die als „Moabiter Sonette“ berühmt wurden, vor allem das eine, in dem er Schuld bekennt. Als wäre der Tod nicht schon tragisch genug, haben ganz schlechte Köpfe aus den Gedichten im Mantel blutige Blätter in der Hand gemacht. Die wären am 12. Mai 1945 todsicher nicht mehr gefunden worden, es liest sich nur dramatischer. Dummköpfe!

22. April 2020

Kaum auszudenken, wenn der real existierende Kommunismus in seiner Mutation als Sozialismus überlebt hätte. Gestern hätte es gigantische Festakte gegeben, heute, am 150. Geburtstag von Lenin, wäre in der großen Sowjetunion vielleicht sogar Lenins Geburtsstadt wieder in dem Zustand den Arbeitern und Bauern sowie den verbündeten Vertretern der Intelligenz übergeben worden, in dem Lenin, als er noch Uljanow war, sie gemeinsam mit dem Licht der Welt erblickte. So nun: nichts. Lenin ist degradiert zum Vorläufer von Stalin, obwohl Stalin alles andere als ein Nachläufer war. Hätte es Lenin nicht vorzeitig aus der Bahn getragen, wer weiß, welche weiteren Anläufe zur Weltrevolution es gegeben hätte. Nur die Mongolen trauten sich noch sehr früh, was aber auf den Gang der Geschichte keinen Einfluss hatte, nur auf die Theorie vom Überspringen ganzer Etappen der Geschichte, was wiederum Mao-Tse-Tung auf die lustige Idee mit dem großen Sprung brachte.


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