Tagebuch
9. Februar 2020
Hennig-Wellsow, die Blumenwerferin, fordert CDU und FDP, die Steigbügelhalter des Faschismus, auf, nun für Bodo Ramelow zu stimmen. Prima Idee: Schalke soll zwei Eigentore schießen, um Dortmund vorn zu lassen. Na gut. „Othello“ ging in die Unterhose, man kann es schon nachlesen, ich war bereits um elf Uhr beim Korrigieren. Mir tun immer die Schauspieler/innen leid, die sich da Gewalt antun müssen (das darf ich behaupten, weil ich einige von ihnen schon sehr viel besser sah). Kurios ist die Annahme, nur Steigbügelhalter-Mandate seien bei Neuwahlen in Gefahr, erst einmal hat die ganze Bande zu zittern, nicht vorhandene Wahlkampfkassen müssen aus dem Hut gezaubert werden und so weiter. Auch die Annahme, Neuwahlen würden zu klaren Verhältnisse führen, ist eine rein fiktive. In den Spätnachrichten gestern war die Rede vom journalistischen Sauerstoff, der fehlte vor lauter Thüringen, es gäbe auch noch den Rest der Welt. Das hätte ich nun nicht gedacht.
8. Februar 2020
Mehr als gestern habe ich vermutlich seit meiner überraschenden Verabschiedung aus dem Hause „Freies Wort“ 1973 nicht an einem Tag geschrieben, damals waren es Schreibmaschinenseiten eines Pseudo-Romanbeginns mit mir als Helden in der Rolle des Opfers von Stasi-Chargen. Die ich noch nicht als solche entlarvt hatte, das dauerte noch gut zwanzig Jahre. Gestern waren es Richard Dehmel und Eva Strittmatter in dieser Reihenfolge, den Dehmel hatte ich schon geopfert in der sicheren Annahme, ihn auf keinen Fall zu schaffen. Dann war er fertig und die Eva Strittmatter schrieb sich wie von selbst. Meine Bio-Festplatte im Kopf mit Volltextsuche belohnt mich für langes intensives Speichern. So kann ich entspannt nach Coburg fahren, „Othello“ sehen. Das Wetter ist noch bestens, für morgen gibt es so viel Orkanwarnung, dass man Angst bekommen müsste. Da wir aber allabendlich Weltuntergang in der Tagesschau haben, bleiben wir gelassen.
7. Februar 2020
Als es um Flüchtlinge ging, waren Stimmen chorisch im Umlauf, die glaubten, man dürfe keine Katastrophen-Metaphern aus der Natur entnehmen, um Menschen zu charakterisieren. Das gilt nur begrenzt, glaubt man den im Wesentlichen gleichen Köpfen, die ihren eigenen Inhalt teilweise arg irrtümlich für Hirn halten, wenn es um Thüringen geht: Dammbruch und Beben sind jetzt angesagt. CDU und FDP seien Steigbügelhalter des Faschismus, las man. Brandmauer heißt das Wort des Tages. Gut möglich, dass ich angesichts kommender Neuwahlen meine Tätigkeit als Wähler einstelle. Grauenhafte Vorstellung, dass sich eine abermals die absolute Mehrheit verfehlende Triple-Entente in Thüringen die Stimmen von Steigbügelhaltern holen müsste oder sich tolerieren ließe. Die AfD könnte natürlich dann auch Ramelow wählen, was ihn endgültig in die Bundespolitik treiben würde. Denn er müsste ja zurücktreten und nach Neuwahlen rufen nach den Neuwahlen.
6. Februar 2020
Und nun, Demokratie? Früher warst Du etwas, bei dem der vor den Wahlen immer gern Souverän genannte Volltrottel der Zeit nach den Wahlen (wenn er wieder nicht die jeweils Richtigen gewählt hatte) ein Votum abgab. Die mit seinem Votum Gewählten durften hinwiederum, was man gern repräsentative Demokratie nannte, dann ihrerseits auch wählen. Jetzt ist es so, dass Gewählte eigentlich nicht mehr wählen dürfen, weil: was immer sie unterstützen, den anderen auf die Füße fällt. Würde ich mein Enkelkind in eine Krippe geben wollen, die mit den Stimmen der AfD saniert wurde? Nein, ich würde mein Kind natürlich, ja was eigentlich? Wer nach Neuwahlen plärrt, läutet eine neue Phase in der Entwicklung der Demokratie ein: Wir wählen durch bis morgen früh und singen bummsfallerah. Es bliebe nur zu definieren, wie groß die Gruppe sein darf, der ein Ergebnis von Wahlen gefallen muss, wenn nicht der Ruf nach Neuwahlen immer, immer lauter werden soll.
5. Februar 2020
Was sind wir für ein lustiges Völkchen, wir Thüringer! Wir hatten schon einen Sauckel, da wussten die anderen noch gar nicht, was so ein Sauckel ist. „Ich sterbe unschuldig“, sollen seine letzten Worte gewesen sein, ehe ihn der Nürnberger Strang am Weiterreden hinderte. Später waren wir die Rötesten weit und breit und selbst in Berlin wunderten sich die hohen Genossen, wie streng in Suhl die Bräuche gepflegt wurden beim Kampf gegen die Unterwanderung durch den Klassenfeind. Es kamen andere Zeiten, ein Ministerpräsident aus dem Gummiwerk, einer aus dem Westen, dann einer aus der Schule, eine aus dem Pfarrhaus und schließlich Bodo. Bodo war der erste Bodo, als alle anderen noch nicht wussten, was Bodos sind. Und heute haben wir den ersten Kemmerich, die Liberalen müssen glauben, dass hier nicht alles mit linken, pardon, rechten Dingen zugeht. Ein liberaler Ministerpräsident: es werden Blumen geworfen, nicht auf die Bühne, aber auf den Boden.
4. Februar 2020
Hätte ich gedacht, dass Eva Strittmatter als alte Frau so tratschig sein könnte wie im Gespräch mit Irmtraud Gutschke, die daraus ein ganzes Buch gemacht hat? Nun werde ich wohl doch noch ihren Ehebriefwechsel lesen müssen, soweit er veröffentlicht ist. Einmal sagt sie der Gesprächspartnerin, sie habe versucht, Strittmatter davon abzubringen, das Buch „Eine Mauer fällt“ zu veröffentlichen, es fiele hinter den „Ochsenkutscher“ zurück, kurz darauf bekennt sie, den „Ochsenkutscher“ noch gar nicht gelesen zu haben oder sie vermischt die Zeiten und die Fragerin geht dem nicht nach. War ich wirklich neugierig zu wissen, wo Strittmatter keine Zähne hatte, und wie seine nackten Zehen aussahen? Dass er eine Daunenjacke wollte, wie Hermann Kant sie besaß? Schnee heute draußen, Sonne im Wechsel, April. Eva Strittmatter wusste noch nach 55 Jahren, wie die neuen finnischen Schuhe 1954 aussahen: „in dunklem Grün, Rindleder mit Steppnähten und dicken Specksohlen“.
3. Februar 2020
Die gesamte Reihe der Bücher von Ruth Kraft, die im Regal meiner Eltern standen, ist in einer der 44 Bananenkisten nach Sachsen-Anhalt gerollt, weil sie bei mir keinen Platz finden konnten. So kann ich an ihrem heutigen 100. Geburtstag nicht einmal eins davon in die Hand nehmen, mich zu erinnern, wie ich früher in ihnen blätterte. Heute bedenke ich, dass Annette Kolb eben ihren 50. Geburtstag nicht feierte, als Ruth Kraft geboren wurde. Und bin, der pure Terminzufall will es, erst auf dem Friedhof in Pennewitz, dann auf dem Friedhof in Gehren und sehe mit Schrecken, dass mein Freund Frank nun auch schon seit genau einem Jahr tot ist. Unsere Gräber waren alle wie frisch geputzt, nichts zu tun also, seines sah auch gut aus. Über den Friedhof in Gehren strömte Wasser, als wäre irgendwo unterirdisch ein Rohr geplatzt. Ich beginne, einen Teil dessen, was ich zu Annette Kolb brauchte, in die Regale und auf die Stapel zu räumen, es geht weiter, immer weiter.
2. Februar 2020
Drei Stunden mit Pause, das sind Theaterabende, wie sie immer seltener werden, selbst die Pausen sind Opfer und man kann nicht den Klimawandel dafür verantwortlich machen. Es gibt Kraftfahrer, die langsamer werden, wenn ein Schild am Straßenrand ihnen zeigt, dass die Begrenzung auf 70 kmh aufgehoben ist, Kraftfahrer, die angesichts grüner Ampeln vor Augen langsamer werden. Wie auch immer: ich sehe noch die Dortmunder Tore zu Hause und heute bin ich, als die Putenoberkeule eben servierbereit ist, schon fertig mit meinem Text. Ich habe, wie fast immer, nicht einen Blick auf meine Notizen geworfen und bin wieder einmal froh, nicht für irgendeine Redaktion nach Weimar gefahren zu sein. Wenn mich einer im Theater fragt, für welche Zeitung ich schreibe, stelle ich die Gegenfrage: Wieso Zeitung? Deren Redakteure kommen mit ganzen Familienverbänden zu ihren Parkettplätzen zwei Reihen hinter mir, aber sie haben keinen Platz im Feuilleton, paar Zeilen nur.
1. Februar 2020
Zwei komplette Monate ohne Theater: wann gab es das zuletzt? Aber es liegt nicht an mir, wenn diese Tempel der Kultur nichts im Spielplan haben, was mich lockt. Meine Allergie gegen Romane auf der Bühne ist wie eine Allergie gegen Katzenhaare, sie spricht nicht gegen Katzen. Nur der Allergiker in mir verträgt sie nicht, ihm treten Tränen in die Augen, er hustet und im schlimmen Falle verröchelt er, was kein schöner Tod genannt werden darf. Ich liebe Romane zwischen zwei Buchdeckeln deutlich intensiver, als ich sie lese, aber Verdrängungen der Texte, die für die Bühne geschrieben wurde, das ist wie ein Skulpturenpark im Konzertsaal, er hat da nichts verloren. Nun also an diesem mittelmäßigen Sonnabend wieder Theater: ich fahre nach Weimar, um „Romeo und Julia“ zu sehen, die seltener gespielt werden, als man vermutet. Ich las mich warm am Morgen mit der Vorlesung über die Tragödie, die einst Gustav Landauer hielt. Eine von zwanzig Vorlesungen.
31. Januar 2020
Der Januar geht, mit ihm die Briten und René Schickele, der heute vor 80 Jahren starb, hätte das Verlassen der EU keinesfalls als Zeichen insularer Weitsicht gedeutet. Aber so sind sie halt, diese Briten. Im kommenden Jahr ist es 20 Jahre her, dass ich in ihrer Grafschaft Kent auf Achse war, von Ramsgate aus, die King Prawns beim Chinesen in der Nachbarschaft habe ich in guter Erinnerung, ich sehe auch den Mann vor mir, der den Schülerlotsen spielte, während wir in unserm mintgrünen Frühstücksraum entsetzt die Männer beobachteten, die das English Breakfest mit seinen fettigen Sausages verschlangen, umgeben von Bohnen in rotem Fett. Wir hatten kleine dreieckige Toasts, supersaure Gürkchen und winzige Salamischeiben, die so rot leuchteten, als hätten sie den Sieg im Lebensmittel-Farbcontest gewonnen. Die Seniorchefin fragte mit hoher Damenstimme: „Cereals?“, was wir mit Kopfschütteln beantworteten. Vielleicht wären die Briten ohne Cereals noch in der EU?
30. Januar 2020
Das war mal ein Buchtitel 1952: „Mutter von Gori – wie groß ist dein Sohn. Deutsche Dichter singen von Stalin“. Herausgeber war Herbert Otto, damals im ungewöhnlich zarten Herausgeber-Alter von 27 Jahren, man kann bisweilen ein einzelnes Exemplar des nicht einmal 100 Seiten starken Bändchens ergattern, wenn man 120 Euro dafür ausgeben möchte. Vertreten darin ist auch Walter Stranka, den man kennen kann, aber nicht muss, nur weil heute sein 100. Geburtstag ist. In der immer noch zweimal im Jahr erscheinenden Literaturzeitschrift „Palmbaum“ gab es 1993 einen Nachruf auf ihn. Ich erinnere mich nicht, je etwas von ihm gelesen zu haben, was gegen mich verwendet werden darf. Allerdings gehöre ich auch nicht zu denen, die sich die Hände reiben, wenn sie einen erwischen, der in frühen Jahren ein Gedicht auf Stalin verfasste. Ich las als Student sogar Stalin-Schriften, fand sie allerdings so stark alles vereinfachend, wie ich es niemals geglaubt hätte.
29. Januar 2020
Für die große weite Welt ist es keine Nachricht, für den einzigen Sohn meines Vaters schon: Der FC Rot-Weiß Erfurt stellt den Spielbetrieb ein, alle Spiele mit Erfurter Beteiligung werden annulliert. Ich würde lügen, wenn ich mehr als gewohnheitsmäßiges Rest-Interesse für den Klub behaupten wollte, ich habe mit dem Blick auf den Video-Text alles erfahren, was ich noch erfahren wollte. Zu DDR-Zeiten war ich Erbe meines Vaters: es gab nur den FC Rot-Weiss, der einmal der SC Turbine war und sogar Meister. Später mussten alle guten Erfurter nach Jena, Dresden oder zum BFC und wenn zweimal im Jahr die Spiele gegen den BFC anstanden, die Berliner bis zur 98. Minute weiter spielen durften, ehe endlich ihr 5:4 oder 4:3 fiel und in Mielkes Welt wieder alles in Ordnung war, dann waren das die Spiele, die man nicht vergaß. Einmal spielte Erfurt in Bremen unentschieden in einem Freundschaftsspiel: Es war, als wäre die DDR Europameister geworden. Fast. Ein bisschen.