Tagebuch
16. Januar 2020
Im Duell Handball gegen Zürich-Krimi siegt der Handball. Im Duell Moral gegen Ethik siegt die Ethik. Jedenfalls im Bundestag. Selbst Bürger mit einem Doktortitel, denen man in früheren Jahren jedenfalls eine gewisse elementare Bildung wie selbstverständlich zuordnete, schwafeln am Pult von ethisch, wenn sie moralisch meinen. Ethisch klingt einfach besser, gehobener, das Säuerliche fehlt, weshalb es ja auch der Moraltheologie überlassen bleibt. Deren Vertreter früher, als die Mauer noch realiter und nicht nur in den Köpfen stand, immer an die Kamera gerufen wurden im zahmen Westen, wenn es Moralisches zu bereden gab, nie Ethiker. In den wahrlich nicht mit Höhenflügen zu verwechselnden Ethik-Vorlesungen und Ethik-Seminaren an der Humboldt-Universität zu Berlin, die ich genießen durfte bei Helga E. Hörz und Ursula Wilke, kannte man den Unterschied. Ich habe, mit Westmaßen gemessen, ein Ethik-Examen, weshalb ich mir anmaße, Stuss auch Stuss zu nennen.
15. Januar 2020
Drei kostenlose Anzeigenblätter, mittlerweile alle unter einem Dach, beglücken pro Woche meinen Briefkasten. Die Frage, ob jene vollkommen unbekannten Autoren, die alleweil mit ihren nur in ihren vollkommen unbekannten Verlagen oder bei ihnen zu Hause erhältlichen Büchern vorgestellt werden, für diese Vorstellung bezahlen müssen, stelle ich mir nicht mehr. Dafür stelle ich mir heute die Frage, ob einer, der das 642. DDR-Museum auf dem Territorium der ehemaligen DDR eröffnen will und dafür Exponate und Raum braucht, nicht wenigstens gefragt werden sollte, worin er sich denn von all den anderen unterscheiden möchte, die es alle paar Kilometer schon gibt. Das aber wäre Journalismus. Ich könnte dem Mann ein paar Exponate schenken, die er garantiert nicht hat in seiner Privatsammlung, warum aber sollte ich? Ich bin bis auf weiteres noch immer in der Berliner Ausstellung der „Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ präsent. Mit Foto.
14. Januar 2020
Es gibt Zeitungen, die ich gleich lese und solche, die ich auf einen Stapel lege, die neuesten immer nach unten. Auf diese Weise geschieht es, dass ich manchmal volle zwei Wochen später erfahre, was vor zwei Wochen die kleine Redaktionswelt des jeweiligen Blatts bewegte. Zum Jahreswechsel hatten alle in ihren Rückblicken Greta Thunberg und alle, die es wissen sollten, erfuhren, dass das Kind am 3. Januar 17 Jahre alt wird. Also inzwischen ist sie 17 und ich versuche mich zu erinnern, was für heiße Feger in meiner elften Klasse anno 1969/70 mit 17 noch Träume hatten. Ich notierte mir das gleich in meinen ewigen Termin-Kalender, falls eines Tages falsche Altersangaben kreisen. Frauen sollen damit ja, Gender hin, Gender her, immer noch ihre alten Probleme haben. Die einzige emanzipatorische Entwicklung auf diesem Gebiet besteht darin, dass nunmehr auch Männer zickig werden. Meine verehrte Gattin verehrte mir heute nach Anprobe eine eigenhändig gestrickte Mütze.
13. Januar 2020
Würde ich derzeit ein Lektüre-Tagebuch führen, könnte ich ein gemischtes Programm notieren. Ein Pröbchen Annette Kolb, zwei Pröbchen René Schickele, dazwischen Armin Strohmeyr, einst Jahrgang 1966, jetzt nur noch promovierter Germanist. Bei Ludwig Meidner steckte mein Leserzeichen fast vier Jahre lang vor einem herrlichen Text mit dem verfehlten Titel „Verfehltes Liebesabenteuer“. Auch das gilt es zu akzeptieren: nicht jeder genialen Titel-Idee folgt ein guter Text, manch guter Text hat einen arg armseligen Titel abbekommen. Früher gab es Lektoren, das zu verhindern, heute sitzen die Headliner nicht ausgerechnet in Verlagen. Unser selbst in Ilmenau nicht weltberühmter Ilmenauer Friedrich Michael hat mehrere nette Texte über Annette Kolb hinterlassen, die nicht einmal in der Kolb-Biographik bekannt sind. Man könnte sich also fragen, wie die Jungs eigentlich arbeiten. Ich sitze im Glashaus: frage mich auch nicht, wie ich arbeite. Weil ich es weiß.
12. Januar 2020
Früher warnte der eine oder andere C1- bis C4-Professor vor dem Klimawandel. Einer, der eben noch vergeblich um Forschungsgelder für sein Projekt „Der Ameisenbläuling in der Südlausitz“ warb, definierte es flugs um in „Der Ameisenbläuling und der Klimawandel“ und wupp, kam die Stellenbewilligung für einen zusätzlichen Forschungsstudenten mit der Knete gleich mit. Nun sind leider inzwischen 99 Prozent aller Experten Klimawandel-Warner, man kommt also nicht einmal mehr in die Lokalsender am Bodensee mit seinen Warnungen. Deshalb müssen neue Warnfelder eröffnet werden. Das unabhängige Institut für Warnfelderforschung hat bereits erste Testwarner in den öffentlich-rechtlichen Spätprogramm-Bereich entsandt. Man warnt probehalber vor dem Ende der Evolution. Als ich die Ankündigung eines entsprechenden Warners hörte, wusste ich: viel fehlt nicht mehr. Wovor ich nun viel Angst haben soll, kann ich nicht sagen, ich sah den Professor nicht.
11. Januar 2020
Kaum ist die virtuelle Tinte des gestrigen Tagebucheintrags trocken, schon wäre als Ergänzung nachzutragen, dass ein blondiertes Kulturmädchen des MDR vor laufender Kamera von den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts spricht, also den Jahren vor 1933, wie sie sofort erläutert. Man müsste seine Gebühren zurückfordern oder das Mädchen solange Charleston tanzen lassen, bis es, wenn es von den „Roaring Twenties“ hört, sofort Brechdurchfall bekommt. Dann könnte sie gleich testen, wie gut das allabendlich empfohlene Reizdarmmittel wirklich ist. Vor 20 Jahren besuchte ich an einem einzigen elften Januar gleich zwei verschiedene Tiergärten. Erster war der „Dierenpark Wissel“, ich war an diesem Dienstag einziger Besucher und unternahm zwei komplette Rundgänge. Zweiter war „Burgers Zoo“ in Arnhem, überwältigend: echte Seekühe, echte Schlammspringer im Mangrove-Dschungel, eine Kapivara-Mutter mit drei Jungen, alles noch im uralten Jahrtausend!
10. Januar 2020
Georg Restle (Monitor) weiß zwar, wie wenige Reiche in Deutschland wie viel Vermögen besitzen, während im Gegenzug sehr viele Arme sehr wenig ihr Eigen nennen. Was er nicht weiß, ist, wann ein Jahrzehnt beginnt. Ein einfacher Nachholkurs „Unser Dezimalsystem und seine Konsequenzen für das Zählen im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk“ wäre vielleicht hilfreich. Schon nächstes Jahr um diese Zeit könnte der Mann, der, anders als ein gewisser Heiland, seine Feinde nicht liebt, erproben, ob er alles verstanden hat mit den 10, den 100 und den 1000. Ich selbst zum Beispiel sprach am 9. Januar 2010 während einer Jahresversammlung der Literarischen Gesellschaft Thüringen LGT mit Wulf Kirsten, der meinen Namen auf der Anwesenheitsliste gesehen hatte und ein Gespräch über meinen Namensvetter begann, den dichtenden Arzt aus Halle mit leider nur einem „l“ im Familiennamen. Niemand von uns glaubte da, ein neues Jahrzehnt habe begonnen.
9. Januar 2020
Die sieben bis dreizehn unverdrossenen Kurt-Tucholsky-Fanclubs mit und ohne Gemeinnützigkeit feiern seit den frühen Morgenstunden den 130. Geburtstag ihres Meisters. Währenddessen verlässt der Ilmenauer Weihnachtsbaum den Markt, was in der Bäckerei meines Vertrauens zu Äußerungen des Bedauerns führt. Es fügt sich, dass Kurt Tucholsky seinen Geburtstag genau zehn Tage nach dem 200. Fontanes hat, womit der Blick auf seine einschlägigen Hinterlassenschaften motiviert genug ist. Seinen 130. Geburtstag hat heute auch ein tschechischer Herr namens Karel Ĉapek, dem ich aus tiefer Verbundenheit und im Rückblick auf manche sehr schöne Lesestunde vor sechs Jahren einen kleinen Text widmete, der unter der Überschrift „Karel Ĉapek, ein Verschwender“ noch immer in meiner Rubrik JAHRESTAGE nachzulesen ist. Öffentlich zu bekennen und zu bedauern habe ich meine Ahnungslosigkeit im Felde schottischer Hochland-Hütehunde-Rassen.
8. Januar 2020
Ich besitze ein Duschgel, dessen Rückseite den Vermerk enthält: „Nicht zum Verzehr geeignet.“ Vermutlich sind Veganer der Idee verfallen, vegane Duschgele auf selbst gebackene Dinkelbrote zu streichen, weshalb sie nunmehr gewarnt werden müssen. Denn nur in den USA kann man mit einer Sammelklage gegen vegane Duschgele Millionär werden, falls deren Verzehr zu Erektionsstörungen oder Vaginaltrockenheit geführt hat. Die USA sind zwar unser Bruderland, von dem wir seit 75 Jahren siegen lernen, bisweilen aber übersehen wir wichtige Amerikaner derart gründlich, dass uns nur bleibt, in der selig dahingeschiedenen DDR nach Trost zu suchen. Dort wurde das bis heute einzige deutschsprachige Buch der überragenden Journalistin Dorothy Thompson gedruckt, der Westen kaufte die Lizenz und doch kennt die deutschsprachige WIKIPEDIA-Seite für sie bis heute nicht einmal die schlichte Tatsache, dass überhaupt etwas von ihr je auf Deutsch gedruckt wurde.
7. Januar 2020
Als ich noch meine Tradition der Januarreisen pflegte, mit einer Ausnahme führten mich alle nach Holland oder Belgien, die Ausnahme hieß Grafschaft Bentheim, war gleich die erste dieser Touren und lag auch in der Nähe meiner späteren Favoriten, war zweimal am 7. Januar Abreisetag. 2000, kurz nach der Nicht-Jahrtausendwende, ging es nach Heideheuvel in der Provinz Veluwe, 2005 in den Parc Sandur in der Provinz Drenthe. Dort bezog ich das Haus 179 mit zwei Etagen ganz allein, einem Schlafzimmer oben, einem unten. Gleich am Anreisetag besuchte mich ein Jungschwan auf der Terrasse, ich hatte Sonnenschein und Wasserblick, denn alle Häuser lagen an Grachten. Da die Januarreisen immer genau eine Woche dauerten, war beide Male am 14. die Abreise. 2007 endete mit der zehnten und letzten Tour in die Provinz Gelderland meine Alleinreisezeit, nach 2009 in Volendam dauerte es bis 2017, ehe ein Tagesausflug nach Maastricht abermals nach Holland führte.
6. Januar 2020
Deutsche Nachrichtensprache: Die Demonstranten in Iran sind mit Bussen nach Teheran gekarrt worden. Hätte die Süddeutsche Zeitung, als ich mit meinen Kollegen im Linienbus am 8. März 1996 zur Protestkundgebung vor ihrem Verlagsgebäude fuhr, unbequem und leidlich frierend, es gut gefunden, unsere Teilnahme am bis dahin längsten Pressestreik der deutschen Nachkriegsgeschichte so zu beschreiben? Heute vielleicht. Die Zeiten sind anders. Und wir natürlich auch. Die gestern begonnene Abrüstung der Weihnachtsdekoration wird heute zum erfolgreichen Ende geführt. Unser klimafreundlicher Weihnachtsbaum liegt wieder in seiner Kiste auf dem Rollschrank im Keller, der klimaschonende Schwibbogen mit CO2-neutralen Elektrokerzen auch, alle Zipfelmützenträger, alle Elche dito, alle Baumkugeln, alles weg. Nachdem ich die ersten fünf Einträge in dieses Tagebuch 2020 im falschen Seitenlayout schrieb, zieht nun wieder und beruhigend die alte Ordnung ein.
5. Januar 2020
Der erste Sonntag des neuen Jahres. Es liegt etwas Schnee auf den Autos, nicht viel. Im Treppenhaus eine Pudelmütze, die offenbar niemand vermisst. Ich entdecke eine am zweiten Dezember 2017 begonnene Annette-Kolb-Datei auf meinem Rechner mit einigen Leerzeichen und einer begonnenen Literaturliste. Das ist mehr als ausbaufähig. Ich tausche den alten gegen den neuen Schreibtischkalender, der neue Presseausweis und die neue Pressekarte im Auto sind bereits zu Neujahr installiert. In der Post das Protokoll der 86er Fontane-Konferenz, die ich ewig suchte im Netz, jetzt habe ich sogar ein fast neu wirkendes Exemplar. Der Druck in Schreibmaschinenschrift liest sich flott, wenn die Sprache der Beiträge sich befleißigt, ihrem Gegenstand nachzueifern. Deutsche Nachrichten-Logik: für die neue schwarz-grüne Koalition Österreichs mussten die Grünen allerlei schlucken. Koalitionen sind immer Schluckbündnisse.