Tagebuch
12. März 2020
Wie hieß gleich der Kerl, der alle Kinder umbringen ließ, um die Verbreitung eines gewissen Jesus zu verhindern? Wir alle kennen das Ergebnis. Mit viel Mühe und sonstigen Aufwänden stellten wir unsere Theaterpläne auf, ordneten Reisen danach, familiäre Abordnungen zur Sicherung familiärer Konzertbesuche, nun kommen die Botschaften hageldicht: Absage da, Absage hie, vermutlich die Todesurteile für ganze Inszenierungen. Spielpläne sind ja abgestimmt, Ergebnis langer Planungen und Abwägungen, da kann man nicht einfach nächsten Dienstag spielen, weil vorigen Freitag einer hustete. Fünf Wochen am Stück nicht spielende Theater: bis dato unvorstellbar. Italien lahmgelegt, der Dax rast nach unten, weil nun auch noch dieser Vollpfosten im Weißen Haus sich meldet. Mein hochverehrter Kieferchirurg zog anstandslos meine hochverehrten Fäden links oben und unten, das merkwürdige Gefühl ist erst einmal weg, mal sehen, wann die Zahnärzte ihre Termine absagen.
11. März 2020
Dies ist der 70. Todestag von Heinrich Mann: Bücherstapel im Arbeitszimmer lassen mich kaum einen Pfad finden auf dem Weg in die anderen Räume der Wohnung. Ich habe den „Urfaust“ hinter mir und freien Kopf. Noch am Morgen lese ich in Herbert Iherings Buch aus dem Jahr 1951 zum Einstimmen in die Schreibphase. Wenn die begonnen hat, ist eine Fahrt in die Stadt, die vielen Zeitungen mit den Beilagen zur ausgefallenen Leipziger Buchmesse zu holen, nichts anderes als die Rauchpause der Raucher. Die Fußballspiele vor leeren Kulissen provozieren die Frage, ob auch Theaterabende vor leerem Parkett denkbar wären: in jeder vierten Reihe ein Kritiker, rechts und links nahe den Saaltüren ausgewählte Zuschauer mit Atemmasken? Nein, es geht nicht. Wer sollte quietschen, wenn es nichts zu quietschen gibt, wer an den falschen Stellen lachen? Ich mittendrin als Risikogruppe: alt und vorgeschädigt. Stirb, Corona, wir bauen dir danach barocke Säulen.
10. März 2020
Bisweilen ist das Wetter haargenau so, wie es angesagt wird: Sturm und Regen am Dienstag, ich fahre also anders als geplant allein nach Weimar, mir den „Urfaust“ zum zweiten Male anzusehen. Unterwegs wirbeln die Transporter so viel Wasser auf, dass man kaum etwas sieht, bisweilen sind fünf von ihnen auf der Überholspur, den Virus im Nacken. Die Frau an der Kasse erkennt mich und reicht mir meine Karte, die Jugend um mich verhält sich ruhig und jugendlich. Meine in der ersten Woche nach dem Tod meiner Mutter Fragment gebliebene Besprechung erweist sich als brauchbar, ich muss nicht sehr viel ergänzen und bin so halbwegs rasch am Ziel. Unsere Italienreise ist nun endgültig storniert, was die positive Seite hat, mir einen Premierenbesuch in Meiningen zu erlauben, den ich sonst hätte ausfallen lassen müssen, Ersatztermine sind immer eine eigene Sache. Den Reise-Ersatztermin für Ende Oktober akzeptieren wir erst einmal, kein Italien geht gar nicht.
9. März 2020
Wenn der Satz: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ den Satz „Ich sterbe auf alle Fälle vor der Hoffnung.“ beinhaltet, dann ist das zwar logisch sauber gefolgert, hat aber etwas wenig Befriedigendes. Auf solche Gedanken komme ich, weil ich heute an der Seite meiner verehrten Gattin einen neuen Pass und einen neuen Personalausweis, letzterer mit ungeahnten Fähigkeiten, abgeholt habe. Beide sind so lange gültig, dass ich die Vorstellung nicht ganz von der Bettkante schieben kann, es könnten meine beiden letzten Ausweise gewesen sein, deren Empfang ich morgens im Rathaus mit einigen Unterschriften quittierte. Im Zweiten Deutschen Fernsehen der erste Teil von „Unterleuten“ mit diesem Feinschmecker-Einstieg: „Lassen Sie sich nichts erzählen. Von niemandem.“ Das sagt die Erzählerin. Alle Kreter lügen, sagte der Kreter. Julie Zeh ist auf alle Fälle längst ein ganzer Fuß. Meine Tageslektüre hat mich neu auf Ludwig Marcuse gestoßen, übermorgen gibt es mehr dazu.
8. März 2020
Es gibt Menschen, die am 8. März an Clara Zetkin denken. Es gibt Menschen, die denken sogar eine Woche vorher schon an sie und dürfen dann einen Gastbeitrag in der WELT veröffentlichen. In dem sie die Frage stellen, ob der Tag gut gewählt ist, weil doch Zetkin eine Stalinistin war und sogar Chefanklägerin in einem Moskauer Schauprozess. Die Weisheit wie fast alle anderen seiner Weisheiten hat Autor Michael Kaste offenbar von WIKIPEDIA, wo sich auch das Jahr 1922 für den Prozess findet, allerdings nur das Wort Anklägerin, den Chef hat Kaste hinzuerfunden. Natürlich bleibt er die Erklärung schuldig, wie eine ausgebildete Volksschullehrerin Anklägerin werden konnte. „Moskauer Schauprozesse“ gab es erst, als Zetkin schon drei Jahre tot war. Astreine Recherchen sind nicht jedermanns Sache. Immerhin hat der MDR, nicht Kastes MDR AKTUELL, auch eine Sendung „Clara Zetkin – die Unbestechliche“ im Angebot. StalinistInnen-Balsam??
7. März 2020
Unsereiner als Mensch nimmt gegen den Corona-Virus einige Blatt seines im Keller gehorteten Vorrates an vierlagigem Klopapier, faltet sie, als wäre ein Geburtstagstisch dekorativ zu gestalten und bindet sich das alles vors Gesicht. Weltweit gibt es inzwischen 100.000 Infizierte, von denen die absolut meisten noch leben und wohl auch kaum sterben werden, jedenfalls nicht an Corona. Den Euros geht es da weit schlechter, zehn Billionen von ihnen sind nicht nur infiziert, sie sind bereits vernichtet. Und zwar an den Börsen. Dort ist also die gefährlichste Gegend der Welt. Während Ballungen von Menschen vermieden werden, werden Ballungen von Euros billigend in Kauf genommen, was ihrer Vernichtung direkt und demzufolge fahrlässig entgegen arbeitet. Was Harald Gerlach dazu gesagt hätte, weiß ich nicht, vermutlich nichts. Heute wäre er 80 Jahre alt, erst 80, muss man sagen angesichts aller, die 90 sind und älter und immer noch vor sich hin dichten.
6. März 2020
Manchmal sind alte Manuskripte hilfreicher, als man ahnt, so unvollständig und unkorrigiert sie auch sein mögen. Ein kurzes Zeitfenster erlaubte mir, mich doch mit dem völlig ungeraden heutigen 91. Geburtstag von Günter Kunert zu befassen, der im September wenige Tage vor meiner Mutter starb. Vier schon ausgedruckte Seiten von 2004, und nun stehen eine Reihe von Randbemerkungen zu seinem weithin unbekannt gebliebenen Buch „Zu Besuch in der Vergangenheit“ im Netz. Noch gestern verschlug es mich ins Fritz-Usinger-Archiv in Friedberg/Hessen, wo man sich über jede neue Äußerung über den Ehrenbürger und Dichter freut. Dass ich schon in Friedberg war, erwähnte ich dem dortigen Kulturservice gegenüber gar nicht, denn mein Besuch hatte nichts mit Literatur, aber alles mit einer Probefahrt in einem neuen Auto vor vielen Jahren zu tun. Morgen dürfen sich die gar nicht so wenigen verbliebenen Freunde von Harald Gerlach freuen, 80 würde er werden.
5. März 2020
„Leben mit Corona“ lese ich in fetten Lettern gleich mehrmals und es geht nicht um Goethe, obwohl der gern mit Corona gelebt hätte. Aber das waren andere Zeiten und Corona nicht die kleine Schwester von Sars. Seine Corona kam nicht aus Italien, obwohl er eigens dorthin fuhr, dafür starb sie in Ilmenau und liegt dort auch, wenngleich ihre Grabstätte nicht ganz am richtigen Platz ist. Wir haben alle unseren Bodo wieder, es freute sich vor laufenden Kameras auch die Dame mit den schwarzen Haaren, die neben Bernd, dem Riexinger-Brot saß, als vor beiden die kleine mit dem Killerinstinkt die Vision hatte, Zahnärzte und Urologen, die Reichen also, zu erschießen. Noch ist der gestrige Befund zutreffend: die öffentlich-rechtliche Verschweigefront. Wen ich heute nicht verschweige, ist Fritz Usinger, der mir sogar die Gelegenheit gibt, nach einer Pause wieder einmal auf Marie Luise Kaschnitz zu kommen. Leben also mit Marie Luise und Fritz, mein Donnerstag.
4. März 2020
Wäre ich ein soziales Medium, müsste ich von meinem Erregungsamok heute schlapp auf dem Bauch liegen. Ein Revolutionstrinchen faselt vor laufenden Kameras davon, dass nach der Revolution ein Prozent der Reichen erschossen werde. Bernd, das Brot Riexinger, dementiert in seiner bekannt schlappen Art, es werde keine Erschießungen geben, aber nützliche Arbeit. Alles bei einer Strategie-Konferenz der Linken. Kaum auszudenken, was durch die Medien gerast wäre, hätte irgendein Klein-Nazi auf irgendeiner AfD-Konferenz vom Erschießen ganzer Bevölkerungsgruppen gekräht. So aber mediale Funkstille in den Haupt- und Staatsmedien, die stattdessen Menschen zu Wort kommen lassen, die einen ungebremsten Zustrom potentieller Corona-Überträger befürworten. Die Buchmesse in Leipzig wird abgesagt, Reisen werden abgesagt, hier aber bestünde keine Gefahr. Riexinger war übrigens von keinen guten Geistern verlassen, wo hätten die bei ihm Platz gehabt?
3. März 2020
Aktualität war gestern. Man kann den verehrten Print-Kollegen, die sich am Freitag in Meiningen langweilten, nicht anlasten, dass die Formulierungen ihres Gelangweiltseins erst volle vier Tage später in den Blättern ihrer Wahl prangen. Selig die Zeiten, da eine schnelle Kritik schon in der Morgenausgabe stand und die ausführliche (das gab es tatsächlich) dann in der Hauptausgabe. Ich habe den Vorteil davon, nicht lesen zu können, was sie gesehen haben, sie haben den Nachteil davon, unter Umständen schon lesen zu müssen, was ich sah und meinte. Für das Theater sind es am Ende immerhin drei Sehweisen, wenn wir die Main-Post einmal ausklammern, die die Besucher aus den uralten grenznahen Ländern anzulocken oder abzuschrecken hat. Immerhin: wenn die vor sich hin sterbenden Zeitungen einmal erkannt haben, dass sie der Realität ohnehin nur hinterher rennen, dann gilt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Aktualität war vorgestern.
2. März 2020
Es haben mir, während ich keine e-mails las, doch noch einige Leute zum Geburtstag gratuliert. Was schön ist. Am Morgen und bis Mittag schrieb ich fleißig über einen Mann, dessen Namen ich noch vor wenigen Jahren nicht einmal gehört hatte. Am kommenden Sonntag feiern Menschen in seiner Heimatstadt den Jahrestag seiner Geburt, den ich schon am Donnerstag feiere, da ist nämlich sein Geburtstag. Er heißt Fritz und war Hesse. Zwischen frühem Nachmittag und beginnendem Fernsehabend genoss ich die Folgen von fünf Betäubungsspritzen im Mundraum, das Blut, das aus mir floss, bemerkte ich nicht wegen völliger Gefühllosigkeit. Dafür blieb danach jeder Schmerz aus, meine Zunge berührt jetzt Fremdkörper in Ober- und Unterkiefer, Fäden, die in zehn Tagen gezogen werden. Das Abendessen, als ich es einnehmen konnte, schmeckte seltsam, der Wein später aber wieder fast wie in besten Zeiten. Wir schauten Franken-Tatort von gestern zum Wachau-Riesling.
1. März 2020
Meine Kritik steht im Netz, sie ist länger geworden und hätte noch länger sein können. Der ewige Sturm nervt langsam. Die Reiseabsage eröffnet immerhin die Perspektive auf eine weitere Premiere in Meiningen, die ich sonst nicht hätte wahrnehmen können. Ich sprach am Freitag im Foyer mit einem Kollegen aus uralten Hochschulzeiten, der sich entschuldigte, mich erstens nicht erkannt und zweitens meinen Namen nicht mehr gewusst zu haben. So geht das, wenn man Jahrgang 1934 ist. Namen fallen einem auch früher schon nicht immer gleich ein. Ob sie nun Schall und Rauch sind oder nicht. Meine Festgäste werden heute erst am frühen Abend erwartet. Der ältere Herr, der ich nun bin, darf sich noch etwas ausruhen, ehe er das Sektglas mit Prickel von der Nahe, sortenreiner Riesling-Sekt, extra dry, auf sich und seine Gesundheit erhebt, den einstimmenden Chor erwartend. Ein Geschenk verrate ich: Fünf sehr feine Bände „Gesammelte Schriften“ von Siegfried Jacobsohn.