Horvath: Geschichten aus dem Wiener Wald, Staatsschauspiel Dresden

Das ist ein Text. Das ist ein unverschämt guter Text. Wohl jeder Regie, die ihn bei sich lässt. Und nicht gleich weiter blättert, wenn sie das Volksstück genannt findet. Es hilft, ans Essen zu denken. Da wäre Volksstück das mit der dicken kräftigen Soße, die allein schon mehr Nährwert hat als ein Vier-Gang-Menü der schmalen Küche. Man kann immer neue Sättigungsbeilagen in diese Soße stippen, irgendwann merkt man, man braucht eigentlich den Braten gar nicht, es schmeckt und schmeckt und schmeckt. Volksstück ist einfach mehr von allen Zutaten, sogar Butter unter der Leberwurst notfalls. Und wenn es ein Volksstück von Horvath ist, 1931 uraufgeführt, dann darf ein Pröblein Zeit von damals mitgedacht werden, auch wenn's schwerfällt. Es war die Zeit der so genannten Neuen Sachlichkeit, Schriftsteller/innen versuchten, jenen Teilen des „Volkes“ Stimme zu geben, denen es an Artikulationsfähigkeiten mangelt. Die es nicht schaffen, sich gewählt, gebildet, auch nur einfach verständlich auszudrücken, wenn es um die größeren Dinge des Lebens geht, um die tieferen Schichten ihres Wesens, die sie natürlich auch haben.

Bei Horvath ist es vor allem Marianne, die Liebe will und nicht nur kleinbürgerliche Ehe mit dem Nachbarn, mit dem sie schon im Sandkasten spielte. Weil sie keinerlei Welterfahrung hat, fällt Marianne natürlich auf den erstbesten Mann herein, der anders ist als der Fleischhauer, das Anderssein reicht ihr aus, um sie blind zu machen. Sie kommt halt aus dem achten Bezirk in Wien, wo ganze Heerscharen von Maderln herkommen, die als Dienstmädchen, als Schneiderin, immer jedenfalls Mädchen, die sich ihre kargen Leben selbst verdienen müssen, die österreichische Literatur spätestes seit Arthur Schnitzler bevölkern. Hier ist vor allem die Zeit anders. Denn das alte Österreich ist nicht mehr, das neue hasst sich selbst in nicht geringem Maße. Es gibt kein Happy End in solcher Zeit und unter solchen Menschen. Es geht ums Überleben, wenn man ein Kind hat und keinen Mann und der eigene Vater sich von einem losgesagt hat. Moral kann man sich da nicht leisten. Marianne ist so auch ein wenig Woyzeck. Und klagt am Ende Gott an. Das ist gut neunzig Jahre nach der Uraufführung immer noch herzzerreißend.

Das Staatsschauspiel Dresden hat einen eindrucksvollen Horvath auf die Bühne gestellt. Diese „Geschichten aus dem Wiener Wald“ sind sehr nahe an Horvath und dennoch heutig, nur eben ohne den weithin üblichen Krampf. Manche Regieeinfälle (Barbara Bürk) sind verblüffend einfach und nicht einmal brüllneu, das stört ohnehin immer nur Kritiker, die schon jeweils zehn verschiedene Inszenierungen jedes halbwegs klassischen Stückes gesehen haben. Aber warum soll nicht ein Kind (Philine Menzel) in bestrickend kindlicher Tonlage (und mit perfekt gelerntem Text) jeweils die Spielsituation benennen, die der Zuschauer erlebt? Wenn das bis zum Ende so durchgehalten wird wie jetzt in Dresden, dann ist es gut und nicht nur eine von vielen Ideen, die verpuffen, wie sie oft strohfeuerartig aufflackern in manchen Häusern. Der Szenenwechsel ohne nennenswert optischen Szenenwechsel ist so hinreichend erklärt, der Zuschauer kann sich konzentrieren auf das, was er sieht und hört. Der sehr kräftige Aufstrich bis zur Pause schuf, will ich meinen, den idealen Untergrund für das Kippen später. Nur wer sich so scheckig gelacht hat in knapp anderthalb Stunden, kann nach dem Pausensekt so mucksmäuschenstill werden, wie es im Großen Haus geschah. Die via Schläfenbein und sonstwo verdrückten Tränen möchte ich nicht gezählt haben müssen zum Ende hin.

Gestrichen wurde natürlich auch, was bei der Vielzahl der Szenen im Urtext schon aus Zeitgründen geraten erscheint, aber auch substantiell zu keinen bösen Einbußen führt, wenn es so gemacht ist wie hier in Wurfweite des Zwingers. Der Hierlinger Ferdinand ist gestrichen und die Baronin, der Beichtvater samt Stephansdom, im Maxim bis auf den Hauptauftritt Mariannes fast alles an Nacktvarieté und Conference, die dafür optisch stark aufgewertet wurde. Christian Erdmann (Oskar, der Amerikaner), Hannelore Koch (Mutter und Großmutter) und Benjamin Pauquet (Erich, Havlitschek) hatten zwei Rollen zu spielen, was nur bei Hannelore Koch nicht aufging, so viel Mühe sie sich auch gab. Denn wer das Programmheft nicht las oder das Stück nicht kennt, braucht viel zu lange, bis er versteht, dass da zwei Personen gemeint sind. Auch die Auftritte von Alfred (André Kaczmarczyk) bei Mutter und Großmutter leiden darunter, dass man erst auf den Tonfall von Hannelore Koch warten muss, um zu erahnen, wer gerade agiert.

Anke Grot hat ein sparsames Bühnenbild erfunden, das dennoch eine gewisse Opulenz vermittelt, allein die etlichen Klaviere erweisen sich als sehr tragfähige Idee und unterstützen starke Szenen. Und wenn auch mal wieder ein richtiger Theatervorhang, gar zwei, eine Rolle spielen, dann mag man geneigt sein, sich zu fragen: Altes Herz, was willst du mehr? Oskar stellt sich immer auf eine Fußmatte mit einem lustigen Schweinchen drauf, schöne Kleinigkeit. Natürlich lacht das Publikum, wenn der Zauberkönig nach seinen Socken ruft, die schließlich, wie es sich bei Horvath gehört, versehentlich in der Schmutzwäsche gelandet waren, rosa Socken. Torsten Ranft, von Hause aus keineswegs ein Qualtinger an Taillenumfang, war aufgepolstert (Kostüm Iréne Favre de Lucascaz) wie RAMMSTEIN im „Ich habe keine Lust“-Video und fiel wunderbar folgerichtig beim Versuch, in diese rosa Socken zu schlüpfen, um wie ein Sack. Das später auch Alfred den Sockenruf artikuliert, versinnbildlicht den Übergang vom Regen in die Traufe, der Mariannes Teil ist. Das Personenverzeichnis nennt vor den beiden Klavierspielern Sven Kaiser und Benjamin Rietz auch den Zwergpudel Kenia. Der sehr brav die Bühne querte an der Leine und an nichts und niemandem schnüffelte oder das Bein hob.

„Ich bin eine geschlagene Armee. Das mußt du mir nicht zweimal sagen, daß ich ein schlechter Mensch bin, das weiß ich, weil ich halt zu guter Letzt ein schwacher Mensch bin.“ Das sagt Alfred, als er zu Valerie zurückkehrt. Valerie ist Rosa Enskat. Die ein solches Rollenangebot als dicke Chance fasst zu glänzen. Sie glänzt. Sie passt ihre Meinung und ihr Tun der Lage in einem Maße rasant an, dass man den moralischen Schluckauf bekommen müsste, wäre da nicht eben jenes Wissen um die Schwäche des Fleisches, eben jener (Verzeihung, verehrte Feministinnen, dreifach: Verzeihung) speziell weiblichen Anpassungsfähigkeit, die den eifernden Mann längst tot sein lässt, während die Oberpostsekretärswitwe noch im Kaffeehaus ihre Melange mit Schlag schlürft. Valerie kann Rassistin sein, wenn der deutsche Jurastudent aus Kassel markig herumbrüllt, sie kann den dicken Zauberkönig beflirten, den Rittmeister (Thomas Eisen) an der Nase führen und sich von Alfred Wettgewinne verschaffen. Sie ist großzügig, wenn sie will und energisch, sie kann sich bis zur Brechgrenze empören und sie kann neckisch sein.

Regisseurin Barbara Bürk hat die Wiener Karte nur sparsam gespielt, ihr Alfred ist nicht der Strizzi mit dem unvermeidlichen Schmäh, eher der allgemeine Hallodri. Dieser Alfred weiß tatsächlich nicht genau, was ihn für Frauen so anziehend macht, die Inszenierung lässt sogar dem Zuschauer diese Frage, mehr noch der Zuschauerin. Die Signale, die der Fußballreporter von Welt körpersprachlich nennen würde, sind in diesem Stück fast immer sehr eindeutig, die Regie nutzt das weidlich und kräftig und erzielt damit beim Publikum schwere Wirkungstreffer. Einzelbeispiele beginnen mit Mariannes Hinterteil, das zuerst unterm großen Vorhang sichtbar wird und enden nicht im Maxim, da eine komplette Männerriege die Hand in der eigenen Hose bewegt. Eines von einigen Kabinettstücken: das allgemeine Umziehen vor dem Bad in der schönen blauen Donau. Ein anderes, wie das Bonbon von Mund zu Mund wandert. Ein drittes, wenn Oskar singt, überhaupt die Gesänge und keineswegs nur, weil auch von Thüringer Klößen sowie Bratwürsten gesungen wird, die natürlich bei Ödön von Horvath nicht vorkommen.

Auch Lou Reed, der kürzlich verstorbene und die Rolling Stones, die nie versterben werden wahrscheinlich, kommen bei Horvath nicht vor, passen in den musikalischen Teil der Aufführung aber auf das allerschönste. Und dann kippt es, von den Höhen der scheinbar reinen Albernheit, von der Bestätigung eines alten Satzes von Kurt Kahl in seinem Horvath-Büchlein: „Horvath geht, wie schon vorher manchmal, bis an den Rand der Peinlichkeit. Er läuft Gefahr, daß man den, der das Ordinäre aufzeigt, für ordinär hält. Er kennt kein Tabu...“ Es kippt von da bis zum Mord am kleinen Leopold, bis zum verzweifelten Schrei der Marianne, sie wolle nicht mehr geschlagen werden. Oskar, der das Ende scheinbar voraussah und sich deshalb bestätigt sieht, hat sich nicht nur mit Alfred versöhnt unter Männern, er sagt zu Marianne, die nun ohne Kind wieder zu ihm passt: „Gott gibt und Gott nimmt.“ Und Marianne antwortet:  „Mir hat er nur genommen, nur genommen.“ Und Oskar: „... wen er liebt, den schlägt er -“ Und Marianne: „Mich prügelt er wie einen Hund!“ Wer stärkere Sätze für diese Situation nach diesem Spiel kennt, möge vortreten! Und weil, endlich nun auch dieser Name, weil Yohanna Schwertfeger diese Töne fast beängstigend genau trifft, war sie eine große Marianne, was angesichts einiger großer Mariannen seit Carola Neher etwas heißen soll.

P.S. Frühere Horvath-Kritiken von mir in THEATERGÄNGE 30. September 2011, 5. Februar 2012, 11. November 2012 und 1. April 2013, sowie in JAHRESTAGE 9. Dezember 2012 und 1. Juni 2013.. Mehr wird folgen.
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