Schiller/Picard: Der Parasit; Staatsschauspiel Dresden
Schnell das Abzuhakende: Picard (1769 – 1828) hat Alexandriner geschrieben, die sperrig sind. Dagegen stellt der Übersetzer Friedrich Schiller seine Prosa. Liest man. Ich habe keine Ahnung, ob es im Unterschied zu sperrigen Alexandrinern im Französischen auch noch andere gibt. Sie scheinen eine Versart zu sein, die in Deutschland das Schicksal von Corneille und Racine teilt, jeder hackt auf sie ein, weil irgendwann Lessing das tat und seitdem niemand mehr prüfte. „Der Parasit“ jedenfalls ist von Picard und nicht von Schiller, weshalb er auch in den dicksten Schiller-Büchern nur en passant behandelt wird. Es ist müßig zu spekulieren, ob er, ohne den Übersetzer mit Hyperprominenz, ein Fortleben erlebt hätte. Nimmt sich eine Bühne seiner an, dann gewinnt er Leben. „Der Parasit“ wäre, wenn ihm nicht längst Eigenruhm zugewachsen wäre, etwas wie jene Frösche unter der Wüste, die bei plötzlichem Starkregen sofort erwachen, sexuell aktiv werden und wieder bereit sind für die nächste unbekannt lange Trockenperiode.
Das Staatsschauspiel Dresden (Regie Stefan Bachmann) hat in Kooperation mit den Mannheimer Schillertagen, 17. Auflage, diesen „Parasiten“ abermals bühnenwirklich gemacht. Das taten zuvor schon das Burgtheater in Wien und das Berliner Ensemble in Berlin, neben anderen Bühnen selbstverständlich. Die Kritiker der Premiere am 21. Juni 2013 patschten sich, soweit ich es übersehe, fast synchron auf ihre Schenkel, was dem Herkommen nach fast eine Art von Sittenwidrigkeit darstellt. Wohl gepatscht, behaupte ich ein gutes halbes Jahr später, nachdem ich das Werk zu Silvester aus der Vogelperspektive des Ranges sah inmitten von Menschen, die sich bollig amüsierten, obwohl keineswegs alle für die Party danach Plätze im „Chiaveri“ reserviert hatten mit Blickfreiheit auf das Folgephänomen Feuerwerk mit Elbtal. Die Geschichte ist rasch erzählt: Es gibt einen neuen Minister, es gibt gediente Ministerialbeamte, unter denen es zugeht wie unter Ministerialbeamten. Wer bei einer Beförderung übergangen wird, geht auch 2013 gern vors Arbeitsgericht, obwohl ihm der Titel auf dem Grabstein weniger wichtig ist als zu Zeiten der Herren Picard und Schiller. Es gibt Firmin (Lars Jung), loyal, korrekt, uneigennützig, respektive ein Wundertier. Es gibt La Roche (Torsten Ranft), eine Art Tom Pauls der Ministerialbürokratie, jedenfalls optisch. Und es gibt Selicour (Ahmad Mesgarha), den Parasiten.
Der Minister Narbonne (Philipp Lux) hat eine Mutter (Hannelore Koch) und eine Tochter Charlotte (Ines Marie Westernströer) und den Ehrgeiz, ein guter, vor allem unbestechlicher Minister zu sein. Um ihn ist Michel (Christian Clauß), der Kammerdiener, der angelegentlich eingequetscht wird und die dazu passende Stimme entwickelt. Selicour will Karriere machen, dazu ist ihm ganz buchstäblich jedes Mittel recht, er lügt, betrügt, betreibt üble Nachrede, er baggert, er schleimt, er katzbuckelt, ein Verfahren wegen Mobbing, gegen ihn angestrengt, hätte gute Aussichten, mit einem Schuldspruch zu enden. Das erste seiner Opfer ist La Roche, der auf Rache schwört, Opfer sind bei genauerer Betrachtung, wenigstens potentiell, auch alle anderen, selbst der Minister. Und der Bauer Robineau (Benjamin Höppner) sowieso, dem es gar handgreiflich an Kragen und Gurgel geht, weil er auf Protektion hofft und ein Geheimnis Selicours kennt.
Nun ist das alles eine Komödie, ein Lustspiel, in dem, das als Nachtrag zum Abzuhakenden, Friedrich Schiller nicht eben für die Lieferung von Gattungsmustern bekannt ist. Ein Gespür für Bühne freilich, verehrte Eulen auf dem Weg nach Athen, das hatte er wie wenige. Und der Spielplan in Weimar mit seiner, nun ja, Unersättlichkeit, der rief nach Futter. Schiller wollte sich nach der „Braut von Messina“ ein wenig aktiv erholen und tat einen guten Griff. An Jakob Herzfeld schrieb er am 17. Juli 1803 die gern zitierten Worte: „... mir scheint dieses Stück zu einem theatralischen Effekt sehr geeignet zu seyn, da es zwey sehr bedeutende Rollen und einige gut berechnete Theatercoups enthält.“ Der verehrten Gattin Charlotte teilte er am 13. Oktober 1803 mit, dass am Vortag der „Parasit“ zum ersten Male gegeben wurde: „Der Herzog war besonders erfreut über das Glück, denn er genoß einer doppelten Satisfaction, die französische Comödie triumphieren zu sehen und die linkische Art seiner deutschen Schauspieler tadeln zu können.“
Das mit den zwei sehr bedeutenden Rollen ist klar: Selicour und La Roche. Mesgarha und Ranft, der eine inzwischen etwas wie Urgestein und Publikumsliebling mit hohem Frauenherzbrechfaktor, der andere dabei, seinen Facettenreichtum unermüdlich auszufalten. Torsten Ranft macht aus seinem La Roche einen wilden Springteufel, einen überdrehten, einen überzeichneten Rächer, der in jeder Situation, in der eigentlich alles gesagt, gezeigt, getan ist, immer noch eins draufsetzt und gerade damit gefällt. Er schleudert den Kopf mit der roten Frisur, er spuckt und fuchtelt, wirft sich und kniet, liegt und hechtet, er steht, als ob es nie ein Auszählen für ihn gäbe. Und weil die Gerechtigkeit am Ende siegt, wissen wir: Rache ist süüüß, sooo süüüß, nix da mit auch noch die andere Wange hinhalten: Es gilt Auge um Auge, Zahn um Stiftzahn. Ahmad Mesgarha setzt dagegen auf viele, viele kleine Gesten, die alle stimmen, die alle sprechen, da eine Synchronbewegung, dort ein Handstrich, der ganze Körper ist in amöbischer Bewegtheit, als sei er tatsächlich jeder Form fähig. Und ganz am Ende muss er, des letzten Textils beraubt, von der Bühne durch den Zuschauerraum flüchten: Damenquietschen.
Die Spielfläche (Olaf Altmann), von hellen bühnenhohen Drehkreuzwänden begrenzt, erlaubt einen außerordentlichen Effekt in ihrer Kargheit: sie kann Schatten mitspielen lassen. Vor der Pause sieht es bisweilen aus, als wäre da ein unscharfes Bild mit den Figuren und Stühlen und Kostümen (Barbara Drosihn). Nach der Pause plötzlich harte, fast schwarze Schlagschatten hinter den Figuren (Licht: Andreas Barkleit). Das ist mal eine Lösung, die noch nicht der Abnutzung verfallen ist. Komödie verträgt Klischee wie drastische Verbildlichung, sie lebt von Einfällen, die des Einfalls wegen auf die Bühne kommen. Wenn etwa Ines Marie Westernströer mit zwei Bewegungen ihres Hinterteils auf dem Schoß des Minister-Papas Platz nimmt, dann hat sie sich schon ins Zuschauergedächtnis gespielt, was sie mit ihrem Gesang nach der Pause noch kräftig vertieft. Der Minister selbst hängt in seiner Anzugsordnung wie der berühmte Schluck Wasser und wenn er den Teebeutel schwenkt, dann ist er, wie du und ich nicht sein wollen würden, kämen wir zu Ministerehren. Philipp Lux mit ganzer Länge und ihren Attributen zeigt Umarmungsfähigkeiten ersten Grades, er kann ganze Gruppen auf einmal umfassen. Das wirkt auch in der Wiederholung noch aufs Zwerchfell. Was die Tom-Pauls-Frisur bei Torsten Ranft an Dresden-Reminiszenz bietet, hat der Pullunder an Matthias Luckey: er erinnert an Olaf Schubert und das Rautenmuster. Luckey ist der Sohn des alten Firmin, mit Charlotte bekannt und in sie verliebt, er dichtet. Er bekommt sie am Schluss auch. Mit einem gerollten Gedicht.
Das letzte Wort hat der Schiller, Firma Moralische Anstalt: „Das Gespinst der Lüge umstrickt den Besten, der Redliche kann nicht durchdringen, die kriechende Mittelmäßigkeit kommt weiter als das geflügelte Talent, der Schein regiert die Welt, und die Gerechtigkeit ist nur auf der Bühne.“ Vermutlich klatscht die kriechende Mittelmäßigkeit an dieser Stelle am lautesten und alle Regierenden sind froh, dass die Gerechtigkeit wenigstens auf der Bühne einen Stammplatz hat, an dem man sie besichtigen kann. Die Ungerechtigkeit der Kritik liegt darin, dass sie, wenn sie schon alle Klippen des Vergessens umschifft, immer noch dem last but not least entgegen treibt. Hannelore Koch ist es diesenfalls, sie ist Madame Belmont, die Mutter des Ministers, nicht der Kompanie. Sie legt in ihre Szenen mit Selicour, den sie favorisiert, all ihre Verführungskraft. Stefan Bachmann, längst Intendant in Köln, wird seinen anhaltenden Erfolg in Dresden kaum verachten.
www.staatsschauspiel-dresden.de
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