Ibsen: Nora oder Ein Puppenheim, Landestheater Coburg
Der erste Satz muss unbedingt und zwingend lauten: Philippine Pachl ist eine Nora zum Atemanhalten. Was stecken in dieser jungen Frau, sie wird im Juni erst 30, für Möglichkeiten! Von Beginn an spielt sie Klaviaturen der Töne und Gesten, ist ihr Gesicht in ständiger Wandlung, fast beängstigend die Bandbreite, beängstigend im Blick auf das Stehvermögen von zweieinhalb Stunden mit Pause. Sie hält durch, es sind winzige Augenblicke, da die Konzentration nachlässt, einer freilich ist folgenreich. Er darf nicht verschwiegen werden. Sie sagt sechs entscheidende Buchstaben vom großen Textvolumen ihrer Rolle nicht, vergisst sie für den Bruchteil der Sekunde und als der Beifall losbricht in der Bühne Cortendorf, dem Ausweichspielort des Landestheaters Coburg, sieht man ihr den rasenden Ärger an. Die stummen Blickwechsel mit Alexander Peiler, während die Zuschauer klatschen, sind alles sagend.
Im großen Finale des dritten Aktes, Ehemann Helmer hat eben die letzte Chance verspielt, sein Puppenheim am Leben zu halten, heißt es bei Ibsen: „Mit Freuden würde ich Tag und Nacht für dich arbeiten, Nora, deinetwegen Not und Sorgen auf mich nehmen. Aber keiner opfert dem Menschen, den er liebt, seine Ehre.“ Und Nora antwortet: „Das haben hunderttausend Frauen getan!“ Und ausgerechnet das entscheidende, das sinngebende Wort Frauen entfällt der Darstellerin (es wird ihr nie wieder passieren, selbst wenn zwei Kamelherden unangekündigt während ihres Spiels über die Bühne getrieben würden), sie sagt nur: „Das haben hunderttausend getan!“ Es muss ein Versprecher gewesen sein, sonst hätten sich Regie (Malte Kreutzfeldt) und Dramaturgie (Georg Mellert) unentschuldbar vergriffen, sie hätten Ibsen im Kern missverstanden, der ja so aktuell und heutig ist, dass man gedankenlos von erschreckend reden könnte, wie es oft genug geschieht, als sollte Aktualität, hinreichend weit begriffen, nicht der Normalfall auf Bühnen sein, erschreckend also allenfalls bei Abwesenheit.
Die triviale Wahrheit des starken Theaterabends im Gewerbegebiet lautet: Die vom Spielort erzwungene Nähe zum Publikum stachelt die Darsteller zu Höchstleistungen. Es gibt nicht nur ein paar kleine Interaktionen, von denen ich nicht zu sagen wüsste, ob sie durchweg geplant waren oder aus der Situation erwuchsen, es gibt vor allem die gewissermaßen permanente Großaufnahme der Gesichter. Man weiß aus Fernsehaufzeichnungen von Theaterabenden, wie sehr das Stückwirkung verändern kann, man weiß, dass Regisseure, die Großaufnahmen stilprägend einsetzen, auf die Gesichter ihrer Schauspieler vertrauen. Und es scheiden sich die einen von den anderen wie die überstrapazierte Streu vom Weizen, vorausgesetzt, es war überhaupt Weizen dabei im Spiel. Philippine Pachl bestand diese Probe mit Bravour, die „Schnitte“ zwischen den Gesichtern, den Griffen ins Haar, den Wendungen des Kopfes, den Bewegungen der Schultern hatten Cliptempo und nahezu nichts ging daneben und das in der erst zweiten Vorstellung nach der Premiere am 22. Dezember. Da muss kaum nachjustiert werden.
Zurück auf Anfang. Auch Coburg vertraut dem Titel, den es nur in Deutschland gibt: „Nora oder Ein Puppenheim“, im norwegischen Original heißt er nur „Ein Puppenheim“. Coburg streicht alle Nebenrollen, die Kinder, die Kinderfrau, das Hausmädchen, den Boten. Im Fall der Kinderfrau mag man es am meisten bedauern, auch wenn die nur einen einzigen größeren Auftritt hätte. Denn sie ersetzte bei Nora die früh verstorbene Mutter. Das seltsame Verhältnis zum Vater oder des Vaters zu ihr, das sich laut Ibsen, der an dieser und anderer Stelle naturalistischer Vererbungstheorie folgt, bei Torvald Helmer fortsetzt, würde verständlicher, motivierter. Seit der Uraufführung am 21. Dezember 1879 in Kopenhagen hat es immer wieder Hinweise auf zwei Tücken des Dreiakters gegeben. Die Nora betreffende lautet, es bestehe Gefahr, dass das Singvögelchen des Anfangs die entschlossene Frau des Endes unglaubhaft macht oder aber genau umgekehrt, dass die reife, selbstbewusste, entschiedene Nora des Endes ihr voriges Dasein Lügen straft. Die Lösung, wenigstens eine Lösung, liegt darin, das hat Malte Kreutzfeldt seiner Darstellerin offenbar auf den Weg gegeben, das Ende von Beginn an unterschwellig mitspielen zu lassen.
Die zweite Gefahr betrifft Torvald Helmer. Sein reales Verhalten Nora gegenüber macht ihn nicht erst dem heutigen Zuschauer so unsympathisch, dass der einfach nicht nachvollziehen kann, warum Nora diesen Mann so liebt, dass sie für ihn, siehe oben, ihre Ehre, im juristischen Sinne sogar ihre Freiheit aufs Spiel setzt. Denn Urkundenfälschung kann durchaus auch schon einmal hinter Gittern enden. Alexander Peiler hat Mühe zu zeigen, dass sein Helmer Noras Liebe mindestens einstmals verdiente und wert war. Das Schicksal teilt er mit großen Darstellern der Aufführungsgeschichte, es mag ihn trösten. Starke Szenen hat er deshalb trotzdem. Den eigentlichen Bösewicht des Spiels, den Rechtsanwalt Krogstad, der mit seinem Erpressungsversuch Nora bis an den Rand des Selbstmordes treibt, spielt Frederik Leberle so sympathisch, dass sein Happy End mit Frau Linde (Sandrina Nischke) nachvollziehbar wird. Auf keinen Fall jedoch komisch, nur weil nach der Pause er im Weihnachtsmann- und sie im Elchkostüm auftreten. Eine Zuschauerin wollte sich ausschütten vor Lachen, sie hat sich ein Blätterbüchlein über skandinavische Weihnachtsfolkore redlich verdient.
Vernichtend fällt die Bilanz von acht Jahren Ehe für Nora Helmer aus, als sie ihren Mann in all seiner jämmerlichen Ich-Bezogenheit erlebt hat, mit der er keine Sekunde an sie, dafür aber fast wie ein Häufchen Elend heulend ausschließlich an sich dachte. Nicht eine Sekunde kommt ihm die Idee, sie könnte ihm seine jähe Wendung nicht abnehmen, als er den kompromittierenden Schuldschein und damit scheinbar alle Gefahr verbrannt hat (in Coburg landet das Dokument in einem Sektkübel und fliegt in Richtung Ausgang). Nora ist plötzlich eiskalt und es passt in der Darstellung von Philippine Pachl, weil sie auch in den frühen Szenen des Stückes eben diese Kälte schon zeigte, vor allem im Dialog mit ihrer Freundin Frau Linde flackerte sie wiederholt auf. Sandrina Nitschke reagierte jeweils sehr feinfühlig auf die vermeintlichen Stimmungswechsel, merklicher jedenfalls, als das ihr purer Text hergab, was der Rolle bekommt.
Ob Thorsten Köhler seinem Doktor Rank nicht etwas viel Melodramatik verlieh, zumal die Strichfassung nicht deutlich machte, woran er wirklich leidet, es ist Rückenmarksschwindsucht, mag dem Empfinden des Zuschauers überlassen bleiben, mir war es zu viel. Immerhin lieferte auch er den nötigen Partner für die Entfaltung von Noras Charakter. Der Studienrat Hans Georg Meyer hat vor Jahren in seinem Ibsen-Buch Nora im „langen Zug der Lebensdilettanten“ gesehen, der das Werk des Norwegers durchziehe. Das musste man schon damals (1967) nicht zwingend so sehen. Denn wohl ist diese Nora in bestimmter Hinsicht lebensfremd, naiv, andererseits ist sie in der Lage, eine ihr abverlangte Rolle mit solcher Perfektion zu spielen, dass es Achtung abnötigt. Ihre Trennung von Helmer gibt ihr im dritten Akt Gelegenheit, Essentials weiblichen emanzipatorischen Lebensanspruchs zu formulieren, wie sie heute noch Wort für Wort sagbar wären.
Nur scheinbar klingt es anmaßend, wenn sie sagt: „Ich muß dahinter kommen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich.“ Denn nur scheinbar hat die Gesellschaft per Automatismus recht. Frau Linde hat in ihrer Zweckehe mit einem ungeliebten Mann nicht gegen Moral, sondern gegen Scheinmoral verstoßen. Nora Helmer, die Mann und drei Kinder rigoros und ohne Rückfahrkarte bei vollem Risiko verlässt, verstößt, noch jetzt schwerer akzeptabel, auch nur gegen Scheinmoral. Denn sie tut, was Hunderttausende tun, in diesem Falle aber eben Männer, die Frauen und Kinder allein lassen. Die ganze Modernisierung der Übersetzung, die ich in der neuen Fassung von Hinrich Schmidt-Henkel hörte, war Noras eruptiv sich Luft machender Wunsch, „Verfickte Scheiße!“ zu brüllen. So platt trieb es selbst der naturalistischste Naturalismus nicht. Zwei, drei mehr solcher Stellen hätten den Abend irreversibel versaut. Coburg sei Dank, es kam nicht dazu.
www.landestheater-coburg.de
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