Büchner: Woyzeck, Landestheater Eisenach
Aus der Not eine Tugend machen ist etwas anderes als die Not von vornherein zur Tugend erklären. Das Landestheater Eisenach darf im Schauspiel, die kräftige Spielzeitbroschüre zeigt es, keine atemberaubende Folge von Neueinstudierungen vorführen. Die Leine ist kurz, kaum länger als die, an der das „Pferd“ ins Foyer geführt wird, mit dessen marktschreierischer Präsentation dieser „Woyzeck“ beginnt, ehe die knapp unter hundert Zuschauer ihre Plätze einnehmen, die sie frei wählen dürfen. Es hat, dies zeigt sich rasch und bleibt durchgehend der wohltuende Eindruck, genug Zeit gegeben zum Proben, Regisseur Carsten Kochan muss nicht auf Nachgärungen seines Ansatzes hoffen. Die Darsteller beherrschten ihren Text, als hätten sie ihn schon drei Dutzend mal gespielt. Die kleine Spielfläche inmitten des Publikums erzeugt Nähen, die jede Konzentrationspause zwangsläufig unbarmherzig sichtbar machen würden. Neunzig Minuten dauert alles, eine knappe halbe Stunde länger als zuletzt ein „Woyzeck“ in Coburg (vgl. THEATERGÄNGE 29. Juni 2013).
Für den auf schwerst- bis unleserlichen Handschriften beruhenden Text-Corpus „Woyzeck“ gibt es inzwischen vier begründete Lese- und Spielfassungen, die wiederum jeweils von Regie und Dramaturgie (in Eisenach Annekatrin Schuch-Greiff) im Sinn ihrer Spielidee und Strichfassung bearbeitet werden. Es ist deshalb immer möglich, mit einem ganzen Apparat von Gegenargumenten auf der Basis der jeweiligen Lese-Fassung die jeweilige Spielfassung fragwürdig zu machen. Den Theatergänger aber wird das nur ermüden, denn selbst dann, wenn eine Regie eine Szenenfolge bevorzugen würde, der die allerletzte innere Folgerichtigkeit abgeht, bliebe es immer denkbar, dass Georg Büchner selbst, wäre er nicht zu früh gestorben, genau diese Unlogik nicht beseitigt hätte. Wenn sich Carsten Kochan dafür entschied, die Jahrmarktszenerie in etwas wie Rahmenhandlung zu verwandeln, in der der Darsteller des Woyzeck (Alexander Beisel) Kunststücke vorführt und an dem Seil malträtiert wird, dann ist das zu akzeptieren. Es erlaubt zugleich ein Finale mit einem symbolischen Effekt, von dem ich sehr hoffe, dass er bedacht war: Beisel-Woyzeck setzt sich den Hut auf und erinnert damit unweigerlich an seine Rede von Hut und Moral und Tugend.
Wir erleben einen Woyzeck, der sich minutenlang auf allen Vieren bewegt und gleichzeitig spricht, man mag das als überdeutlich empfinden, aber es passt. Wir erleben den Doktor als Frau Doktor (Sophie Pompe) und den Stubenkameraden Andres von Jannike Schubert verkörpert, letztere muss nehmen, was die karge Rolle bietet. Sophie Pompe dagegen steht wie alle Doktor-Darsteller vor der schweren Aufgabe, die anlässlich einer Darmstädter Inszenierung unter Gustav Rudolf Sellner vor fast 60 Jahren Georg Hensel bleibend so formulierte: „Sie sind nicht zum Lachen, sie sind zum Frieren da.“ Das gilt für den Hauptmann (Gregor Nöllen) wortgleich. Dem setzt die Regie Grenzen, indem sie auf Atmosphäre wie auf Bühnenbild und Requisiten fast vollständig verzichtet. Mal fliegt ein Rasiermesser als Katze, mal dient ein Bildchen als Kind von Marie und Woyzeck.
Alles zwingt zum Wort. Es ist in Spiel zu verwandeln und da gelingt Irina Ries als Marie eine eindrucksvolle Gebetsszene. Ähnlich wirkte (auf mich) nur noch das aus dem Munde der gestrichenen Großmutter auf Woyzeck übertragene Märchen vom Kind. Viele solche Stellen hat die deutschen Bühnenliteratur nicht. In Eisenach ist sie nicht vertändelt worden. Der Regisseur hat auch nicht versucht, in Bestandteile zu zerlegen, was eins ist: „episches Theater, soziales Drama, Menschheitsdrama, schneidende Groteske, surreales Bild und expressiver Schrei. Dies alles steckt in Woyzeck“ (Georg Hensel). Und es wirkt nicht wie ein billiges Unangreifbarmachen eines Konzeptes. Da neigt das Programmheft mit seiner sehr ausführlichen Vorstellung des historischen Woyzeck schon eher zu einer gewissen Eindimensionalität.
Mit sieben Darstellern kommt der Eisenacher „Woyzeck“ aus, es sind zahlreiche kleine und kleinste Rollen gestrichen, damit unvermeidlich auch die entsprechenden Szenen. Bei naturalistischerem Ansatz schwierige (und teurere) Schauplatzwechsel kamen angesichts der gewählten Spielfläche ohnehin nicht in Frage und so tendierte alles ins Choreographische ohne das Gekünstelte auch nur zu streifen. Was die Zuschauer erlebten, produzierte keine Phantomschmerzen angesichts empfundener Fehlstellen, er ergab sich ein gebetteter Ablauf von einem Anfang zu einem Ende: „Gafft ihr? Guckt euch selbst an!“ wendet sich Woyzeck direkt an die Zuschauer in der bei Büchner im Wirtshaus angesiedelten Szene. Danach sind alle wieder mit roten Nasen und Hüten in den Rahmen zurückgekehrt. Es ist wieder Jahrmarkt. Es werden Peitschen und Baseballschläger geschwungen, ehe das Licht ausgeht.
Stephan Rumphorst war jener Tambourmajor, der mehr als protzige Männlichkeit nicht zeigen muss, Janik Marder der verbliebene Handwerksbursche (bei Büchner sind es zwei), der sich an Woyzeck mit Tritten verging, als jener schon am Boden lag. Sein tückisches Textstück mit der Forderung, „laßt uns noch übers Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt!“ ist gestrichen, der Jude, der Woyzeck das Mordmesser verkauft, ohnehin. Vielleicht ist das ein wenig viel Vorsicht in vermeintlich hellhörigen Zeiten, denn unter Antisemitismusverdacht hat Georg Büchner wahrlich nie gestanden. Viel Beifall belohnte die Premiere, die Inszenierung wird kurz vor Spielzeitende auch noch in Meiningen gezeigt werden. Bis dahin dürfen sich das Eisenacher Publikum und seine Gäste auf noch einige Büchner-Abende freuen, die das schlichte Fazit gestatten: Gut, dass wir da waren.
Zum guten Schluss ein Zitat aus dem „Versuch über Büchner“, mit dem Arnold Zweig 1921 seine Büchner-Ausgabe begleitete: „Unerhört im deutschen Drama ist bis auf diesen Tag solche Ausgewogenheit von Knappheit und Reichtum: knapp die Szene und das Gefühlswort, reich die Szenenlenkung und Vielfältigkeit der Aspekte, der Abstufungen, in denen sein Schicksal sich vollzieht, und dies malende, gestaltende, anschauungsgetränkte Wort, das weg von der Handlung zur Gestaltung von Menschen und Stimmungen strömt.“ Zweig war es übrigens auch, der für die Beibehaltung des falschen Lesefehlertitels „Wozzeck“ plädierte mit einem schönen einfachen Argument: „Wozzek“ ist ein Gut der Bühne, „Woyzeck“ eine Aufgabe der Wissenschaft. Eisenach hat sich in diesem Sinne ohne jeden Zweifel für Bühne entschieden.
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