Kleist: Die Familie Schroffenstein, Maxim-Gorki-Theater Berlin
Von 60 Kleist-Premieren deutschsprachiger Theater seit Beginn der Spielzeit 2010/2011 brachten ganze zwei „Die Familie Schroffenstein“ auf die Bühne, am 25. September 2010 das Landestheater Coburg und gestern im Rahmen des Kleistfestivals das Maxim-Gorki-Theater am Berliner Festungsgraben. Das sagt vieles und spricht nicht für Häuser und Regisseure, die im Zweifelsfall lieber Stücke aus Kleist bauen, die es bei Kleist gar nicht gibt, als eines zu nehmen, das dummerweise Kleist selbst als Scharteke bezeichnet hat. Wäre die deutsche Bühne bei Goethe ähnlich folgsam, dann würden wir wahrscheinlich alljährlich zwei Dutzend dramatisierte Farbenlehren sehen müssen, vielleicht mit einem aufgehängten Isaac Newton an einer Schlinge aus dem Schnürboden, ein Schild „Lichtspektrum21“ um den Hals.
Antu Romero Nunes (Jahrgang 1983) hat für seine Inszenierung in Berlin eine überschaubar originelle Idee gehabt. Aus den Symmetrien, den Dopplungen des Kleist-Textes hat er die Konsequenz gezogen, die Elternrollen zu Doppelrollen zu machen. Rupert und Sylvester werden demgemäß von Ronald Kukulies, Eustache und Gertrude von Hilke Altefrohne gegeben. Das macht den Szenenwechsel schon einmal zum Stolperstein. Paul Schröder als Ottokar und Julischka Eichel als Agnes dürfen in ihren Rollen verbleiben, soweit die Regie überhaupt solche Durchlauf-Identitäten vorsieht. Johann Jürgens, der fünfte Darsteller im Bunde, musste fünf Rollen verkörpern, was zu komischen und unfreiwillig komischen Brüchen führte, die wohl gewollt waren.
Alle fünf Darsteller beobachteten von offener Bühne die Zuschauer beim Einnehmen der Sitzplätze, vollendeten dabei ihre Kostümierung (Kostüme: Tabea Braun) und begannen dann in einer Art Vorspiel zu erläutern, was an Geschehen folgen würde. Die hier mit sicherem Griff erfasste Rolle des Erbvertrages und damit der Eigentumsverhältnisse, die heute kaum noch jemand so nennen will, weil denen ein gewisser Karl Marx eine zentrale Rolle im Geschichtsprozess zugesprochen hat, trat im späteren Bühnengeschehen nicht mehr spürbar in Erscheinung. Kronen und Krönchen symbolisierten auf erschütternd naive Weise den Sozialstatus der Familie Schroffenstein, leider eben nicht nur naiv, sondern auch falsch, denn gewöhnlicher Adel trägt dergleichen nicht.
Immer wieder wurde die Inszenierung von Lachern begleitet, was für ein Stück, das der aktuelle Vorsitzende der Kleistgesellschaft, Günter Blamberger, in seiner umfänglichen Kleist-Biographie (siehe meine Besprechung unter „Bücher, Bücher“) als Gesellschaftstragödie, als Erkenntnis- und Sprachtragödie sowie als Familientragödie bezeichnet, nicht zwingend zu erwarten ist. Freilich mag der junge Regisseur in Erfahrung gebracht haben, dass angeblich Kleist selbst und seine Freunde in der Schweiz sich vor Lachen ausgeschüttet hätten, als der Autor die Kleidertausch-Szene vortrug. Just diese Szene soll so etwas wie der Kristallisationskern des ganzen Stückes gewesen sein, ist überliefert, und am Festungsgraben gab es die Szene als Übung bis zur Unterwäsche, wobei Julischka Eichel arge Mühe hatte, aus der Strumpfhose zu kommen. Und dann ging das Licht aus.
Ein Teil des Publikums fand das wieder urlustig, schien es doch, als würde hier im Stil der fünfziger Jahre „weggeblendet“. Doch als wieder Licht war, standen weder Ottokar noch Agnes nackt. Das Publikum war getäuscht in seiner Erwartung, was vielleicht einen Antrieb der Inszenierungsideen insgesamt darstellte. Ansonsten wurde viel gebrüllt. Insbesondere Hilke Altefrohne strapazierte heftig, wenn sie von einer zur anderen Rolle oder innerhalb der einen Rolle auf Tonartwechsel bedacht war. Eine aktionsarme Fassung hat freilich wenig Möglichkeiten, Abwechslung anders zu inszenieren. Und so wundert es denn kaum, wenn auch hier, auch in Berlin, die für junge Darsteller offenbar gar nicht mehr anders vorstellbare Daueranleihe bei Sitcom-Gestik und -mimik aus dem US-TV das Spiel überhäufig dominierte, wenn Sprachmelodien benutzt wurden, die man in der S-Bahn im Dutzend hört auf der kurzen Strecke zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg. Nur eben nicht von Schauspielern, sondern von jungen Dauerfernsehzuschauern.
Mindestens viermal fiel im Verlauf der gegenüber der Ankündigung im Programmheft um sage und schreibe 45 Minuten verkürzten Premiere der Satz: Das überzeugt mich nicht. Ich wage mir nicht vorzustellen, worin der Extremschwund bestand, den es offenbar gegeben hat, ich wage aber sehr wohl zu sagen: In der Tat, das überzeugt mich nicht. Das Tragische der Tragödie, das vielleicht gar, siehe oben, dreifach Tragische, blieb auf der Bühne vollkommen unsichtbar. Vielleicht war, was sichtbar wurde, die Lesart: Scharteke, die ich eigentlich gar nicht inszenieren will, weil ich sie für unspielbar halte. Das wäre preiswerter zu haben gewesen: durch Ablehnung des Regie-Auftrags. Diese Familie Schroffenstein hat, wenn man denn auf Aktualitäten aus ist, ja durchaus eine solche Dimension, denn nie in der jüngeren Geschichte ist das Primat der Eigentumsverhältnisse schlagender alltäglich und allgegenwärtig vorgeführt worden wie bei der Rückverwandlung der verstorbenen DDR in eine Zone des Privateigentums an Grund, Boden und Produktionsmitteln und des daraus und darüber erwachsenen gesellschaftliche Gesamtbaus inklusive Werten und Moral.
Kleist hat sich scheinbar von seinem eigenen Bühnenerstling distanziert. So aber hat auch Kafka gesprochen und dennoch sind wir Max Brod dankbar, dass er den letzten Willen seines Freundes missachtete. Kleists letzter Wille vollzog sich am Kleinen Wannsee, morgen jährt sich die Tat zum 200. Male. Was er alles verbrannte, ehe er zweimal schoss, wissen wir nicht. Die Familie Schroffenstein aber hat Potential weit über den vermeintlichen Anlass für einen Hundert-Minuten-Ulk hinaus. Man kann sich versuchsweise ja darauf einlassen zu spielen, was der Autor aufschrieb und wenn ein Regisseur der Sprache Kleists misstraut, weil Kleist selbst nicht primär seiner, sondern der Sprache als solcher misstraute, dann muss man dem ja nicht unbedingt dadurch entgegen steuern, dass man die Darsteller Regieanweisungen sprechen lässt und Hüte werfen als Zeichen des Szenenwechsels.
Babet Mader bringt schon im Programmheft auf der zweiten Seite Dinge so gravierend durcheinander, dass man verstört ist, was einen da wohl erwarten mag, lange bevor das erste nasse Handtuch auf das offene Bühnenfeuer geworfen wird, welches die Höhle „im Gebürg“ darstellen muss. Nein, das überzeugt mich nicht. Wie ein schlechter Witz wird auch immer wieder der Satz vom Gefühl der Seelengröße wiederholt. Und zur Forderung, des Ansehens würdig aufzutreten, schlurft Silvester in Goldlurex-Unterhose über die Bühne. Als Rupert sagt Ronald Kukulies: Alles hat nichts zu sagen. War das am Ende die Essenz des Abends mit Spielzeitschwund? Alles war beliebig, alles hätte auch ganz anders sein können, die Personen sind austauschbar, deshalb tauschen wir sie aus, ohne das auch nur im Ansatz kenntlich zu machen?
Fast am Ende, wenn die Väter ihre Kinder nicht ermordet haben „aus Versehen“, wenn sie dennoch tot liegen, gibt es mit einem Spiegel eine wirklich gute Bild-Idee. Ganz kurz lässt die all die Mätzchen vergessen, all die Scherzchen, die nicht nur die Tragödie vernichteten, auch die Poesie, die dennoch immer wieder aufschien, wenn ganz kurz Kleist Kleist bleiben durfte, was wohl eher nicht beabsichtigt war. Verfremdung als bühnenpädagogisches Anliegen gegen bürgerlich-kulinarisches Theater ist heute ein so alter Hut, dass ein echtes Pferd auf der Bühne oder ein Römerhelm aus dem Antikenmuseum in der „Hermannsschlacht“ schon post-postmoderne Avantgarde sein würde. Das Parkett klatschte nicht übertrieben heftig, das Quietsch- und Pfeifpublikum quietschte und pfiff, wie es auch im Fernsehen quietscht und pfeift, wenn der persönliche Superstar die Bühne betritt. Warum nennen Interpreten den Namen der Familie Schroffenstein eigentlich einen sprechenden Namen?
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