Goethe: Faust I; Theater Rudolstadt
Habe nun, ach! Programmheft studiert, Besetzungsliste, Musik und leider auch Spielfassung. Da steh ich nun, ich noch nicht ganz verarmter Tor und bin ein wenig klüger nur als noch zuvor. Nie schien mir vorherige Lektüre wichtiger als hier zu Rudolstadt in diesem Falle. Wäre Brecht der Verfasser des „Faust I“ ohne Unterstrich, dann hätte die Intendanz womöglich bald mit einer Unterlassungsklage von Suhrkamp und Brecht-Erben zu rechnen, die Goethe-Erben aber sind geduldig wie Papier. Die Spielfassung, sehr klein gedruckt der Hinweis, sehr klein, ist dem Bastelsatz „Goethes Werke“ entnommen: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ oder umgekehrt und vielleicht docken einige kleinere germanistische oder theaterwissenschaftliche Seminararbeiten dereinst an ihr an, die ergründen wollen, wie dieses ward. Mir schien der Abend mit seinen 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause, seh- und hörbar auch als denkbares Vermächtnis eines leise frustrierten Kleintheater-Intendanten, der noch einmal, endlich einmal klotzen statt kleckern wollte. Er besetzte als Regisseur sich selbst in der Titel- und Hauptrolle, auch das.
Beiseite gesprochen: In Textbeherrschung und Spiel landete er klar vor sich selbst als Regisseur. Daran änderte die offenhörliche Stimmindisponiertheit wenig bis nichts, auch wenn das wohlmögende Bankreihen-Nachbarn anders zu sehen mir anrieten, falls ich sie nicht falsch verstand. Der Einsatz einer Matratze im Weimarer Faust macht nun in Rudolstadt Schule, es wäre im dritten vorkommenden Fall vom neuen Thüringer Matratzen-Faust zu reden: Hier lieg ich nun, ich armer und so weiter. Das Klotzen meint auch die Demonstration, es handle sich in Rudolstadt nach wie vor und tapfer um ein Mehrspartenhaus mit Gesang und Tanz und Sprechtheater, mit Kabarett und Orchestergraben-Orchester. Denn, nach der genannten Zeit des Spielens, des Singens, des Tanzens, einer neben mir klopfte sich schon rhythmisch auf die Schenkel, als die ersten Takte zu hören waren, während zwei neben mir (auf der anderen Seite) fortwährend ihre Mails checkten, arbeitsteilig gähnte er, während sie checkte, blieb die fragende Feststellung: Was war das jetzt? Es war, eingangs, eindrucksvolles Deklamieren. Es wurde dann ein Gemischtwarenladen, ein Kessel Buntes noch eher, in dem alle Register gezogen wurden, die Rudolstadt mit Ausdauer ziehbar hält. Also es war Sommertheater unter Dach, es war Oper, Musical, Klamotte, Zeitsatire, natürlich auch Schminkkasten. Einem Tagebuch-Eintrag des hochverdienten Vorsitzenden des Theater-Fördervereins entnehme ich, wer alles was sang, nie hätte ich das wissen können und bin mir keineswegs sicher, ob ich es hätte wissen wollen.
Immerhin, die Bastelsatz-Spielfassung wies trotz allem allerhand „Faust. Der Tragödie erster Teil“ auf, verblüffend viel sogar, wenn man im Buche noch einmal nachblättert. Die Personalunion von Intendanz, Regie und Titelrolle hatte den wohl nicht ganz überraschenden Nebeneffekt, dass der Mephisto in seiner Tendenz, Bühnen zu dominieren, in Schranken gewiesen wurde, die seinem Darsteller Matthias Winde keineswegs die Spiellaune verdarben, nur manchmal setzte er den Effekt zu akzentuiert. Man kennt die Rudolstädter Bühne, auf der immer rechts und oder links sich Luken öffnen, aus denen oder in die gestiegen, geklettert wird, es stand rechts oben eine Madonna zum Zwecke des „Ach neige, du Schmerzensreiche“, die innerhalb der ebenfalls aufwendigen Lichtregie mal mehr, mal weniger beleuchtet wurde. Für den Hintergrund gab es eine später nach vorn gleitende Wand aus drehbaren Elementen, die eine Perspektive auf Windräder zeigte, zu Mephisto Winde passend, um es mit einem Kalauer zu versuchen, es wehten nicht die Winde, sondern der. Wen ich mir als Mephisto leicht besorgt gedacht hatte, verrate ich nicht.
Das Theatergängerleben bestrafte jeden, der spät kam, denn schon zwanzig Minuten vor Spielbeginn standen Markus Seidensticker, Marcus Ostberg und Günther Sturmlechner mit Sektgläsern in den Händen auf der Treppe und brachten das Vorspiel auf dem Theater zu Gehör. Sie wiederholten es später und dann gab es auch den Prolog im Himmel mit Off-Stimme. Matthias Winde war in die Farben schwarz und rot gewandet, sogar die Stiefel nahmen diese Farbgebung auf beide Füße separiert auf. Dagegen Steffen Mensching in Kapuzenmantel und Mütze diffuse Assoziationen weckte, sogar an einen wandelnden Altgläubigen denken ließ. Da im Programmheft alles steht, was zum Inszenierungshintergrund gewusst werden müsste, um zu verstehen, was da in bunter, jedoch keineswegs stringenter Bildfolge zu sehen war, hat der Kritiker der Versuchung zu widerstehen, dass alles Seite für Seite, Zitat für Zitat am Spiel in Rudolstadt zu überprüfen. Wohl den Sehgewohnheiten des Kleinstadtpublikums geschuldet das bisweilen krasse Auseinanderklaffen zwischen Text und Bild. Die nackten Hexchen waren alles andere als nackt, ich dachte zunächst an eine Reisegruppe mit Regenmänteln aus Plastik auf dem Weg zum Gradierwerk eines nahen Solebades, verbaler Obszönität war doch arg harmlose Visualisierung zugeordnet. Aber Bühnen-Nacktheit war gestern, das soll nicht vergessen werden, nur die Oper Erfurt hält sie noch in Ehren.
Auch in Rudolstadt steht man schließlich vor dem Absturz von den, modern gesprochen, megahohen Ambitionen eines Studierzimmerhagestolzes namens Heinrich Faust, der wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, um bei der späten Erkenntnis zu landen, wie man die untere Hälfte der weiblichen Teilwelt Margarethe dazu bringt, sich eben nicht zusammen zu halten. Das Gretchen ist ein munteres Mädchen, für die folgende Tragödie fast zu munter, Lisa Klabunde wusste durchaus zu gefallen. Die überhohe Wertschätzung des sexuellen Erlebnisses mit einem Mädchen, das fast Enkelin des Faust sein könnte, folgt man der ebenfalls ins Programmheft gehobenen Eigendeutung Goethes, Faust sei 54 Jahre alt, hat womöglich ganz profan mit des Meisters eigenem römischen Faustina-Erlebnis zu tun, welches nach vieler Forscher Überzeugung aus Jungfer Johann Wolfgang den Mann machte, den eine deftige Christiane Vulpius mit Hasi-Hasi spät aber ausdauernd verwöhnen konnte. Die göttliche Natur Fausts herrschte fünfzig Jahre über die thierische (seine Schreibweise), wie Goethe gesprächsweise und im Heft zitiert, erläuterte, das ist lang in Zeiten, da es noch keine Videotheken gab und die göttliche Natur Angst vor Ansteckung hatte, eine zu Leipzig in der Nähe von Auerbachs Keller gewonnene Urangst.
Der Augenblick, wenn er denn verweilen möge, kann Blähdeutung erfahren, wenn er nicht nur ein Spätmännerorgasmus sein soll bei Sex mit einer Minderjährigen. Aber, aber, ruft das Gewissen, das alles ist doch nicht Faust, um den uns die Welschen keineswegs beneiden, gibt es nicht den Paragraphen der Goethe-Lästerung, müssen Faust-Karikaturisten nicht bald mit einem Puddingbeutel-Attentat rechnen? Der „Faust“, es tut mir leid, ist ein grandioser, ein über alles und jedes Maß hinausgehend grandioser Text, der vielleicht auf einer reinen Lesebühne besser aufgehoben wäre als in den Händen von Spielleitern, deren jeweils höchster Ehrgeiz nur noch darin besteht, die bekanntesten Stellen (Eröffnungsmonolog, Osterspaziergang, die Wette zum Beispiel) ganz anders zu machen als alle anderen vorher es machten, was mit den Jahren seit der ersten Aufführung 1828 in Paris brutal schwerer geworden ist. Die erste Weimarer Aufführung, auf Goethes 80. Geburtstag gelegt, besuchte der Dichter nicht, er wollte sich wohl die Enttäuschung ersparen. Was allein auf der Treppe zu Rudolstadt gesprochen wurde, hat mehr Substanz als alle abendfüllenden Wegwerf-Zeitstücke. Dennoch hält sich das Zuschauerinteresse stabil, wann immer irgendwo ein neuer „Faust“ angekündigt, realisiert und Anlass zu neuen Enttäuschungen wird.
Steffen Mensching und Michael Kliefert haben in Co-Regie der langen Rudolstädter Faust-Tradition mit ihren nicht nur zeitlichen Lücken, die im Programmheft erfreulicherweise knapp dokumentiert ist, ihren Beitrag angefügt. Fast alle Darsteller hatten zwei und mehr Rollen zu bewältigen, Carola Sigg sogar vier, Annika Rioux auch, ihre Sopransoli mitgezählt, und man konnte dennoch sich des Gefühls kaum erwehren, dass einige nur sich selbst spielten oder das, was sie immer spielen, egal wie das Stück heißt. Da das aber, dem Vernehmen nach, auch Klaus Maria Brandauer tut, soll es nicht abwertend gemeint sein. Einige der Ideen, die zusammengetragen wurden, sind läppisch wie die Lacher erzeugenden Dialekt-Einsprengsel; wenn der Chor plötzlich Blumen in den Händen hält, wirkt es auch nicht eben grandios einfallsreich. Und die Szene in Auerbachs Biergarten-Keller: na ja, gut dass nicht in einer Ecke ein Anti-Pegida-Plakat stand oder eines gegen Chlorhühnchen. Hier kam das Publikum aus den Puschen und klatschte mit wie bei Andrea Berg. Es sei. Ute Schmidt musste die Frage „Erkennst du mich, Gerippe?“ ertragen, den Humor hat sie im Blut. Und was enthält das zweite Mephisto-Päckchen für Margarethe? Schuhe! Dieses Schuh-Gretchen tötet dann die Mutter, das Kind? Aber man weiß ja aus der Bild-Zeitung, dass Amokläufer vorher im Hauseingang immer die Nachbarn grüßen.
Falls in den fünfziger Jahren im amerikanischen (und anderweitigen) Film gezeigt werden sollte, dass jemand „es“ tat, zeigte man gern eine Frau mit Betttuch am Kinn, daneben einen rauchenden Mann mit nacktem Schlüsselbein, das war schon Porno. Wenn es Mephisto mit Marthe getrieben hat, knöpft sie sich den obersten Kleiderknopf zu, er die Hose, herrjeh: auf einer Seite die fast krampfhaft bemühten Einfälle, auf der anderen die abgelatschtesten Reprisen der abgelatschtesten Andeutungsideen. Und es wird pflichtschuldigst gelacht. Obwohl es doch nur auf den nächsten Heidecksburg-Sommer einstimmt. Der ganz bestimmt kommt und ganz bestimmt wieder gut wird. Was bleibt mir, nächst Mensching als Faust, Lisa Klabunde nach der Pause, Carola Sigg als Marthe am ehesten im Gedächtnis? Zu meiner eigenen Überraschung Johannes Arpe als Wagner, Marcus Ostberg als Valentin. Das hat wohl damit zu tun, dass sie in der Tragödie erstem Teil verblieben. Die sich als widerständig erweist in ihrer robusten Vorgabe. Und sollte nach dem Schlussbeifall dieser und weiterer Aufführungen doch da und dort zu Hause in Rudolstadt und Umgebung nach einem bestimmten Reclamheft gesucht werden, wäre das schon Nachhaltigkeit, Goethe sei dank.
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