Tschechow: Drei Schwestern; Theater Rudolstadt
Seine Arbeit in Rudolstadt hat Maik Priebes Wikipedia-Seite noch nicht erreicht. Der 1977 geborene Regisseur inszenierte dort Anton Tschechows „Drei Schwestern“ und brachte dabei einen ansehnlichen wie auch anhörlichen Theaterabend zustande. Der König der provinzialen Print-Kritik hatte sich entschuldigen lassen, die Vize-Königinnen mit und ohne Unterstrich werden bewährte Ersatzarbeit leisten, das Presse-Echo wird folgen, solange es noch Presse und Echo gibt. Für die Zeit danach werden sich Pressesprecherinnen eine neue Berufsbezeichnung zulegen müssen, die Pressespiegel werden blind sein oder ihrem Namen Hohn sprechen. „Und Ilona Freyer hatte die leere Bühne nur mit zueinander nicht passenden Stühlen vollgestellt.“ Der Satz von Altvater Georg Hensel meint natürlich nicht Rudolstadt, sondern Stuttgart vor langer Zeit. Susanne Maier-Staufens Stühle auf leerer Bühne passten zueinander und Maik Priebe ist auch nicht Peymann, den Hensel nicht unbedingt liebte.
„... eine Choreographie aus beschleunigten und verlangsamten Gängen, mitunter fällt eine gewisse Verkünstelung auf.“ Der Satz von Peter Iden meint natürlich nicht Rudolstadt, sondern Berlin, nicht Maik Priebe, sondern Peter Stein an der Schaubühne am Halleschen Ufer. Und doch hatte die Choreographie im vierten Akt just diese Gänge, als fast alle Darsteller mit schwarzen Mänteln dem Publikum ihre Rücken zukehrten und sich nach Zwischenmusiken erneut bewegten. Diesmal ließ der Intendant nicht eigens Musik komponieren, die Regie griff auf bewährte Stücke aus der russischen Folklore sowie die sowjetische Nationalhymne zurück. Nach der Pause hingen auch andere Bilder an den Bühnenwänden, identifizierbar ein Lenin, ein Stalin, ein Berija, eine Anna Politkowskaja, ein Finger muss immer in die Aktualität bohren. Noch einmal Georg Hensel: „Um diese hilflose russische Gesellschaft zu beseitigen, scheint die Oktoberrevolution ein wenig übertrieben.“ Was man heute sogar als gar nicht übertrieben bezeichnen könnte.
„Drei Schwestern“ stehe und falle, verlautete kürzlich aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen Dresdens nach der dortigen Premiere, mit den Darstellerinnen der drei Schwestern. Da gab es, um als Hausmarken nur zwei zu nennen, bei Thomas Langhoff 1979 Monika Lennartz, Ursula Werner und Swetlana Schönfeld, bei Peter Stein 1984 Edith Clever, Jutta Lampe und Corinna Kirchhoff. Und wen hat Rudolstadt: Verena Blankenburg, Carola Sigg und Lisa Brinckmann. Keine Furcht, hier folgt keine unfaire Abqualifizierung, denn alle drei hatten, mildes Erstaunen sei vermerkt, ausgesprochen starke Momente. Die ihre Stärke auch daraus gewannen, dass die emotionalen Aufschwünge zwischendrin, die leider wieder nur in Hochphonigkeiten gipfelten, von leisen Tönen kontrastiert wurden. Carola Sigg habe ich in mindestens drei Szenen so gut gesehen wie zuvor nicht, sie hat ganz offenbar Facetten, die ihr gelegentlich abverlangt werden müssen. Als Lisa Brinckmann nicht mehr nur an ihren Zöpfen zu spielen hatte, gab es auch eine Irina neben der Mascha und Verena Blankenburg, die Olga, lebte nach der Pause deutlich auf.
Auch in Rudolstadt geht es nach der Pause deutlich weniger lustig zu als vor der Pause und dass es lustig zugehen darf, hat Tschechow selbst legitimiert, indem er seinen Vierakter als Komödie sah. Überhaupt ist es hilfreich, sich angelegentlich in die mehr oder minder, meist mehr herrlichen Einakter Tschechows zu vertiefen, um zu sehen, dass dieser schreibende Arzt selbst in dem, was er wie abwertend Vaudeville nannte, wunderbar ist. „Tschechows große Stücke, zu denen die Geschichte von den „Drei Schwestern“ zählt“, schrieb einst ein DDR-Kritiker, „haben Jahrhundertmaß; sie überdauern unterschiedliche Zeiten. Sie bleiben und sie verändern sich zugleich: Jede Zeit blickt anders auf sie zurück.“ Was uns darüber belehrt, dass auch DDR-Kritiker keineswegs nur Unfug zu Papier brachten, dieser hieß übrigens Günther Cwojdrak. Die drei Schwestern Olga, Mascha und Irina leben in der Einöde. Ein Kollege von mir, der sein Studium in Rostow am Don absolvierte, pflegte zu sagen, wenn er danach gefragt wurde, man hätte sich Rostow am Don wie Schleusingen mit einer Million Einwohnern vorzustellen. So sehe ich seither gern Olga, Mascha und Irina.
Um die drei gibt es Männer. Einer ist der Ehemann von Mascha, Kulygin, in Rudolstadt Markus Seidensticker. Wie immer ist das Bild seiner komödiantischen Fähigkeiten dadurch beeinträchtigt, dass er neben den beabsichtigten auch unbeabsichtigte komische Wirkungen erzielt. Wobei dieser Lehrer mit seinen lateinischen Sprüchen nur wirklich Tragik und Komik vereinen darf und soll. Es gibt den Bruder der drei Schwestern, er heißt Alexej (Johannes Geißer), der anfangs mit seinem Geigenkasten fast an der Rampe sitzt, der Geige auch quälende Töne entlockt, aber eigentlich gern in Moskau Professor sein möchte. Damit ist seine Sehnsucht, der der Schwestern gleichgerichtet, auch sie träumen von Moskau, glauben, in Moskau müsse alles anders sein und noch mehr anders werden. Sie täuschen sich, wie er sich täuscht. Er verspielt nicht nur sein Eigentum, sondern auch das der Schwestern. Bis dahin aber wird aus dem Verlobten der Gatte von Natalja Iwanowna (Anne Kies). Die umwerfend ist, wenn sie von ihren Kindern sprechen darf, man ahnt warum; die etwas Mühe hat, das böse Mädchen zu sein, das sie im Haus der Schwestern zunehmend zu sein hat.
Zwei unter den Männern, die im Hause agieren, ragen als Rollen noch etwas heraus, der eine als seit Monaten die Miete schuldig bleibender Arzt Tschebutykin (Matthias Winde, der sich unter dem Lob für seinen Mephisto offenbar hervorgearbeitet hat), er gibt den Zyniker und Trinker, der bei Tschechow gerade als Arztfigur, man ahnt warum, häufig vorkommt. Der andere ist Werschinin, Oberstleutnant (Burkhard Wolf), den Schwestern aus Moskau sogar als der „verliebte Major“ schwach in Erinnerung, diese Reminiszenz ist in Rudolstadt gestrichen. Er ist mit einer Gattin und zwei Töchtern geschlagen, die Töchter liebt er, die Gattin weniger, sie tyrannisiert ihn mit ständigen Selbstmordversuchen, die erwartungsgemäß leider misslingen. Eine der drei oben angedeuteten Szenen mit Carola Sigg ist die ihres ersten Zusammentreffens mit Werschinin, später folgen weitere und da gibt kleine und kleinste Gesten, da gibt es huschende Blicke, Verlegenheiten, Glücksmomente, alles sieht man, mehr will man nicht sehen. Dieser Werschinin zu Rudolstadt schaffte es, mit seinem Philosophieren nicht zu nerven, was der Rolle auch bei namhaften Spielleitern schon unterlief, in tapferer Rollenverkennung sogar absichtlich.
Tino Kühn ist der Baron Tusenbach, den die schließlich resignierende Irina zu heiraten einwilligt, der dann aber von Soljony (Günther Sturmlechner) im Duell erschossen wird. Bei Tschechow hört man einen Schuss, bei Maik Priebe sieht man ihn, und es sieht eher aus wie der zuvor angekündigte Mord. Soljony ist wohl in der Lage, auf Irina zu verzichten, die er auch liebt, nicht aber, sie einem anderen zu gönnen. Und der zynische Arzt, der auffallend ausdauernd mit der Wodka-Flasche auf seinem Knie wackelt, bedauert das alles zwar, weiß aber, dass es auf einen Baron mehr oder weniger in der Welt kaum ankommt. Womit er natürlich vollkommen recht hat, wie es Zynikern ja sehr oft ergeht, was sie aber dennoch nicht beliebter macht, nicht einmal bei sich selbst. Marcus Ostberg hat als Fedotik nur kurze, intensive Auftritte, dabei auch den doppelten mit dem Brummkreisel, kaum anders ergeht es dem für diese Rolle reaktivierten Hans Burkia als schwerhörigen Semstwo-Boten Ferapont, der die Hand zittern lässt und dessen markante Stimme man gern wieder einmal hört. Semstwo ist in der Werner-Buhss-Fassung, die Rudolstadt spielt, zum Kreisrat geworden, dafür gibt es diverse Pelzmützen als folkloristischen Ersatz, ebenso Filzstiefel.
Ute Schmidt hat nicht nur Haare in einer Pracht, die sie als ideale Loreley-Besetzung erscheinen lassen, wahlweise auch als Rapunzel im Turm, sie ist für ihre Anfissa deutlich zu jung. Das zu überspielen, fällt ihr schwer und so gewinnt sie der Rolle vor allem vor der Pause mit Vorliebe ihre komischen Seiten ab. Mit denen ist sie schwer zu schlagen, ihre Rudolstädter Fans wissen das wohl, dennoch ist jenseits der achtzig eben jenseits der achtzig. Wäre zu Bühne und Kostümen zurückzukehren. Die Idee, nach einem extrem statischen ersten Akt in Alltagskleidung die Verwandlung auf der Bühne zu einem fast theaterfrühgeschichtlichen Bühnenbild mit Hinterhänger und Seitenhänger zu gestalten, an dem alle Darsteller beteiligt sind und zwar nicht wie beim V-Effekt seligen Andenkens, sondern tatsächlich spielend, das ist schon sehr vergnüglich. Dann Kostüme wie aus dem Kostümbilderbuch, gut so, sehr gut, Verkürzung der Bühne nach vorn und schließlich wieder der leere schwarze Raum und das Finale. Beifall. Einfach Beifall.
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