Lessing: Minna von Barnhelm; Schlosspark Theater Berlin

Als Intendant verkündet Dieter Hallervorden den Besuchern seines Hauses in der Schlossstraße 48 in Steglitz die drei Bausteine seines Spielplankonzeptes bei Übernahme des Hauses mit der Säulenfassade im Dezember 2008 erfrischend kurz und knapp. Baustein 1: „Werktreue! Autoren, speziell Klassiker, sollten ihre Œuvres zweifelsfrei wiedererkennen dürfen.“ Kein zweites Ausrufezeichen, nur ein Punkt. Es gibt Bataillone von Regisseuren und Intendanten, die eher in den Teppichhandel wechseln würden, als solcher Maxime zu folgen. Von diesen Regisseuren und Intendanten sämtlicher Geschlechter und sämtlicher Geschlechterrollenverweigerungsspielarten kommen, grob geschätzt, null auf eine Zahl von 33 Aufführungen ihrer neuesten Inszenierung in drei Monaten. „Minna von Barnhelm“ in der Regie von Thomas Schendel steht von den Voraufführungen am 19. und 20. Januar, Premiere dann am 21. Januar, bis zum 23. April genau 33 mal im Spielplan, ich sah Nummer 18 im proppenvollen Haus, mit Pause dauerte es zwei und eine viertel Stunde, am Ende gab es heftigen Beifall. In der Pause muss es, argwöhnt der Fußballfreund, eine Kabinenansprache gegeben haben, das Spiel nahm in einem Maß Fahrt auf, wie es der eher gemessen-gediegene Einstieg nicht zwingend vermuten ließ. Was nicht gegen das Spiel spricht.

Man sieht zunächst eine Runde beim Kartenspiel, drei Männer, ein vierter etwas seitab, der dann zu singen anhebt. Der Sänger ist Just (Anton Spieker), ihm fällt die Aufgabe zu, mit dem Wirt (Harald Heinz) jenen Dialog zu führen, der den Zuschauer in die vorliegende Situation einführt: der Major von Tellheim ist im Hotel des Wirtes umquartiert worden, weil eine Dame zwingend ein Obdach brauchte und keinesfalls der Konkurrenz zufallen sollte. Der Major hat über einen längeren Zeitraum sein Domizil nicht bezahlt, er befindet sich in einer von ihm selbst und auch von anderen als durchaus prekär empfundenen Situation als ausgemusterter preußischer Offizier. Dazu ist er am rechten Arm verwundet, bei etlichen Verrichtungen auf die Handreichungen seines Burschen Just angewiesen. Dass die Dame nicht irgendeine Dame ist, sondern eben Minna von Barnhelm, die auf der Suche nach genau dem Major ist, dem sie, ohne es zu ahnen, das Zimmer wegnahm, versteht sich nahezu von selbst. Diese Minna (Katharina Schlothauer) ist in Begleitung von Franziska (Maria Steurich) im Hotel abgestiegen. Sie will nicht mehr auf spärliche Nachrichten warten, sie will dem Mann, den sie liebt, nahe sein, ohne zu ahnen, in welcher Verfassung sie ihn antrifft. Und diese Verfassung ist alles andere als lustig. Der Major von Tellheim ist fast ein Menschenfeind geworden.

Oliver Mommsen spielt seinen Tellheim zunächst wie einen Mann, dem es nicht wichtig ist, verstanden zu werden. Er ist den Männern gegenüber, mit denen er zu tun hat, bis in den Tonfall hinein anders als im Umgang mit den Frauen. Fast rein militärisch laut und forsch. Freilich hat ihm die Regie eine dieser Frauen gestrichen, die Dame in Trauer, die ihm Geld bringen will, was er zurückweist. Da die Streichungen nicht so weit gehen, auch jeden Bezug auf diese Frau zu tilgen, hängt später eine Textstelle mit solcher Anspielung in der Luft und erzeugt mindestens einen falschen Eindruck. Geblieben sind an Frauen nur Minna und Franziska. Ihnen gegenüber hat er Mühe, seine Steifheit zu überwinden. Erst die falsche Nachricht, Minna sei mittellos und enterbt, euphorisiert ihn geradezu, macht ihn agil und fast fröhlich, lässt ihn einmal spontan gar den Kopf in Minnas Schoß legen. Den Minna angeblich enterbt habenden Onkel, der bei Lessing gar kein böser, sondern ein guter Onkel ist, hat die Regie ebenfalls komplett gestrichen. Für die finanzielle Zukunft des Paares ist er auf den ersten Blick auch nicht zwingend nötig. Es gibt ein herkömmliches Ende in fast ungebrochener Lustspieltradition mit zwei sich findenden Paaren, denn auch der Wachtmeister Werner und Franziska finden, und zwar auf sehr viel geraderem Wege, zueinander.

Fast seit der Uraufführung am 30. September 1767 in Hamburg ist eine Figur im Lustspiel „Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück“ mit Regelmäßigkeit als aus dem Rahmen fallend erachtet worden: es ist der Spieler Riccaut de la Marliniére, hier Mario Ramos. Er kommt im Schlosspark Theater nach der Pause fast wie ein Gummiball auf die Bühne gesprungen, den man heute zeitgerecht Flummi nennen müsste. Bei Lessing ist dieser Auftritt zu Beginn des vierten Aktes nervig lang und für Leser wohl auch alles andere als lustig, im Bühnenspiel aber gerät der Franzose unfehlbar sicher zur großen Solo-Nummer, weil das Gemisch aus Schwerstakzent und Französisch für nicht ganz Fortgeschrittene einfach gesprochen völlig andere, nämlich durchschlagende, Wirkungen zeitigt. Mario Ramos heimste deshalb unvermeidlich (und selbstverständlich verdient) kräftigen Szenenapplaus ein, der wenigstens scheinbar das gesamte nachfolgende Spiel aller beflügelte und beschleunigte. Es soll angemerkt sein, dass Gotthold Ephraim Lessing keineswegs nur frankophone und frankophile Hofmoden seines 18. Jahrhunderts auf seine satirische Schippe nahm, sondern auch höchst eigene Erfahrungen als Spieler verwenden konnte. In einer heutigen Selbsthilfegruppe Spielsucht würde der Aufklärer wohl kein vollkommen Fremder sein.

Katharina Schlothauer erfüllt eine auch nicht mehr junge Forderung an alle Minna-Darstellerinnen: sie sollte zwar durchaus aussehen wie 21, keineswegs aber selbst erst 21 Jahre alt sein. Die Rolle benötigt in der Tat Lebenserfahrung, frauliche insbesondere, die nach Meinung von Kennern mit 21 kaum zu haben sind. Gegen Lessing selbst wäre einzuwenden, dass er in dieser Hinsicht seine beiden Frauenzimmerchen, auch Franziska ist ja erst 21 Jahre alt, durchaus überfrachtete. Genau diese Differenz haben beide Darstellerinnen zu überspielen, Franziska muss zusätzlich so agieren, dass sie nicht die lange Reihe resolut-komischer Dienerinnen, die schon aus der Antike herkommt und bei Moliere noch zeitgenössisch ist, lediglich fortsetzt. Maria Steurich ist der Versuchung ausgewichen, indem sie bisweilen wie zum Spaß auch ins Rollenklischee rutschte. Sie war genau da stark, wo sie stark zu sein hat. Als der Wirt seinen Gast Minna aktenkundig auszuhorchen versucht etwa. Als sie an den Lippen von Paul Werner hängt, der dabei unvorbereitet erkennen muss, für eine Frau ein attraktiver Mann zu sein. Der seine gute Seele ertappt fühlt wie das übrigens auch in der Vorgeschichte des Lustspiels dem Major von Tellheim geschah. Dessen gute Seele und edle Moral überhaupt der Grund waren, warum Minna seine Bekanntschaft suchte, ihre und seine Liebe fand.

Theodor Fontane fand es 1870 löblich, dass die Inszenierung, die er sah, nicht auf vordergründige Aktualisierungen setzte. „Minna von Barnhelm“ böte Ansatzpunkte für dergleichen, man muss gar nicht zuerst an die Stellen zur Türkei denken, man kann die Nöte des Berufssoldaten im Frieden, wie sie den einstigen Wachtmeister Werner plagen, zwanglos zum Startplatz für Assoziationen machen. Tellheim selbst hat mit mehrfachen Aussagen zum Sinn des Soldatenseins geradezu Einladungen ausgesprochen. Wer ihnen folgte, handelte zwar zeitgemäß, nicht aber im Sinne des Spielplankonzepts von Prinzipal Hallervorden, der sich sehr viel dabei gedacht hat. Franziskas Frage wird also gestellt und mehr nicht: „Es ist doch wohl hierzulande keine Sünde, aus Sachsen zu sein?“ Fast schon, möchte man aus dem Saal rufen, wir sind Zeugen eines Lustspiels. Die Replik des Wirtes ist auch nicht für Fremdenverkehrsämter zwischen Nordhausen und Sonneberg, Eisenach und Altenburg geschrieben: „Aus Thüringen! Ja, das ist besser, ...“. Ich gebe gern zu, dass ich 2013 in Potsdam und Weimar (bei der „Minna“ aus Hannover) mehr gelacht habe (nachzulesen hier in THEATERGÄNGE), mehr überrascht war. Ich halte es mit Elisabeth Brock-Sulzer: „Man müsste es immer neu aufzuführen versuchen, denn es vollgültig aufzuführen, ist kaum je zu erreichen.“
www.schlossparktheater.de


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