Kleist: Der zerbrochne Krug; Landestheater Coburg

Am Coburger Landestheater ist Regisseur Johannes Zametzer die erste Ach-Verpflanzung am fortlebenden Kleist-Corpus gelungen. Eve Rull (Solvejg Schomers), Tochter von Marthe Rull (Kerstin Hänel) steht am Ende von reichlich zwei Stunden Spiel (mit Pause) an der Rampe und sagt das theatergeschichtsträchtige „Ach!“ der Alkmene aus dem „Amphitryon“ des nämlichen Dicht-Meisters. Hätte Kleist gegen derartigen Transfer Protest eingelegt, den Botschafter des Theaters einbestellt? Wohl nicht. „Der zerbrochne Krug“ ist in Coburg so malerisch zerbrochen, dass man ihn strenger genommen gar nicht zerbrochen nennen möchte. Er sieht in den Händen seiner Besitzerin eher aus wie das Opfer eines Schusses, ein Krug mit Loch, ein Krug im Outfit von Delfter Porzellan, blauweiß und von der Geschichtsszene auf seinem Bauch ist mehr übrig geblieben als zu Scherben zerfallen. Doch auch er wird einen weiteren Auftritt bekommen in Utrecht, denn mit dem Dorfrichter Adam in Unterhosen auf der Flucht durchs Schneegestöber ist nur auf der Bühne die Geschichte zu Ende, im imaginierten Leben folgt das Zivilverfahren.

In Zeiten forcierter MeToo-Debatten wäre zu fragen, ob die von Heinrich von Kleist zu Papier gebrachte Geschichte einer glücklicherweise gescheiterten sexuellen Nötigung überhaupt den Stoff zu einer Komödie hergibt. Ob nicht der Umstand, dass just diese Komödie, die zweifelsfrei eine ist, zu den drei bedeutendsten deutschen Komödien zählt, mehr aussagt über dieses Land als manch an Flüchtlingsköpfe geworfenes gebrauchtes Plüschtier auf dem Münchener Hauptbahnhof? Die Frage stellen, heißt ihre Absurdität vor Augen geführt zu haben. Wiewohl Kleist, der Unglückliche, dem ausgerechnet Goethe in Weimar die Uraufführung so gründlich vermasselte, dass Langzeitfolgen für das Stück zurück blieben, ja schon auch gezeigt hat, warum belästigte Frauen es so schwer haben, über die Belästigung zu sprechen. Um diese Kurve herum gedacht, könnte das etwas seltsame Spiel der Solvejg Schomers, die sich als Eve bewegte und sprach, als wäre sie ein Android, einen tiefen und so sogar glücklich umgesetzten Sinn haben: als wäre nicht sie selbst es, die das Geheimnis enthülle, als spräche „es“ aus ihr. Als wehre sich die Wahrheit körperlich, ihr Versteck zu verlassen.

In Coburg ist Stephan Mertl der Dorfrichter Adam. Von ihm sieht man zuerst vor allem Beine unterhalb des Knies, einen nackten und einen bestrumpften Fuß. Später sieht man eine Unterhose, in ihrer vorderen Gelblichkeit signalisierend, dass dem Junggesellen keine Gattin beigegeben, welche männlichen Wäschewechsel überwacht. Im fiktiven niederländischen Huisum war auf Slipeinlagen für Herren ohnehin nicht zu hoffen. Mertl darf sich erst recht spät soweit bekleiden, dass die altweiße Buchse unsichtbar wird. Der Rest ist bekannt. Also die Perücke fehlt, weil sie im Gebüsch hängen blieb. Ihr Fehlen findet in der findigen Tirade des Richters diverse Begründungen, wobei ihm dank einiger solider Schlucke Weines auch zugebilligt werden darf, dass die Umstände sich ihm tatsächlich erst nach und nach erschließen, dass er tatsächlich den Überblick verliert über das Netzwerk seiner Notlügen. Darf Kleist vielleicht gar zum dramatischen Gottvater der kultivierten Notlüge geadelt werden? Mag nach solchen Lügen jemand trotzdem Wahrheit? Siehe oben: der Fall selbst war ernster als ernst. Eve, Braut Ruprecht Tümpels (Thomas Kaschel), ist traumatisiert.

Vor allem aber, und das soll nicht vergessen werden, wegen schwach gegründeter Liebe dieses Bräutigams. Der sich anhören muss, wie er zu denken und zu fühlen hätte haben müssen, wenn seine vorgebliche Liebe auch das Urvertrauen enthalten hätte, das Eve schlicht voraussetzt als zugehörig wie die Feder zum Vogel. Wir können es uns leicht machen: gewisse Begriffsstutzigkeit dürfen wir der ländlichen Bevölkerung der kleistischen Handlungszeit ebenso zugestehen wie ihre detailversessene Redseligkeit, die einen satten Anteil an der Komik des Lustspiels trägt. Kleist hat das Kunststück fertig gebracht, seine Längen zu Kürzen zu machen, was Big Goethe in Weimar wohl schlicht nicht kapieren konnte. Nicht das Streichen und Straffen scheint die Lösung, eher das Ausspielen bis in die Nuance, eher das Vertrauen in Spieler und Spielerinnen. Vater Veit Tümpel (Nils Liebscher) hat dabei in Coburg so wie überall den leersten Kühlschrank, diese Rolle hat olympischen Charakter: Dabei sein ist alles. Und doch versuchte er wacker, was zu versuchen war. Und das durchaus nicht erst, als er seinen Ruprecht bedrohlich am Kragen zu fassen kriegte.

Johannes Zametzer hat, darin nicht originell, originell dennoch im Nutzen bereits vorgenutzter Ideen, den beiden Mägden des Spieles, Liese und Margarethe, ein starkes Eigenleben geschenkt. Das wiederum gibt beiden Darstellerinnen, Solvejg Schomers und Alexandra Weis, die sauber servierte Gelegenheit, in Doppelrollen ihre Bandbreiten zu demonstrieren. Solvejg Schomers gibt die Liese als stark sprachgestörtes Wesen, deren Artikulation übersetzt werden muss. Alexandra Weis darf als in Karlsruhe geborene Tochter russischer Eltern mit ukrainisch-bulgarischen Wurzeln als Margarethe akzentfrei russisch sprechen und über die Bühne wirbeln, sie taucht, wenn sie vom Dienstherrn Adam gerufen wird, aus einer Luke im Boden auf und ruft im allerbesten Militärjargon „Sdjes!“ („Hier!“). Nur „Genosse Leutnant!“ fügt sie nicht an, weil ein Dorfrichter im alten Holland weder Genosse noch Leutnant war. Später verkörpert sie die Frau Brigitte und es scheint, als hätte sie nicht nur, wie zweimal herrlich gezeigt, das Mägdekleid mit Liese getauscht, sondern auch deren Agieren. Sie steht wie der standhafte Zinnsoldat mit ihrem Eimer und dem Haufen Kacke darin.

Den hebt sie mit ihrer Schaufel erst später ins Bild (auf den Bühnenboden). Der Kleidertausch, gern wiederhole ich es, ist allein mindestens ein Drittel des Eintritts wert. Schreiber Licht (Benjamin Hübner) ist in Coburg ein auf pedantisch getrimmter Bursche, der erstaunliche Vertraulichkeiten mit seinem lädierten Chef sich herausnimmt: hier soll man wohl sehen, dass Richter und Schreiber eine spezielle Symbiose eingegangen sind. Der eine macht, notgedrungen, wohl in der Haupt- und Nebensache die Arbeit des anderen, dabei stramm an die eigene Karriere denkend und deshalb geübt im Schlucken diverser Kröten. Licht arbeitet mit einem Diktaphon fürs Protokoll. Und erlebt tatsächlich, so will es Kleist, schon in der Beweisaufnahme um den Krug der Marthe Rull, wie ihn der Gerichtsrat Walter (Niklaus Scheibli) auffordert, die Verfahrensführung zu übernehmen. Er scheut gespielt bescheiden zurück, wird aber dann, im Wechselspiel mit Frau Brigitte nach der Pause, geradezu eifrig im Überführen des Dorfrichters Adam. Gerichtsrat Walter wirkte, wie die frühen Schweißperlen auf seiner Stirn schon beim ersten Auftritt anzeigten, leicht indisponiert.

Bis zum Spielzeitende sind 15 weitere Aufführungen terminiert, im Februar wird Kerstin Hänel als Marthe Rull von Eva Marianne Berger vertreten. Nimmt man den Premierenbeifall zum Maßstab, dann muss das Landestheater vor leerem Parkett für diese Inszenierung keine Furcht haben. Manch kleiner Versprecher wird verschwinden, manches Detail vielleicht noch ein wenig nachjustiert. Die Szene mit dem Limburger Käse und dem Niersteiner Wein etwa, als der Gerichtsrat und der Dorfrichter aus ihren Rollen zu fallen scheinen, hat mehr Potenz, die Hinwendung des Gerichtsrates zur vollkommen verunsicherten Eve kommt zu sehr übergangslos, dass er sein Geld einsetzen will, versteht man aus dem Spiel heraus nicht. Bei Stephan Mertl schien es bisweilen, als wolle er zu rasch über die Textperlen seiner Wortspiele und Verdrehungen, seiner gespielten Naivitäten und seiner echten Ratlosigkeiten hinweg, und belächle sich bei allem auch noch selbst. Vom Programmheft wünschte ich mir, dass auf den reinen Fotoseiten unten stehe, wen man darauf sieht. Nicht jeder Zuschauer kennt jedes Coburger Ensemble-Mitglied von Angesicht zu Angesicht.
www.landestheater-coburg.de


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