Moliere: Der Menschenfeind; Theater Rudolstadt
In Theodor Fontanes Kriminalgeschichte „Ellernklipp“ sagt ziemlich gegen Ende einer der jungen Offiziere auf dem gräflichen Schloss zu Emmerode: „Trauer kleidet immer. Und die hübscheste Braut verblasst vor einer hübschen Witwe.“ Eine hübsche Braut gibt es bei Moliere allenfalls ganz am Ende, eine hübsche Witwe von Beginn an. Da kommt sie vom Joggen und absolviert nahe an der Bühnenrampe ein wild-schnelles Seilspringen, es gibt Szenenapplaus. Das überwiegend ältere Publikum ahnt, wie schwierig das ist, was Anne Kies da vorführt, denn 30 wie in ihrer Rolle ist sie auch nicht mehr. Anne Kies ist Célimène in diesem Spiel. Der Dramaturg Johannes Frohnsdorf hat für das hauseigene Theatermagazin „Caroline“ verraten, dass es der erstmals in Rudolstadt inszenierenden Regisseurin Bettina Rehm vor allem um diese Figur ging, „für die sie nach einer interessanten Entwicklung sucht“. Wozu zu sagen wäre, dass keineswegs nur jene Stücke die guten sind, in denen Hauptfiguren am Ende anders sind als am Anfang. Entwicklungsdogmen dieser Art neigen eher zu Ideologie als zu Kunst. Für die junge Witwe Célimène würden wir allenfalls gern wissen, was für einen sie sich da angelte, von dessen Reichtum sie jetzt so gut leben kann, „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, während die Motten sie umschwirren, sich an ihr verbrennen.
„Ja, dafür kann ich nicht!“ singt Udo Lindenberg in seiner Hommage an Marlene Dietrich. Die Alpha-Motte gewissermaßen ist bei Moliere der Herr Alceste, ihn spielt in Rudolstadt Johannes Geißer mit überfallartiger Wildbewegtheit und voll tiefstem Ernst. Es ist hilfreich, eine knappe Randbemerkung einer alten Kritiker-Ikone heranzuziehen, um besser zu verstehen, was allein aus dem Moliere-Text eben kaum zu verstehen ist. Friedrich Luft sah den „Menschenfeind“ 1966 im Berliner Schlosspark-Theater (Regie Hans Schweikart), wo heute Didi Hallervorden das Zepter führt, und attestierte dem Alceste-Darsteller Erich Schellow, er spiele „immer ein bisschen jungen Schiller in diesen Moliere hinein. Er schnaubt edel. Er wird komisch durch Unabdingbarkeit und unbelehrbare Wahrhaftigkeit“. Tatsächlich: Karl Moor ist es, der uns auch in Rudolstadt schon mit seiner Tirade überraschte, sein Jahrhundert in die Schranken fordernd. Wobei es natürlich, wenn überhaupt, eher umgekehrt ist: Moor ist, für mich, einmal auf diesen Gedanken gebracht, dem fundamentalistischen Moral-Wüstling Alceste mehr als nur seelenverwandt. Aber auch in Rudolstadt wird Molieres letzter Satz im Stück ersatzlos gestrichen, Ersatz ist aber und zwar ein wirklich schöner und wirklich origineller, die stumme Szene zwischen Célimène und Basquette.
Die sieht fast ein bisschen lesbisch aus, was nichts bedeuten muss, Basquette ist bei Moliere ja auch ein Mann und heißt Basque. Hier agiert Laura Bettinger in einer fast stummen Rolle mit viel Bühnenpräsenz, in der Konzeptionsprobe ihr just so angekündigt, wie wiederum Johannes Frohnsdorf verriet. Was aber sehen wir eigentlich auf dieser Bühne in der Ersatzspielstätte: sehr viel Rosa, also Pink. Wer sich „Menschenfeind“-Kritiken in seinem eigenen oder einem fremden Archiv ansieht, stößt nicht nur auf Kritiker, die immer bei sich selbst abschreiben und solche, die das nie tun, er stößt im vorliegendem Zusammenhang vor allem darauf, dass es zwischen diesem Moliere und der Farbe Pink längst eine stabile Verbindung gibt. Nur hat Swana Gutke gleich alles und jedes in Pink getaucht: das Probenfoto in der „Caroline“ zeigt, dass zunächst selbst die Bademäntel so gefärbt waren. Jetzt aber sind sie weiß und tragen auf dem Rücken eine Aufschrift, die ich aus Reihe 12 nicht entziffern konnte. Meine Nachbarn in Reihe 13 traf es schlimmer, die hörten die Texte nicht und wenn sie sie hörten, verstanden sie sie nicht. Man tauschte sich darüber aus, dass es wohl doch gut gewesen wäre, sich vorher mit dem Stück zu befassen, aber: „Bezahlt ist bezahlt!“ Ist das, was man sieht, tatsächlich ein Fitness-Studio, ein Spa- und Fitness-Center, wie es zu lesen war?
Ein öffentliches auf alle Fälle nicht, denn es fehlt jede Laufkundschaft. Besitzerin Célimène hat vor allem für sich eine Art Ottomane mit Kissen im Lounge-Zentrum. Vorn links ist ein einsames und sehr einfaches Kraftsportgerät zu sehen mit vier Kinderhanteln. Vor links ist außerdem eine Tür, aus der es mächtig dampft, wenn sie geöffnet wird. Eine Sauna kann das nicht sein, aus solchen dampft es nicht. Ein Dampfbad könnte es sein, in solches geht man aber ohne Handtuch und, im wirklichen Leben, auch ohne Badebekleidung. Es ist also ein Raum, in dem es dampft und aus dem man kommt und sich umgehend abtrocknet, ohne sich vorher wegen des Schweißes abzuduschen. Das alles soll nur besagen: man wählt einen Spielraum nicht ohne Folgerungen für dessen Logiken. Immerhin kann man, ebenfalls noch links, über eine Leiter einen unsichtbaren Pool erreichen, aus dem man kommt und sich abtrocknet. Bettina Rehm hat dem Moliere-Stück eine kritische Sinneinheit gegen moderne Selbstoptimierung verordnet, zwei bebilderte Zitate der Slam-Poetin Julia Engelmann im schmalen Programmheft unterstützen diese Lesart, die keine ist. Es ist Zutat. Weil es sich um eine Komödie handelt, muss davon unabhängig irgendetwas komisch sein in diesem fünfaktigen Stück, dessen Aktigkeit sich erwartungsgemäß im Spiel nicht bemerken lässt.
Und schon sind wir bei einem Problem dieser Inszenierung: weder Marcus Ostberg als klagewütiger Sonett-Dichter noch die sich zum Ende hin gegenseitig Briefe vorlesenden Jochen Ganser als Acaste und Oliver Baesler als Clitandre lassen auch nur andeutungsweise jene Sau raus, nach der ihre Szenen rufen wie die Brote im Märchen von Goldmarie und Pechmarie: „Holt uns raus, holt uns raus!“ Die miniaturisierten Kleinst-Gags mit den Badehosen und ihrer Füllung sind eher Mätzchen als wirklich Späße. Das Sonett hätte aus Ostbergs Mund, der das kann, etwas werden können. Offenbar sollte er nicht. Und mit den herabsetzenden Briefsätzen aus der Feder Célimènes, was kann man da machen, wenn man sie spielen und nicht vortragen lässt. Gespielt hat Manuela Stüßer ihre Gymnastikanzug-Arsinoé, gespielt hat Jochen Brunner seine Zweitrolle Dubois, die kaum eine Episodenrolle ist. Marie Luise Stahl darf wenig mehr als jung und niedlich auszusehen, die Rolle hat freilich kaum Spielräume und fast noch härter trifft es Benjamin Petschke als Alceste-Freund Philinte, den die Vernunft umtreibt und das Weltwissen und die Menschlichkeit, das alles hat wenig komische Potenz und so steht er auch meist ein wenig herum und wie neben sich. Eine keine Gelegenheit auslassende Inszenierung sieht anders aus, freundlichen Beifall gab es dennoch.
Der Rudolstädter „Menschenfeind“ war, das soll keineswegs vergessen werden, eine Uraufführung. Denn die deutsche Fassung, die da gespielt wurde, war weder die von Arthur Luther, noch die von Ludwig Fulda, von Alfred Neumann oder Hans Weigel, es war die von Rainer Kirsch, den manche noch mit Sarah Kirsch in Verbindung bringen, weil er, als beide kurzzeitig miteinander verheiratet waren, mit ihr gemeinsam den Gedichtband „Gespräch mit dem Saurier“ veröffentlichte, später noch etliche weitere Bücher. Bei Moliere endet die Komödie mit der Forderung von Philinte: „Ihm nach, Madame, ihm nach! Es muss uns doch gelingen, / Von seinem tollen Plan den Schwärmer abzubringen.“ Angesichts des friedvollen Bildes, wie Anne Kies ihren Kopf in den Schoß von Laura Bettinger bettet, wäre jeder Rettungsversuch unpassend. Der Österreicher Friedrich Torberg wusste von Moliere: „Es ist unheimlich, wie vieles er mit wenigen Worten sagt. Und unheimlich, wie nicht nur das Gesagte stimmt, sondern alles andre dazu, in jeder Abwandlung von logisch: psychologisch, soziologisch, anthropologisch, misanthropologisch.“ Man kann den „Menschenfeind“ tatsächlich fast zwanglos als Tragikomödie des moralischen Fundamentalismus lesen. Schrieb ich 2012.
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