Gogol: Der Revisor; Bühnen der Stadt Gera
Auch das Geraer Programmheft wartet mit dem passgerechten Egon-Friedell-Zitat auf, das da lautet: „Sein „Revisor“ darf als die beste Komödie der Weltliteratur bezeichnet werden: sie enthüllt unter zermalmendem Gelächter die kläglichen Oberflächen und schauerlichen Abgründe einer ganzen Sozialsphäre, einer ganzen Epoche, einer ganzen Nation, dabei mit Hilfe eines teuflischen Mechanismus ihren Figuren eine schlotternde, gespenstische Marionettenunwirklichkeit verleihend, wie sie sich nur noch in den Lustspielen Moliéres findet, zu deren Psychologie sich aber die ihrige verhält wie eine Logarithmentafel zu einer Rechenmaschine.“ Wobei das letzte Komma in einen Punkt verwandelt ist, den Satz schöpferisch vorzeitig beendend. Aber das sei verziehen. Denn die Tatsache allein, auf Friedell zu verweisen, ist schon eine Kulturtat. Wobei der Hinweis, wo sich das Zitat finden lässt, keine Schande gewesen wäre, denn es steht nicht etwa in einer der durchaus zahlreichen Theaterkritiken des Österreichers, wie man vermuten könnte, sondern in seiner gut anderthalbtausend Seiten umfassenden „Kulturgeschichte der Neuzeit“, in der der Name Nikolai Gogol denn auch nur auf dieser einen einzigen Seite vorkommt, dafür auf ewig zitierfähig.
Ich greife einen anderen, verglichen mit Friedell, heute viel berühmteren Bewunderer der Komödie Gogols heraus: Vladimir Nabokov. Und das nicht, weil ich milde ehrfürchtig vor dem Luxus-Hotel stand in Montreux, in dem der Exil-Russe ausdauernd wohnte, sondern weil seine Vorlesung über „Der Revisor“ einfach das mit Abstand beste, schönste, aufregendste, tollste ist, was ich je zum Thema las. Wer diesen Nabokov als reine Genuss-Lektüre gelesen und dann womöglich auch noch halbwegs verstanden hat, wird mit anderen Augen auf Gogol-Inszenierungen schauen, wird, falls es selbst ein Theatermacher ist, vielleicht endlich eine wirklich neue Idee gewinnen, die „beste Komödie der Weltliteratur“ auf eine Bühne zu bringen. Manuel Kressin, es gleich zu sagen, hatte diese wirklich neue Idee nicht, aber er hatte immerhin eine solide Menge Ideen, aus „Der Revisor“ für die Theatergänger in Altenburg und Gera einen hochvergnüglichen Theaterabend zu bauen. Man merkt seiner Inszenierung etwas an, was nicht unerlässlicheVoraussetzung, oft aber eine höchst zuträgliche Sache für einen Regisseur ist: die eigene praktische Erfahrung als Schauspieler auf der Bühne. Ich sah Kressin in Gera (und einmal Altenburg) seit 2012 in sieben verschiedenen Stücken.
Und denke entschieden, dass ein Schauspieler, wenn ihn die Lippen der Muse auch nur hauchend berührt haben, sehr gut weiß, was ein Schauspieler, eine Schauspielerin an Inszenierungsvorgabe brauchen, um in die beste aller denkbaren Schauspielerlagen versetzt zu werden: Spiellaune. Das kann bis dahin gehen, dass die Spiellaune überbordet, in Gera praktiziert das, leicht grenzwertig, Ines Buchmann als Gattin des Polizeimeisters, den Thorsten Dara gibt. Wobei nicht verschwiegen werden darf, dass dies Phänomen alt ist und somit kein spezifischer Fehlgriff in Ostthüringen. „... aber manches an ihrer Komik wirkt verkrampft, forciert, aufgesetzt“, schrieb vor mehr als sechzig Jahren der Kritiker Otto Basil über Margarete Fries im Wiener Volkstheater. Es scheint Rollen zu geben, die solche Interpretationen regelrecht provozieren, man denke an den Hofmarschall von Kalb, der als spitzmündige Tunten-Karikatur landauf, landab trotz allem für programmierte Lacher sorgte und sorgt. Sonst aber, nach zwei Stunden inklusive Pause, ein prägender Gesamteindruck: Ensemble-Leistung. Basil musste seinerzeit mehr als dreieinhalb Stunden ausharren, was ihn immerhin nötigte, seine Kritik für „Neues Österreich“ mit einem ziemlich seltenen Satz zu beenden.
Dieser Satz lautet: „Die nervöse Übermüdung des Publikums entlud sich in erbitterten Garderobekämpfen.“ Darauf muss man erst einmal kommen. Ich erinnere mich einer Funk-Kritik von Friedrich Luft, da er misslaunig seine Straßenbahnfahrt in Berlin beschrieb, weil ihm Stück und Inszenierung heftig missfallen hatten, leider weiß ich nicht mehr, welches Stück ihm die natürlich nur ihm verstattete Meidbewegung aufzwang. Nabokov, von dem die Rede war, was nicht vergessen ist, drosch in seiner Vorlesung erst einmal vorsorglich auf alle ein, die „Der Revisor“ so verstanden, sahen und deuteten, wie ihn bis heute eigentlich fast alle verstanden, sahen und deuteten. „Da simple Gemüter in dem Stück unvermeidlich eine Gesellschaftssatire sehen mussten, eine wuchtige Salve auf das idyllische System staatlicher Korruption, fragt man sich, welche Hoffnungen der Autor oder sonst jemand hegen konnte, eine Aufführung des Stücks zu erleben.“ Auch Nabokov ist sich sicher, dass der „Revisor“ „das größte Stück war, das je in russischer Sprache geschrieben worden war (und das auch später nicht übertroffen wurde)“. Ihn fasziniert an der Komödie etwas, was im Text ist und dennoch mit zu viel Selbstverständlichkeit übersehen wird.
Es handelt sich um Figuren, er nennt sie Homunculi und zählt am Ende 15 von ihnen, die kurz auftauchen und wieder verschwinden, als hätte sie der Autor vergessen oder bemerkt, dass er sie eigentlich gar nicht brauche. Wobei sie oft gar nicht körperlich auftauchen, sondern nur in der Erzählung einer der handelnden Personen, im Brief beispielsweise, denn gleich zu Beginn der alarmierte Polizeimeister vorträgt. Nabokov kann sich über die scheinbar versehentlich noch vorgetragenen Passagen des Briefes, die mit der eigentlichen Information, dass ein Revisor komme, nichts zu tun haben, gar nicht genug begeistern. So auch an all den anderen vergleichbaren Stellen der Komödie. Für ihn hat, zugespitzt formuliert, diese Komödie ihren Hauptwert genau in diesen auf eigene Art überflüssigen Figuren und Passagen. In Gera endet der Vortrag des Briefes, als die Kerninformation durch ist. In Gera fehlen nicht nur die nicht auftretenden Personen, die Gogol wie Schatten entwarf, es fehlen auch scharenweise Nebenfiguren. Das ist die übliche Streichpraxis, keine besondere Instinktlosigkeit. Nur wer die Nabokov-Vorlesung kennt, empfindet größeres Bedauern, wer den kompletten Text, gleich in welcher Übersetzung kennt, vielleicht ebenfalls.
Manuel Kressin hat aus Dobtschinski und Bobtschinski eine einzige Figur gemacht, sein Vornamensvetter Struffolino spielt sie als eine auf sehr verrückte Weise gespaltene Persönlichkeit: er ist beide, körperlich aber nur einer. Das heißt: er redet mit sich selbst, er fällt sich selbst ins Wort, bisweilen nimmt er die Position des anderen ein, indem er neben sich tritt. Struffolino spielt einen leicht renitenten Bobtschinski, der dennoch die Kreatur des Polizeimeisters bleibt, dessen Befehle er allerdings auf eine unbekümmerte, von jeglichem schlechten Gewissen ungetrübte Weise nicht oder schlampig ausführt. Viel stummes Spiel, viele Momente, sich auszuzeichnen. Die Bühne von Kristopher Kempf hat einen mitspielenden Hintergrund, denn erst hängt da ein Bild, das viel nach Marc Chagall, etwas nach El Lissitzky, etwas nach Kandinsky aussieht, es gibt einen kleinen Raum frei; als es wie ein Vorhang verschwindet, später hängt an seiner Stelle das Porträt eines Mannes mit Schnurrbart, der einem gewissen Wladimir Putin überaus ähnlich ist. Mehr oder gar vordergründige Aktualisierungen vermeidet die Regie und sie tut gut daran. An den Reaktionen des wochentags leider nicht übertrieben zahlreichen Publikums ist zu merken: die Komödie ist gut verständlich.
Hinten gibt es weiterhin eine ziemlich steile Treppe für Auftritte und Abhänge, die sehr oft einer komischen Choreographie folgen, vorn rechts steht ein Billard-Tisch, an dem sich die Honoratioren eingangs und später wieder vergnügen, links gibt es eine kleine Tür. Der Schauplatz ändert sich nicht, Aristoteles zu überwinden, sah Nikolai Gogol noch nicht als Aufgabe des Bühnenautors. Den Postmeister, der die ein- und ausgehende Post öffnet aus Neugier und Vergnügen, gibt Markus Lingstädt. Den Hospitalverwalter, der wegen rascher Gesundung aller Patienten ein leeres Krankenhaus verwaltet und vorführt, Bruno Beeke (man hört nur davon, sieht es nicht auf der Bühne). Den Schulinspektor, dessen Selbstbewusstsein eben groß genug ist, es vor Kindern zu zeigen, Danijel Gavrilovic. Den Kreisrichter, der lieber auf die Jagd geht und den man mit Hunden bestechen kann, Thomas C. Zinke. Sie bilden mit dem Polizeimeister das aufgescheuchte Quintett, das sich abspricht und sich doch letztlich jederzeit in den Rücken zu fallen bereit ist. Alle vier Herren haben mehrfach Gelegenheit, aus der Gruppen- in die Einzelexistenz zu kommen, am eindrücklichsten natürlich, als sie einzeln zögerlich beim vermeintlichen Revisor vorsprechen.
Den wollen sie jeweils speziell für sich und eventuell gegen die anderen einnehmen. Sie leihen dem Herrn aus Petersburg bereitwillig, ja übereifrig, Geld, wobei allein die Idee, den Schulmann am knauserigsten (ärmsten) vorzuführen, eine feine ist: er gibt eine Münze, wo die anderen mit Scheinen gleich im Bündel aufwarten. Chlestakow (Ioachim Zarculea) wundert sich, wie leicht das geht, versteht bis zum Schluss nicht ganz, was und wie ihm geschieht. Nur wird er dabei immer sicherer und glänzt, als von seinen Taten und Erlebnissen in Petersburg berichtet, darunter die unsterbliche Stelle, als er seine Bekanntschaft mit Puschkin schildert. Gestrichen sind in Gera bis auf Mutter (Ines Buchmann) und Tochter (Nolundi Tschudi) sämtliche anderen Frauenrollen. Die Mutter sieht in Petersburg das ferne Paradies, sie ist bereit, dafür selbst einen Seitensprung mit dem falschen Revisor zu wagen. Sie bietet sich ihm an wie eine reife Frucht, überdreht, wie erwähnt, sie ist eifersüchtig auf die eigene Tochter. Die wiederum das Maß besser findet, ihre puttchenhafte Dummheit und Naivität bei gleichzeitiger, gebremster Lüsternheit vorzuführen. Der Mutter reicht die Aussicht, als glänzende Schwiegermutter eines großen Mannes die Provinz zu verlassen.
Das erste Kabinettstück des Abends liefert Johannes Emmrich als Diener Ossip, vor Zeiten spielte Hans Moser als Ossip alle anderen buchstäblich an die Wand, die Rolle tendiert für sich in solche Richtung. Wenn Emmrich vom Hunger gewürgt wird und Bettfedern verspeist, haut er den Spielball gewissermaßen auf die Seite seines Herrn Chlestakow, der später den knurrenden Magen ebenso sprechen lässt wie den überfüllten Magen. Otto Basil wusste, der „Revisor“ sei „eine satirische Komödie mit Trauerrand: eigentlich eine Tragikomödie, trotz schwankhaften Situationen.“ Und weil man es nicht besser formulieren kann, zitiere ich Nabokov: „Das Stück beginnt mit einem blendenden Blitz und endet mit einem Donnerschlag – alles spielt sich in der spannungsvollen Pause zwischen Strahl und Knall ab. Es gibt keine sogenannte Exposition. Blitze vergeuden keine Zeit mit der Erklärung von Wetterverhältnissen.“ Und weil er es wissen muss, benenne ich ihn auch als Zeugen mit seiner Behauptung, Chlestakows Prahlerei vor den Damen geschehe „in der berühmtesten russischen Bühnenszene“. Noch ein Superlativ also. Der Verlockung, weitere schillernde fremde Federn an meinen nicht vorhandenen Hut zu stecken, sage ich hiermit gern ab.
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