Moliére: Der eingebildet Kranke; Bühnen der Stadt Gera

Tatsächlich: es fehlt ein e. Man liest drüber hin, weil es seit Urzeiten in Deutschland eben „Der eingebildete Kranke“ heißt, das letzte Werk Moliéres, das dem Meister den Tod auf der Bühne beschwerte, den manche so toll finden, weil sie selbst nicht auf der Bühne stehen, aber glauben, der echte Vollblut-Mime könne sich nichts Schöneres vorstellen. Und kaum bemerkt man es, schon bemerkt man auch, dass der Neu-Übersetzer Wolfgang Kressin, der vermutlich verwandtschaftliche Beziehungen zu Regisseur Manuel Kressin vorweisen kann, einen kleinen, aber feinen Coup gelandet hat: niemand würde mit der Bezeichnung „Die eingebildete Kuh“ meinen, es handle sich um eine Person, die sich einbildet, eine Kuh zu sein, sondern eben um eine arrogante Ziege weiblichen Geschlechts (Verzeihung, wir befinden uns jedoch im Umfeld des Chargierens, also des Übertreibens, diesenfalls zwar nicht im Spiel, wohl aber im spielerischen Umschreiben). „Der eingebildet Kranke“ ist zweifelsfrei einer, der nicht wirklich krank ist, es sich aber vorstellt, imaginiert, eben einbildet, respektive suggeriert, einredet (war für jeden etwas dabei??) Das hat die Folge fürs Spiel, dass die Exposition des Charakters eigentlich (der Jargon der Eigentlichkeit) ins Überflüssige tendiert. Das, so schien mir an diesem bei 70 Prozent Regenwahrscheinlichkeit doch konstant trockenen 90-Minuten-Abend (ohne Pause) in Gera zunächst das Inszenierungsproblem.

Lag vielleicht nur daran, dass ich noch kurz zuvor eine Kritik von Friedrich Torberg las, einer Inszenierung des berühmten Regisseurs Leonhard Steckel am Wiener Theater in der Josefstadt gewidmet: „Noch selten wurde eine Aufführung schon in den ersten Minuten ähnlich umfassend charakterisiert, wie es hier dank der meisterhaften Exposition Moliéres der Fall war. Man weiß sofort alles. Man weiß, dass Herr Argan auf sein Geld nicht minder Wert legt als auf seine Gesundheit; man weiß, dass er ein Hypochonder, ein Geizhals, ein Misanthrop und, kurzum, von Moliére ist; es kann losgehen.“ In Gera weiß man erst einmal nichts. Denn die meisterhafte Exposition Moliéres ist schlicht gestrichen. Wobei, für alle zum Mitschreiben, das Streichen an sich und als solches natürlich nicht nur legitim ist, sondern ziemlich vielen gar als eine Art Nachweis von Kompetenz gilt. Was gestrichen wird mit welchen Folgen, das ist entscheidend. Wenn also in Gera am Personal Moliéres gestrichen ist, dann muss man schauen, was dabei herauskommt, oder, wie man heute modisch sagen sollte: was das mit dem Stück macht. Es fehlen: die kleine Schwester der Tochter Argans, des Kranken, Dr. Purgon, der Arzt des Kranken, Herr Fleurant, der Apotheker, Herr Bonnefoi, der Notar, mit dem die Gattin Béline das Testament des Kranken auskungelt, der Bruder Beroald (der alten Übersetzung) hat sich in eine Schwester Béraldine verwandelt.

Noch eine andere, inzwischen auch schon 55 Jahre alte Kritik liefert mir einen Anknüpfungspunkt zu Manuel Kressins Arbeit in Gera. Kritiker-Legende Joachim Kaiser schrieb 1964 über Regie-Legende Fritz Kortners „Der eingebildete Kranke“ dies: „Doch während der ersten beiden Szenen, in denen die Einfälle sich jagten, war wieder ganz offenkundig, dass Kortner der gescheiteste Regisseur des deutschen Theaters ist. Wie er seine Schauspieler nebeneinander herlaufen lassen kann (wenn das Dienstmädchen trotzig unbeirrbar mault und der Argan schimpft, so dass sogar das Schweigen zum letzten Wort wird): klügeres, geistvolleres, unabgenützteres Lustspiel gibt es nicht. In dieser ersten halben Stunde habe ich mehr gelacht als in einem Dutzend konventioneller Komödienaufführungen.“ Mir ging es umgekehrt: Ich habe bei den ersten Geraer Szenen nicht ein einziges Mal gelacht, vor sieben Jahren in Erfurt waren da schon beide Schlüsselbeine feucht. Das Problem dieser Konstellation: der große Fritz Kortner verballerte (fast) all seine Ideen am Beginn, mit der von Joachim Kaiser so formulierten Folge: „Die Inszenierung begann hinreißend hoch, dann fingen die Wiederholungen an, dann blieben die Typen arm, dann lachte man weniger, dann kam eine Angsttraumpantomime, dann flaute alles ab bis zur bitteren Enttäuschung. Möglicherweise hätte die gleiche Inszenierung mehr Effekt gehabt, wenn der Anfang schwächer gewesen wäre“.

Klare Diagnose dazu: In Gera begann die Inszenierung schwächer (nicht nur weder der fehlenden Exposition), kam dann aber mit dem Auftritt der Herren Diafoirus derart in Schwung, dass dieser bis zum hübschen Finale zu halten vermochte, was er nun vorgab. Ich bekenne, einer einfachen küchenphilosophischen Weisheit anzuhängen: je dichter eine Folge von Höhepunkten ist, um so mehr gleicht sie einer Ebene, eben die aber tendieren zur Ausdünstung von Langeweile. Ein schöner dramaturgischer Bogen ist, tut mit leid, das nicht dekonstruktivistisch ausdrücken zu können, ein schöner dramaturgischer Bogen. Muss ja nicht auch noch was retardieren, kann notfalls auch in schräger Linie aufwärts gehen: Höhepunkt hinten oben, sexartig. Nicht umsonst gab es in Gera (Premiere war am 8. Juni) diesbezügliche Anspielungen zuhauf und in Serie, mir fällt da eben ein Fernsehtitel des alten Westens ein: „Obszönitäten als Gesellschaftskritik“, Ludwig Marcuse hat ein dickes Buch vollgeschrieben: „Obszön. Geschichte einer Entrüstung“. Heutzutage ziehen die Miminnen auf der Bühne einen rosa Gummi-Pimmel aus dem Pistolenhalfter und halten ihn dem am Boden liegenden Jung-Diafoirus an die Halsschlagader, bis der Sieg unblutig errungen ist und der weibliche Teil des Publikums hört überhaupt nicht mehr auf, exzessiv zu kichern. Entrüstung war gestern, heute heißt es nur: Eindeutigkeit ist die neue Zweideutigkeit: Ficken heißt Ficken.

Regisseur Manuel Kressin fokussiert seine Inszenierung stark auf die Geschichte der Tochter des eingebildet Kranken: diese Angélique (Alexandra Sagurna) bibbert, zappelt, hechelt vor überdrehter Geilheit, weil sie den Cléante (Johannes Emmrich) will, mit dem sie es schon tat, weshalb sie, er tat es also gut, eben bibbert, zappelt, hechelt. Sie darf sogar einen Blow Job andeuten, als es die Gelegenheit dazu gibt. Sie hofft darauf, klassische Komödie das, den geilen Kerl zum Gatten zu bekommen, während ihr Vater Argan (Thomas C. Zinke), mit einer zweiten Frau Béline (Nolundi Tschudi) strafweise belohnt, aus sehr eigennützigen Gründen lieber möchte, dass sie den Sohn (Sebastian Schlicht) des Arztes Diafoirus (Manuel Struffolino) nimmt. Der aber ein unfassbares Geschöpf ist: Struffolino führt Schlicht ins Spiel wie einen Doktor Hannibal Lecter an der Kette: in Zwangsjacke mit Gesichtsmaske gegen Bissigkeit. Seit 350 Jahren ist der Auftritt des Vater-Sohn-Paares als Werber um die Hand der Tochter des Kranken eine Traumszene und auch hier in Gera reißen die beiden Herren die eben noch ein wenig dümpelnde Inszenierung hoch wie ein müdes Ross, dass plötzlich zum Sprungpferd werden kann, das die höchsten Hürden fliegend überquert. Die Lawine muss nun nur noch aufwärts rollen. Jetzt kann man jeden Moment im Auge behalten, jede Geste, jede Mimik, das Sommertheater hat, was des Sommertheaters ist. Mehr muss nicht.

Früher hatten feuilletonistische Feingeister oft die Furcht, diese und andere Moliére-Komödien könnten so genannten anspruchsvolleren Geistern zu derb, zu drastisch daherkommen, in Richtung Posse gehen, Schwank, Farce, Groteske, als wären die von vornherein nur für die Doofen. Nein, schon Fontane – nun haben wir ihn mitten im Fontane-Jahr wieder – überlegte nachlesbar 1874, ob nicht genau so falsch gedacht würde. „Es tritt in diesem malade imaginaire keine einzige Figur auf, die nicht einen possenhaften Beisatz hätte; sämmtliche Partien sind chargierte Rollen“, schrieb er. Und fragte recht vorsichtig an, „ob wir mit unserer steten Forderung „im Lustspiel das Possenhafte zu vermeiden und das Leben in seiner Wahrheit auf uns wirken zu lassen“, denn so ganz auf dem rechten Wege sind.“ Nur am Rand will ich erwähnen, dass Fontane mit seiner folgenden gerade in diesem Moliére-Zusammenhang geäußerten Ansicht seiner Zeit weit voraus war: „Man soll nicht alles mit einer Elle messen; aber jedes einzelne Kunstwerk soll das Maß ertragen können, nach dem es, seinem eigenen Gesammtcharakter nach, gemessen sein will.“ Die Zeiten, als tapfer und blind alles mit einer Elle, der des Klassenkampfes nämlich, gemessen wurde, was auf Bühnen kam, liegen so weit noch nicht zurück. In Zwickau saß 1927 einer in „Der eingebildete Kranke“, der auf die Tendenz wartete, war ihm doch Moliére ein Kämpfer gegen die herrschende Klasse: Walther Victor.

Die Zeitlosigkeit der Komödien Moliéres kommt ja nicht aus ihrer Rolle in der Geschichte der Klassenkämpfe Frankreichs unter Ludwig XIV., Sonnenkönig genannt. Es sind Charakterkomödien und oder Typenkomödien, denen man nie ein aktuelles Kostümchen überstülpen muss: sie wirken. Und sie bewirken das, was Komödien von Hause zu bewirken haben: Lachen. In Deutschland, wo Mediziner bis heute „Götter in Weiß“, wo Endlos-Serien über Ärzte beliebtester Fernsehstoff sind, erzeugen die gesprochenen Leitartikel über Ärzte, Medizin und Apotheker, die Ines Buchmann als Argans Schwester Béraldine vorzutragen hat, und sie tut es sogar direkt ins Publikum, eben gerade keine Lacher: wir glauben sogar den Ganoven, die uns Vitamin-Therapie gegen Krebs aufschwatzen und fressen die schweineteuren wirkungsfreien Pillen, als wäre es Viagra ohne Nebenwirkungen. Dass Molíére sehr eigene Arzt- und Medizin-Erfahrungen hatte, das vermutliche Medizin-Opfer in Gestalt seines Königs vor Augen, muss man nicht wissen, es schadet aber auch nicht, wenn man es weiß. Am Ende wird Argan selbst Arzt, der Gedanke allein bringt seine Augen zum Leuchten: und es ist eine der Leistungen von Thomas C. Zinke in dieser Rolle, seine Augen ins Spiel gebracht zu haben. Das mit dem Leitartikel stammt übrigens von Walther Victor, der, ich betone es gern und wiederholt, dachte er nicht gerade an Klassenkampf, durchaus ein sehr beachtenswerter Kopf war.

Bei Moliére ist „Der eingebildet Kranke“ ein Stück mit Ballett: Spurenelemente davon bewahrt Gera wie seinerzeit Erfurt zu Beginn und am Ende: das sieht gut aus und ist lustig, mehr würde das Budget sprengen. Diese Kritik wäre ohne Ballett, gedächte sie nicht abschließend noch Mechthild Scrobanita's, denn die spielt die Toinette. Das ist die Rolle, die der Verfasser auf Augenhöhe seines Kranken hob, wohl wissend, dass Gegenspieler, die nicht annähernd gleichwertig sind, die Dramaturgie eines Dramas töten. Hier in Gera wird die Augenhöhe selbst zum Spielgegenstand, denn Mechthild Scrobanita mangelt es deutlich an Höhe (nicht Größe), während es Thomas C. Zinke deutlich an Kleinheit mangelt, um zu sagen: Schau mir in die Augen, Kleines. Die beiden beginnen nach dem Auftrittstanz aller und da zündet der Funke noch nicht, siehe oben. Dann aber wächst die Kleine zur Großen (Kalauer-Gott, bitte um Nachsicht) und als sie um den Klistier- und Kackwagen wieselt in wechselnder Rolle, ist sie auf ihrer Abend-Höhe. Wir scheiden mit Applaus aus der Saison 2018/19: wir sahen getrunkene Urin- und Sperma-Proben, verspeiste Stuhl-Probe, an der Wand des kleinen Hauses klebende Bühnen-Scheiße, die am Anfang sogar noch dampfen durfte, wir sahen viele, viele hübsche Kleinigkeiten. „Ein italienisches Volkstheater-Element guckt aus jeder Scene, aus jeder Rolle hervor“. Sagt Fontane als Quasi-Schlusswort. Und das ist gut so.
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