Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder; Staatsschauspiel Dresden

Natürlich ist eine Premierenkritik drei Wochen nach der Premiere keine mehr. Was aber, wenn, während der Kritiker in Reihe 13, Platz 10, im Parkett sitzt, auf seinem Handy im Hotel zeitgleich nicht weniger als sechs Anrufe eingehen, den Tod seiner Mutter im Krankenhaus knapp 300 Kilometer entfernt vermeldend? Eilt der Kritiker, eben noch begeistert von Ursula Werner als ganz unerwarteter Mutter Courage und auch sonst an der Inszenierung von Armin Petras alles andere als verzweifelnd, in heroischer Berufsauffassung an seine Tastatur, sein Wohlwollen in Worte zu fassen zum ersten Theaterabend der neuen Spielzeit, den er erlebte? Nein, nein, das geht gar nicht. Denn er muss zurückrufen im Krankenhaus, den Arzt sprechen, er muss das Bestattungsinstitut seines Vertrauens beauftragen von Dresden aus, er muss am kommenden Morgen die Sachen abholen, die da blieben, den Trost der Schwester entgegennehmen, tagelang eine endlose Reihe von Telefonaten absolvieren. Über allem rückt „Mutter Courage und ihre Kinder“ in den Hintergrund, den bisher drei Besprechungen in THEATERGÄNGE will keine vierte folgen, obwohl der Vergleich durchaus reizvoll ist von Beginn an: nach dem Theater Die Baustelle Köln, nach Meiningen und Gera nun Dresden am Tag, da die restaurierten Festgemächer Augusts der Öffentlichkeit zugänglich werden.

Es wäre über einen Planwagen zu reden, der im Berliner Ensemble so lange wieder und wieder über die Bühne gezogen wurde, erst von Helene Weigel, dann von Gisela May. Ist so ein Planwagen in der Spielfassung des Meisters höchstpersönlich etwas wie das Georgskreuz, ohne dass kein Georg ins Bild gesetzt werden kann? Wie eine Veronika ohne Schweißtuch? Die Frage ist rhetorisch, denn es darf vorausgesetzt werden, dass jede Regie nach Brecht sich die Eingangsfrage vorlegt: Wie bringe ich das ohne Planwagen auf die Bühne? Der eine so, der andere so, heißt die Antwort, der Genderhinweis dazu müsste lauten: die andere ist leider nicht ausdrücklich vermerkt, aber natürlich mitgemeint. Womit der Kritiker sich flugs in die Reihe der hoffnungslosen Fälle gestellt hätte, es ist nicht die schlechteste aller Reihen. Wir sehen eine Koproduktion mit dem Ungarischen Theater in Cluj. Das liegt, nicht jeder hat einen Bachelor in osteuropäischer Städtegeographie erworben, der in Dresden ins Theater geht, in Rumänien, hieß ganz früher einmal Klausenburg auf deutsch, auf ungarisch Kolozsvár, dann einfach Cluj, heute Cluj-Napoca. Und Maria Tomoiagă spielt die stumme Kattrin in Dresden wie in Cluj. In der Pause stand ich neben drei Männern, die die Frage erörterten, warum denn die Musik von Kurt Weill unbedingt auf modern getrimmt werden müsse.

Das sind die Fragen, die man an Paul Dessau richten sollte, die Erkenntnis aber lautet: auch hier, wo das Weltkulturerbe mit und ohne Anerkennung keiner Hinweisschilder bedarf, gehen Menschen ins Staatsschauspiel, die bei der Erfindung des Pulvers nicht in den ersten dreizehn Reihen standen und dann auch noch mit dem Rücken zur Erfindung. Von Ursula Werner zu schreiben, sie sei die Entdeckung des Abends gewesen, wäre glatt daneben. Ursula Werner war Charly in der legendären Hallenser Inszenierung von Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ Sie war Dr. Angelika Unglaube in „Ein irrer Duft von frischem Heu“ und sie war, natürlich und sensationell, in Andreas Dresens „Wolke 9“ die Inge. Nun singt sie in „Mutter Courage und ihre Kinder“, als wäre das Brecht-Singen ihr Kerngeschäft. Und spielen tut sie natürlich auch. Zu jeder anderen Inszenierung mit ihr in dieser Rolle hätte ich geschrieben: Allein ihretwegen sollte man hingehen. Hier in Dresden aber in der Regie von Armin Petras ist noch jemand für einen solchen Satz: Es ist Nadja Stübiger in der Rolle der Yvette Pottier. Der geneigte Premierenbesucher erfuhr, ehe es losging, Stübiger habe sich heftig verletzt am Fuß, spiele aber dennoch, unter starken Schmerzen und mit Hilfsmitteln. Das wäre an sich schon sehr beachtlich, heroisch, professionell über alle Maßen.

Hier aber geschieht etwas, was auch künstlerisch grandios ist, für meinen bescheidenen Theatersinn jedenfalls. Nadja Stübiger verwandelt ihr Handicap in Spiel, alles was sie an Bewegung auf der Bühne zeigt, sieht aus, es wäre das genau so gewollt, selbst wo sie rutscht, rutscht sie, als ginge das gar nicht anders. Nadja Stübiger legt eine Yvette Pottier hin, deren Präsenz vermutlich ungewollt andere Rollen buchstäblich an die Wand spielt. Ich war mir bis zum Ende nicht sicher und bin es jetzt noch nicht, ob die vergleichsweise Blässe der stummen Kattrin daher rührt oder doch so gewollt war von Regie und Darstellerin. Denn man kann gerade wegen der Stummheit aus dieser Rolle sehr, sehr viel mehr machen. Es ist ja, als ob das Spiel ohne Worte zur Rolle wurde nach dem Willen Brechts und noch immer zeigt sich, gern wiederhole ich das, hier oft mehr als in Dialog und Interaktion, was eine oder einer kann. Eine für heutige Aufführungen opulente Menge an Statisten und Statistinnen dürfen agieren, ihre Auftritte sind gut choreographiert, synchronisiert, sie haben bisweilen Chorisches aus antiken Theatertagen. Die Musiker gehören zum Spiel: Michael Fuchs, Berthold Brauer, Lars Kutschke und Florian Lauer, neben den Bearbeitungen der Paul-Dessau-Songs gibt es zusätzliche Einspielungen, weniger wäre mir mehr gewesen, störte aber nicht.

Braucht es Aktualisierungen, die Aktualität eben dieses Brecht-Stückes in begriffsstutzige Hirne zu drängen? Natürlich nicht, denn die Begriffsstutzigen gehen nicht ins Theater, schon gar nicht, um dort eine Meinung zu korrigieren, die sich hatten, ehe sie gingen. Aktualisierungen der platten Art, wie sie als Implantate ohne Zusatzversicherung allerorten in Texte gepflanzt werden, sind das, was landläufig „ein Zeichen setzen“ genannt wird. Man setzt Zeichen, um sich selbst zu inszenieren, man könnte die Phantasie für ein fotogenes, ein kamerataugliches Zeichen gut auf wichtige Dinge verwenden. Im Theater ist die Verführung besonders groß, mit Schrift, mit Einspiel, mit anachronistischen Kostümen Aktualität zu simulieren, die entweder im Text ist oder eben nicht und auch dann sortiert sich der Text nicht von selbst aus. Wenn im Dreißigjährigen Krieg Nutznießer des Krieges leben, deren Beruf Marketenderin ist, dann leben in jedem anderen Krieg auch Nutznießer keinesfalls nur männlichen Geschlechts, weil sie etwas verkaufen, was sie sonst nicht verkaufen könnten, weil spezialisiert sind. Ein Handwerker, der Zaumzeug für Kavallerie, für Armeepferde herstellt, ist an der Existenz von berittenen Truppen interessiert, weil er eben nicht auf Motorenöl umschulen kann. Das aber muss einem von der Bühne herab niemand sagen, das versteht sich.

Mutter Courage bei Brecht ist als Mutter und als kleingewerbliche Kriegsgewinnlerin an Frieden nicht tatsächlich interessiert, allenfalls als Atempause. Sie verliert, es ist bekannt, ihre Kinder, die sie schützen und retten will, alle. Eilif (Yassin Trabelsi) verliert sein Leben, weil er als Söldner den Moment verpasste, wo aus einer mutigen Kriegstat ein Verbrechen an der Zivilbevölkerung wurde. Schweizerkas (David Kosel) wird Opfer seiner Treue, weil er mit der ihm anvertrauten Kriegskasse seines Regiments mit schöner Regelmäßigkeit stets genau das tut, was er zu jedem anderen Moment, nicht aber in diesem hätte tun sollen, vereinfacht gesagt. Und die stumme Kattrin, dieses Wesen mit einfachen Lebensträumen, das rote Schuhe herrlich findet und begehrenswert, es wird buchstäblich und im übertragenen Sinne missbraucht. Das Programmheft weist weniger Rollen aus, als man tatsächlich erlebt. Das Magdeburger Paar etwa, wer war das? Matthias Reichwald als Koch aus dem Niederländischen, Philipp Lux als Feldprediger buhlen auch in Dresden um die Gunst der Mutter Courage. Ursula Werner blüht auf, als sie sich ein Leben in Utrecht vorstellt, bricht sichtbar zusammen, als sie hört, dass die stumme Kattrin aber auf keinen Fall mitkommen soll. So wird sie ihr Geschäft fortführen. Die Trostrede für die geschändete Tochter: ein Momentum des Abends.

„Ich seh mich schon durch die Hölle fahren und Pech verkaufen!“ sagt die Courage, man weiß, dass sie weiß. Sie ist eine Wissende. So seltsam das klingt. Das Lied vom kommenden Frühling, dreimal gesungen, singt nicht von Hoffnung, das scheint nur so. Es singt von ewiger Bedrohung, die mit der Hoffnung einen Vertrag über friedliche Koexistenz geschlossen hat, wie man zu Brechts Lebzeiten vielleicht gesagt hätte. Der Handel der Mutter Courage erscheint auf der Bühne von Olaf Altmann zwangsweise eher angedeutet als vorgeführt: es gibt Kleiderhaufen, Mäntel, Schuhe. Vor allem die Statistengruppe hat hier zu tun und zu lassen, viel Gewühl. Im Programmheft findet sich auch jener berühmte Brechttext von 1953 mit dem Titel „Die Courage lernt nichts“. In dieser Hinsicht sind wir alle Courage. Der kürzlich verstorbene Günter Kunert hat, als er noch sehr direkt unter Brecht-Einfluss stand, sein bis heute am häufigsten nachgedrucktes Gedicht geschrieben: „Über einige Davongekommene“. Die Pointe: „Nie wieder. Jedenfalls nicht gleich.“ Kürzer und prägnanter hat es auch der Meister selbst nie formuliert. Strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Dreißigjährigem Krieg und den gegenwärtigen Kriegen im Vorderen Orient thematisiert im Programm Herfried Münkler, Allzeit- und Überallexperte, der seinen einschlägigen Vorgänger, den zu früh verstorbenen Ulrich Beck, mittlerweile fast vollständig ersetzt. Man kann das als Sättigungsbeilage lesen.
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