Schiller: Kabale und Liebe, Theater Plauen-Zwickau
Kein Stück sah ich in den zurückliegenden drei Jahren öfter als dieses von Schiller. Ich glaube der Statistik des deutschen Bühnenvereins unbesehen, wenn sie von mehr als vierzig Inszenierungen allein in einem Kalenderjahr berichtet. Ich war in Weimar, Meiningen und Rudolstadt, zweimal in Berlin, einmal kam Düsseldorf zu mir ins Haus über den Kanal ARTE, hinzu gesellten sich zwei Verfilmungen, von 1959: Regie Martin Hellberg, von 2005: Regie Leander Haußmann. Normalerweise kann man nach solcher Dosis die Dialoge mitsprechen, im Theater gibt es aber kein normalerweise.
Denn dort walten Regisseure mit Eigenehrgeiz, Männer oder Frauen, die unbedingt alles ganz anders machen wollen als alle anderen, oder die alles wieder einmal so machen wollen, wie es einst schon einmal dieser oder jene zu Unrecht vergessen gemacht haben. Hier im Osten kommt hinzu: Wie DDR soll es auf gar keinen Fall aussehen. Das hat bei „Kabale und Liebe“ eine fast schon konstante Konsequenz: Kammerdiener und Kammerdiener-Szene werden gestrichen, man kann, so habe ich mir für den Bedarfsfall einmal notiert, den Kammerdiener als Wende-Opfer betrachten. Damit verbunden ist immer ein echter Verlust, denn die historisch-soziale Ebene des Stücks hängt kräftig an dieser Szene. Und wer das großzügig übersehen möchte, weil es zu sehr nach Aufklärung schnüffelt, wird dennoch damit konfrontiert, dass das Tun der Lady Milford einfach nicht hinreichend motiviert ist, wenn dieser Kammerdiener gestrichen wurde.
Die Liebe von Ferdinand und Luise ist empfindsam, ist emphatisch und sie ist keusch. Das ist eine Mischung, die erst einmal auf die Bühne will. In Jeans und T-Shirt spielt sich das bei Licht besehen eigentlich gar nicht. Denn in diesem Outfit agiert heute die bereits einschlägig zum Sachbuch verwurstete „Generation Porno“ und die denkt, wenn Ferdinand den Stadtmusikus Miller fragt, weshalb er eigentlich zu ihm kam, bei Flötenspiel nicht an ein Holzblasinstrument. Für Schiller und die Zeit, die in Deutschland vorzugsweise Sturm und Drang genannt wird, obwohl sie viel eher das von Richardson und Compagnon eingeleitete Zeitalter der Empfindsamkeit war, spielte, so kurios es heute vielleicht scheinen mag, die gehobene Gefühligkeit doch eine entschieden größere Rolle als der Griff in die Blusen seiner Bühnenfrauen. Die ohnehin Mieder gewesen wären.
Für die aktuellen Theaterferien aufgehoben habe ich mir eine DVD mit der Aufzeichnung einer Aufführung vom 17. Januar 2009 in Plauen, Premiere hatte diese Inszenierung von Stefan Wolfram am 11. Oktober 2008. Der offensichtlich in seiner Faktenrecherche irritierte Kritiker der „Freien Presse“ schrieb seinerzeit, bei der Uraufführung zu Schillers Lebzeiten wären die Zuschauer reihenweise in Ohnmacht gefallen. Tatsächlich überliefert ist eine ähnliche, die meistzitierte, weil einzige, Aussage zur Mannheimer Premiere von „Die Räuber“, von „Kabale und Liebe“ gibt es dergleichen nicht. In Plauen sehen wir eine weitgehend kahle Bühne in den Farben der Trikolore. Wobei das Blau der Wände (Himmel mit weißen Wölkchen) und das Rot des nach der Seite ansteigenden Bühnenbodens dominieren. Unten liegt etwas wie Kies.
Requisiten sind kaum im Spiel, ein Degen liegt von Beginn an im roten Kies, später hat der Major den Brief Luises in der Hand, der vorher gar nicht auf Papier geschrieben wurde, sondern teilweise, nur teilweise, an die blaue Hinterwand. Für die Limonade am Ende gibt es ein Glas, Flüssigkeit und auch ein Pülverchen als Gift. Die Kostüme sind heutig alltäglich, also Anzüge, Hemden, Blusen, Krawatten, Shirts, Jeans, Turnschuhe. Vielfach erprobt auch in allen Inszenierungen, die ich sah, ist inzwischen der Einsatz von Musik. In Plauen übernehmen Darsteller selbst die Instrumente, wobei der dafür näher liegende Musikus Miller keines bedient. Dafür singt die Luise (Susan Ihlenfeld) mit kräftiger Stimme zum Akkordeon, Sekretarius Wurm (Martin Ennulat) mit Karo-Pollunder über Rollkragen spielt Geige. Und auch englische Verse werden melodisch vorgetragen, denn Lady Milford ist bekanntlich von der Insel über Hamburg an den Hof des Stückes gekommen.
Netto-Spielzeit ist in Plauen nicht viel mehr als neunzig Minuten. Das geht nicht ohne radikale Kürzungen. Ich sah schon doppelt lange Aufführungen und es fehlte immer noch Text, den ich vermisste. Aber ich gehöre halt zu denen, die Schiller kennen, also zu einer vernachlässigbaren Minderheit. Verstümmeln Opern-Regisseure die Musik von Mozart und Verdi eigentlich auch permanent bis zur Fast-Unkenntlichkeit? Oder gilt in Opernhäusern der Zeitfaktor nicht, der angeblich in Schauspielhäusern alles diktiert? „Kabale und Liebe“, das nehme ich nach jeder Aufführung, die ich sehe, bestärkt mit, ist letztlich nicht kaputt zu spielen. Freilich, ich bin ehrlich, gehe ich nicht ins Theater, um mir eine Brecht-Lehre aus der Tiefkühltruhe der Theaterphilosophien anzutun, die darauf hinausläuft, mir soll die Illusion genommen werden. Ich habe keine Illusion. So wenig wie schon ganz normale ungebildete Theaterbesucher lange vor Goethes oder Schillers Zeiten. Die sahen neben den spielenden wartende Darsteller vor dem Vorhang und ahnten wohl nicht nur, dass da oben kein echtes Leben abläuft. Sie wussten es.
In diesen Rücksichten scheint mir die Inszenierung in Plauen akzeptabel. Denn sie versucht nicht, mir im Stile von Gebärdendolmetschern klarzumachen, was der Text Schillers sagt. Es ist eines der Hauptübel heutigen Inszenierens, dass diese hyperschlauen Regisseure immer meinen, ihre Zuschauer seien zu dämlich, Text zu verstehen, sie müssten noch die albernste Offensichtlichkeit visualisiert bekommen. Dennoch pflanzen sich auch Regieeinfälle offenbar fort wie Wellen um einen einmal ins Wasser geworfenen Stein. Liebe verbildlicht sich auch hier wieder durch wildes Rennen, Rollen am Boden und atemloses Hecheln. Bei Ferdinand bleibt das Hemd aufgerissen bis zum Schluss, nachdem es ihm Lady Milford (Sabine Rittel) in diesen Zustand gebracht hat.
Nacktszenen hat die Einspielung nicht, dafür greift der Sekretarius Wurm nach erfolgtem Briefdiktat der fassungslosen und deshalb schreckstarren Luise erst an die Brust und fährt ihr dann hinterm Hosenbund in den Schritt. Die bekannte Morddrohung, die Luise bei Schiller gegen ihn ausstößt, ist der Strichfassung zum Opfer gefallen. Auch die Erregung des Hofmarschalls von Kalb, wenn der Name von Bock fällt, erschließt sich nur dem Kenner des kompletten Schiller-Textes. Wohltuend, dass Regisseur Stefan Wolfram den Herrn von Kalb nicht wie etliche seiner Kollegen als komische Tunte auf der Bühne agieren lässt. Freilich kostet ihn das die sonst üblichen Lacher. Von Kalb (Jörg Metzner) erscheint ganz in Schwarz. Komisch ist er nie.
Zu jung wirkte mir entschieden der Präsident von Walter (Jörg Simmat). Ihm mag ich den Vater dieses Sohnes Ferdinand, sich selbst mit über 50 zu alt wähnend für Lady Milford, nicht abnehmen. Mutter Millerin (Tamara Korber) wirkte ausgleichend ein wenig zu alt neben der 16 Jahre jung sein sollenden Luise. Sie setzte den Attacken des Musikus zu Beginn spielerisch zu wenig entgegen, was dem vermutlichen Willen der Regie entsprach, auf keinen Fall Klamauk vorzuführen. Denn die deftigen Sätze des Miller zum Auftakt verführen einfach zu rasch zu Slapstick. Michael Schramm als Miller war vor allem anfangs sehr starr. Als dann die zuerst nur singende Luise in seine Arme lief, löste sich seine Mimik.
Straffungsopfer ist mir schmerzlich auch die Szene zwischen Luise und der Lady. In Plauen geht es zur Sache, als hätte draußen schon die letzte Bahn für die Darsteller zum Hotel gepfiffen. Vor dem Einsetzen des Textes der Begegnung fahren sich Luise und Lady Milford auf der noch abgedunkelten Bühne in die Haare wie klassische Furien, danach ist der Dialog straff auf die Konfrontation, weniger auf die bei Schiller sehr starken Zwischentöne, fokussiert. Das schränkt die Spielmöglichkeiten der beiden für dieses Tempo zu guten Darstellerinnen über Gebühr ein.
Nach den neunzig Minuten bleibt mir das Gefühl, hier wäre allzu zügig auf das Finale zugesteuert worden, auch wenn Ferdinand es doch noch schafft, den eigenen Vater wie den Sekretär Wurm mehrfach von der toten Luise wegzustoßen. Mit der Drohung des Wurm gegen den Präsidenten lässt die Inszenierung das Stück enden, es gibt die Versöhnung zwischen Sohn und Vater nicht, die Schiller ersonnen hatte. Das ist Verzicht auf ein Essential des frühen Schiller, ein zugegeben wenig beliebtes bei seinen Deutern und Liebhabern verschiedener Zeiten. Das ungleiche Liebespaar stirbt klassisch, wobei Ferdinand sich zwar schuldig fühlen darf, aber nicht wirklich verstanden hat, was geschehen ist.
Dass Luise als Frau, als sehr junge sogar, viel realistischer ist als der überdrehte, vermeintlich lebenserfahrenere Major, ahnt man in Plauen nur, weil Susan Ihlenfeld es ahnen lässt. Dass überdrehte Männer folglich dazu neigen, nicht nur sich selbst zugrunde zu richten, weil blinde Liebe mit blinder Eifersucht die Blindheit gemein hat, das zeigt Klaas Malorny als Ferdinand eher nicht. Weil die Strichfassung offenbar vor allem dort ansetzte, wo Schiller Heutigen allzu rasch als Zitaten-Schiller erscheint und damit als der, von dem man sich zu distanzieren hat, um aktuell und/oder modern zu bleiben, haftet wenig vom gesprochenen Text, wenig Nuance zu schon Gehörtem oder Erlebtem. Die Schauspieler haben es dankbarer verdient.
Zur DVD: www.krapp-gutknecht.de