Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame, Maxim-Gorki-Theater Berlin
„Der Besuch der alten Dame“ im Maxim-Gorki-Theater ist vor allem ein Besuch bei Armin Petras. Er hat sich selbst zurechtgebastelt, was seine Mimen spielen müssen. Allein die Tatsache, dass das drei Jahre nach der Erstaufführung in Berlin, gar vier nach der in Dresden immer noch ein volles Haus bringt, spricht eine klare Sprache, der Schlussbeifall kommt hinzu. So hätte der Kritiker zu schweigen und in sich zu gehen, falls ihm die Begeisterung nicht so recht gelingen will. Knapp zwei Stunden dauert alles und viel länger hätte es nicht dauern dürfen. Hundert Minuten „Oh Gott, oh Gott“ denken müssen, dazu ein Auge auf die Bühne, ein Auge auf den Notizblock, den der jugendliche Sitznachbar argwöhnisch beäugt, das reicht.
Das Stück hat in seiner unnachahmlichen Art eigentlich Friedrich Dürrenmatt geschrieben, es hat Epoche gemacht. Es hat mit seiner Claire Zachanassian eine Rolle für die reife Darstellerin, die ihre ganze Bühnenerfahrung aufbringen und glänzen kann, geschaffen. Auch die anderen Rollen sind nicht ohne und gesellschaftskritische Substanz liegt so sichtbar auf der Hand, dass man schon ein sehr besonderes Verhältnis zur Bühne haben muss, wenn man meint, man müsse den Zuschauer fünfzig Jahre nach der Uraufführung behutsam mit Tritten in den Hintern zu ihr hinführen.
Behutsam ist schon der falsche Ausdruck. Armin Petras stößt seine Zuschauer ja brutal mit der Nase auf seine „Botschaft“, die er vermitteln will, brutal, wie man junge Katzen mit der Nase in ihren Dünnschiss stupst, um sie zur Katzentoilette zu erziehen. Es gibt nicht den allergeringsten Grund, diesem Dürrenmatt Mittel des Agitproptheaters der zwanziger und dreißiger Jahre aufzupfropfen, es gibt auch keinen Grund, die Schweizer Geschichte in die Gegend der untergegangenen DDR zu verlegen, es sei, man ist fortwirkend verblüfft, dass dort doch keine neuen Menschen erzogen worden waren in den schönen vier Dekaden. Und also die alten Anfälligkeiten bei ihnen lebten wie bei den alten Menschen jenseits sämtlicher eisernen und sonstigen Vorhänge.
Doch, es gibt einen Grund. Es war der Wille des Regisseurs Armin Petras, der in seiner Eigenschaft als Intendant des MGT selbstverständlich seine eigenen Regieambitionen aktiv wohlwollend toleriert und fördert. Ins Russische wollte er auf alle Fälle verweisen, weshalb zu Beginn die Darsteller zitternd und frierend mit einem Transparent „Willkommen“ auf den Treppenstufen stehen, welche das Bühnenbild sind. Über ihnen gibt es filmisches Schwarzweiß-Einspiel wie im Stummfilm mit Flockenwirbel und addierten Sturmgeräuschen. Aus Claire ist Clara geworden bei Petras und die singt erst einmal.
Anders als bei Dürrenmatt, in dessen Alpenheimat keine Mauer errichtet wurde, weil tatsächlich niemand die Absicht hatte, eine zu bauen, haben diese Clara und dieser Alfred Ill, der laut Programmheft früher ein Dandy war, es vor dem Mauerbau miteinander getrieben. Sie ist dann in den Westen abgehauen, wie es so profan im Petras-Text natürlich nicht heißt. Die Profanitäten, Trivialitäten und sonstigen Plattitüden hat er auf andere Punkte verteilt. Bei Dürrenmatt gibt es eine Geschichte, wie sie zu ihren Milliarden kam, bei Petras ist das uninteressant, sie hat die Milliarden einfach. Die vielen kleineren Rollen, die vielen Gatten und Tobys sind ohnehin gestrichen.
Weil sie eine Frau ist und sich rächen will, baut der Regisseur in Programmheft und Bühnentext eine überdeutliche Brücke zu Medea, die auch eine Frau war und sich rächen wollte und überhaupt wird die Antike bemüht, als stünde alles sonst unter dem Verdacht mittlerer Dünnbrettbohrerei. Diese Art von Bedeutungsandickung mit theatralischen Nahrungsergänzungsmitteln heitert möglicherweise immer noch postmoderne Intertextualitätenentdecker auf, doch auch hierfür gibt es keinen anderen Grund als Armin Petras.
Wenn dieser Tage ein Kritiker, der es wissen sollte, dem Ensemble des Weimarer Nationaltheaters bescheinigte, keine Charakterdarsteller zu haben, dann hat das neben profanen innerhäuslichen Ursachen auch die tiefere, dass eine Regietradition, wie sie Petras stiftet, solche Darsteller gar nicht wirklich braucht. In Inszenierungen wie diesem Pseudo-Dürrenmatt müssen die Darsteller brüllen können, sie müssen durchs Bühnenbild rasen können wie die Angestochenen, ohne zu stürzen, zu stolpern oder gar sich zu verletzen. Sie haben ihre Texte in besonderen Stellagen aufzusagen. Der härteste Job das Abends war dabei an Wolfgang Michalek gefallen als Bürgermeister.
Das alles hat natürlich etwas, wenngleich es einer der verblüffend zahlreichen montäglichen Jungzuschauer mit dem jugendsprachlichen Prädikat „krank“ versah, also nicht „krass“, sondern „krank“. Möglicherweise hat er seinen Elementareindruck sogar umgehend getwittert. Es gab etliche Lacher und auch einige Phasen, da das Publikum an der plötzlichen agitatorischen Direktansprache knabberte. Ich vermute, dass sich Petras einer überstarken Doppelambition als Spätaufklärer und Oberlehrer auf schmerzende Weise bewusst ist. Weshalb er wie ein hypersensibler Macho besonders gern den wilden Böslümmel gibt mit Vulgarismen und allem, was das einschlägige Theater der Grausamkeiten gegen seine Zuschauer im Arsenal hat.
Zugegeben, solange es tief in der Provinz noch Zeitungen gibt, die aus einem Gerichtsbericht über ein Beleidigungsverfahren den Wortlaut der Beleidigung streichen, falls dieser „obszön“ ist, solange haben Dialogelemente wie „Fresse, Fotze!“ als Ansprache der Tochter an Mutter Clara noch einen gewissen Provokationswert. Ob freilich für Berlin, das mag ich bezweifeln. Ich bin mir auch vollkommen unsicher, ob lustige Einsprengsel wie das vom Brüstekneten („Meine erogene Zone ist das nicht!“) nicht einfach nur platt sind. Freilich lachte ein erheblicher Teil des weiblichen Publikums verständnisinnig, als Clara über den mangelnden Bäckernachwuchs sinnierte bei so vielen männlichen Knetern.
Warum die Figuren auf der Bühne Vornamen haben, die sie im Programmheft nicht haben, will sich mir auch nicht erschließen. Was sollen Stasi-Geschichten mit vorhandenen oder nicht vorhandenen Akten mitten in dieser Geschichte? Da hilft auch der ach so lustige Ausruf „Wir sind hier nicht in der Schweiz!“ nicht. Wir sind ja auch nicht auf den Seychellen, mit Verlaub. Es wimmelt von schrägen Zutaten, von „Komm ich ins Fernsehen?“ bis Schwangerwerden im Badewasser, in das der Bruder masturbiert hat. Der DDR-Bezug agiert mit der Formulierung „freundliche Verwandlung“ als Beschreibung der Implosion des Systems und seiner staatsrechtlichen Folgen.
Mir sprach am meisten ein Satz der Tochter aus dem Herzen: „Ich könnte kotzen!“. Dennoch ist bei allem der gute alte Dürrenmatt irgendwo präsent, das Geschehen folgt seinem Vorwurf irgendwie, denn ein neues eigenes Stück wollte Petras dann doch nicht schreiben. Also gibt es auch diese schrägen Figuren als Pumpkäufer, die schon auf die Millionen spekulieren, die noch gar nicht gesichert sind durch Verrat und Opferung des eben noch als Bürgermeisterkandidat gehandelten Ill. Wieso war der früher ein Dandy? Gab es vor der „freundlichen Verwandlung“ überhaupt Dandys in jenem Aktenstaat? Muss Dürrenmatt herhalten, um einen „Wendehals“ wie diesen Bürgermeister zu denunzieren?
All die schönen oder pseudoschönen Lachprovokationen des Spiels und des Dialogs („Achill! – Ach Ill!“), letztlich verpuffen sie als Augenblickswirkungen, die rasante Gefährlichkeit solcher Typen wie dieser Bürgermeister einer ist, sie wird letztlich in einer Albernheitsorgie ersäuft. Es gab schon einmal eine ganze Intellektuellenkaste, die einen blödbärtigen Diktator so lächerlich fand und machte, dass es dem für immerhin zwölf Jahre Mord und Totschlag reichte. Die Kicherprofis wählten dann vornehm das Exil.
Es wären anstandshalber noch die Beteiligten zu erwähnen: Rosa Enskat war Clara, eine schöne Frau. Andreas Leupold war Alfred Ill, früher ein Dandy. Sabine Waibel war Frau Ill, Kauffrau. Stefko Hanushevsky war der Sohn, Cineast, Anne Müller das Mädchen, Wolfgang Michalek, Bürgermeister, ein eloquenter Mann, Matthias Reichwald, der Polizist (mit der Akte), Gunnar Teuber, der Journalist, früher Schriftsteller (vier Exemplare verkaufte er nach der freundlichen Verwandlung und schließlich Berit Jentzsch als „Leopard, eine junge Frau mit einer Krankheit“.
Frage mich niemand, warum der Sohn ein Cineast war, vielleicht wegen der Einspielungen oben? Oder welche Krankheit das Leopardenmädchen befallen hatte, das über die Stufen kroch auf und nieder und seltsame Ausdruckstänze zelebrierte. „Der Besuch der alten Dame“ a la Petras. Wie sagte doch so treffend das Mädchen? Ich will es nicht wiederholen.
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