Richard Dehmel: Alle Ufer fliehn

In der von ihm selbst herausgegeben Zeitschrift „Kain“ schrieb Erich Mühsam im November 1913 von der Wirkung, die Richard Dehmels Gedichte einst auslösten: „Das waren ganz neue Klänge, das war persönlichstes Bekenntnis und wilde Musik, und wir zitterten in dem Gefühl, ein großes Neuwerden mitanzusehen, und mühten uns in Stunden der Versenkung, den neuen Vorbildern nachzustreben.“ Peter Ludewig, der vor Jahren schon und jüngst erst wieder mit eigenen Gedichten hervorgetreten, Fürsprecher vergessener expressionistischer Dichter (Alfred Vagts) und früher russisch-sowjetischer Avantgarde-Literatur, als Remisow-Übersetzer demnächst auch vertreten (bei Reclam), hat für den Verlag der Nation eine Auswahl Gedichte von Richard Dehmel zusammengestellt, „Alle Ufer fliehn“ ist ihr Titel.

„Es ist das Schicksal der Wegbereiter einer neuen literarischen Strömung, daß die Wirkung ihrer Nachfahren die ihre überschattet“, schreibt Ludewig in seiner knappen Nachbemerkung. „Ihr Werk steht zwischen den Zeiten. Schon der alten entwachsen, ist es für die neue noch nicht repräsentativ.“ So ist Richard Dehmel, geboren 1863 und 1920 gestorben, ganz sicher zu charakterisieren, es gibt Gedichte von ihm, die an Eichendorff gemahnen und solche, die den expressionistischen Aufbruch der nachfolgenden Generation ankündigen. Dennoch: auf die Suche nach Zeit-Repräsentanz begeben sich Lyrik-Leser wohl doch erst in dritter Linie. Sie halten es eher mit Georg Heym, der am zwölften Februar 1905 in sein Tagebuch eintrug: „Wenn man dieses Gedicht hört, so empfindet man geradezu einen körperlichen Schmerz, daß sich diese Stimmung nie verwirklichen läßt. Gemeint war Richard Dehmels Gedicht „Geheimnis“.

Peter Ludewig hat es in seiner Auswahl nicht berücksichtigt. Er hat mit seiner Ausgabe vor allem gezeigt, daß keineswegs nur die von Helga Bemmann seinerzeit in der ersten DDR-Auswahl von Dehmel-Gedichten („Ich radle, radle, radle“, 1975) versammelten Stücke noch zu uns sprechen. Denn mit diesen Gedichten ist es wie in „Manche Nacht“: „Und du merkst es nicht im Schreiten, / wie das Licht verhundertfältigt / sich entringt den Dunkelheiten. / Plötzlich stehst du überwältigt.“ Gedichte brauchen die verwandte Seele.
  Zuerst veröffentlich in TRIBÜNE, Nummer 89, Seite 13, 6. Mai 1988, Titel
  „Eichendorff nahe und auch den Expressionisten“, nach dem Typoskript


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