Sarah Kirsch erzählt

Man kann, ohne der Realität zu viel Gewalt anzutun, das Jahr 1973 als das Sarah-Kirsch-Jahr der DDR bezeichnen. Nicht weniger als drei Bücher von ihr traten in die Öffentlichkeit. Natürlich ein Gedichtband, „Zaubersprüche“ hieß er. Nach „Landaufenthalt“ (1967) war er der zweite eigene Band mit Lyrik, nachdem das „Gespräch mit dem Saurier“ 1965 noch gemeinsam mit Rainer Kirsch bestückt wurde. Zweimal Prosa: „Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See“; „Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder“. Zwei Verlage: Aufbau Berlin und Weimar, Eulenspiegel Berlin. Auf dem Schutzumschlag der „Zaubersprüche“ ist zu lesen: „Acht Fragen an Sarah Kirsch“. Die erste Antwort: „Ich hoffe, dass Hexen, gäbe es sie, diese Gedichte als Fachliteratur nützen könnten.“ Die achte Antwort: „Ich habe in letzter Zeit wieder und wieder Volkslieder gelesen. Ich versuche mich über ihren Lakonismus durch praktische Nachbildung zu verständigen.“ Innen unter anderem das Gedicht „Don Juan kommt am Vormittag“, in dem der nämliche Verführer ein Telegramm schreibt. Hinten Anmerkungen zu den Gedichten. Für mich immer problematisch, wenn Gedichte Anmerkungen nötig haben. Aber sicher dennoch vernünftig.

Ein Sarah-Kirsch-Jahr gab es vor 1973 nie in der DDR, nachher nie wieder und schon 1977 lebte sie nicht einmal mehr dort. Zwischen Antrag auf Ausreise und Ausreise aus der DDR verging lediglich eine Woche. Die seltsamen Privilegiertheiten, die DDR-Schriftsteller genießen durften, bis heute meines Wissens nie als Gesamtthema betrachtet oder gar ausführlich behandelt, hatten in diesem Tempo ihre makabere Sonder-Erscheinung. Andere wurden über Wochen und Monate hingehalten, verloren Arbeit und (falsche) Freunde, mussten diverse Schikanen erdulden. Davon ist die Welt voll, manchen, die es in der Schikane-Branche zu vergänglichem Ruhm brachten, gelang sogar eine Nachwende-Karriere in Berufspolitik und Verlagswesen. Davon hier aber kein Wort weiter. Dafür aber eine Wunderlichkeit: Auf Seite 12 der „Zaubersprüche“ das Gedicht „Schwarze Bohnen“, das 1968 für Orkane in DDR-Wassergläsern gesorgt hatte. Es stand zuerst auf Seite 130 der Anthologie „Saison für Lyrik. Neue Gedichte von siebzehn Autoren“. Herausgeber Joachim Schreck verlor wegen ihr seinen Job, andere Konsequenzen im Verlag blieben nicht aus. Lyrik-Experten Michael Braun (1958 - 2022) fiel noch 2009 in seinem Lyrik-Kalender im Deutschlandfunk nichts auf.

Er verbreitete, „Schwarze Bohnen“ habe nach 1968 in der verfemten Anthologie erst 1973 wieder veröffentlicht werden können: eben in „Zaubersprüche“. Das stimmt nicht ganz, denn 1973 fehlen von den elf Zeilen des Originals, von denen sieben mit „Nachmittags“ beginnen, ganze vier, vier von eben diesen Zeilen mit „Nachmittags“. Das hätte einem Experten auffallen müssen. War das ein Kompromiss, den der Verlag der Dichterin abgezwungen hatte, hatte Sarah Kirsch selbst und ohne Druck von außen die Kürzung (Straffung?) vorgenommen? Ich weiß es nicht zu sagen. Immerhin: Im Gefolge des Sarah-Kirsch-Jahres machten drei sehr gewichtige und auch äußerlich umfangreiche Wortmeldungen zu ihren Gunsten Furore, wenn es denn solche Vorgänge in der DDR mit ihrer „Nicht-Öffentlichkeit“ überhaupt so gab. Peter Hacks publizierte im Septemberheft der NDL 1976 (Neue Deutsche Literatur) sein „Der Sarah-Sound“, aufgenommen dann auch in seine Sammlung „Die Maßgaben der Kunst“. Adolf Endler publizierte „Sarah Kirsch und ihre Kritiker“ im ersten Heft von Sinn und Form 1975 . Schließlich schrieb Franz Fühmann für sein Buch „Erfahrungen und Widersprüche“ (Hinstorff 1975) eigens „Vademecum für Leser von Zaubersprüchen“ (S. 97 – 146).

Dass von den zehn Gedichten aus „Saison für Lyrik“ nicht nur „Schwarze Bohnen“ Eingang in die „Zaubersprüche“ fand, sei der Vollständigkeit halber erwähnt, weiteren sechs geschah das auch, zum Teil überarbeitet, wenn man neu gesetzte Satzzeichen oder beseitigte Kleinschreibungen so charakterisieren mag. Von den sieben Texten in „Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See“, dem Inhaltsverzeichnis zufolge zwischen 1968 („Die helle Straße) und 1972 („Blitz aus heiterm Himmel“ sowie die Titelgeschichte) entstanden, hatte einer, „Der Schmied von Kosewalk“ (1970) das Glück, innerhalb der DDR auch in andere Sammlungen aufgenommen zu werden. Zuerst in „Das Paar. 13 Liebesgeschichten“, 1971 bei Aufbau, 1976 in „Die Rettung des Saragossameeres. Märchen“ im Buchverlag Der Morgen Berlin. Man könnte, falls Leser das noch verstehen, diese sieben Geschichten in solche vor dem VIII. Parteitag der SED und solche nach diesem Parteitag einteilen. Sarah Kirsch war bekanntlich bis zu ihrem Ausschluss 1977 Mitglied der SED, völlige Parteiferne wäre ihr deshalb keineswegs zu unterstellen, zumal mit dem Parteitag 1971 und den bald folgenden Plenen gerade in der DDR-Kulturszene teilweise heftige Hoffnungen verbunden wurden.

Als ich 2011 „Der Schmied von Kosewalk“ erstmals nach August 1977 wieder las, notierte ich mir: „Das ist erzählt wie ein Märchen, hat wundersame Elemente wie ein Märchen und es ist gut. Es erinnert mich, obwohl das so lange zurück liegt, an die Stelle, wo Sarah Kirsch die weit auseinander liegenden Schönheiten beschrieb, auch hier gibt es eine solche herrliche Umschreibung der einfachen Tatsache, dass die Schmiedetochter Hanna einfach keine Chance hat auf einen der ersten sechshundert Plätze bei der Wahl zur Miss Kosewalk.“ Meine Erinnerung galt der ersten Geschichte „Merkwürdiges Beispiel weiblicher Entschlossenheit“, wo es um sechs kleine Schönheiten der Frau geht, von denen der 28 Jahre alten Frau Schmalfuß mindestens zwei fehlen, sie erreicht nur vier kleine Schönheiten, die sich zudem ungünstig über ihre Gesamterscheinung verteilen. Hanna, die Schmiedetochter, ist zunächst eine Briefschreiberin. Sie schreibt einem Soldaten auf eine Annonce hin über viele Wochen, bis er eines Tages gar einen Verlobungsring schickt. Es wird eine Hochzeit vereinbart und er kommt vierzehn Tage vor seiner Entlassung ins Dorf. Alles ist bestens, bis wie der Geist aus der Flasche, es ist ja ein Märchen, Christine auftaucht und Hanna Konkurrenz macht.

Nacherzählungen, weiß ich aus der Klippschule, sind nicht das Geschäft der Kritiker, weshalb sie, der Fama ein Schnippchen zu schlagen, mit größtem Eifer nacherzählen, denn letztlich sollen die potentiellen Leser der Bücher, die sich zuvor in Kritiken orientieren möchten, wer das glaubt, sei vorab selig gesprochen, ja wissen, was sie erwartet. Nur Intellektuelle, solange sie miteinander genau darüber reden, behaupten, überrascht werden zu wollen, als wäre Überraschung von Hause aus positiv konnotiert (das für Intellektuelle). Eine Überraschung wäre zum Beispiel, wenn sich herausstellte, dass russische Raketen nur deshalb seltsame Ziele treffen, weil sie eben nicht sehr zielgenau zu programmieren waren, High-Tech-Boykott sei Dank oder Undank. Also weiter: Der stoische Schmied richtet die einmal geplante Hochzeit nun für seinen Nichtmehr-Schwiegersohn und die fremde Christine aus, ein Märchen eben, während Hanna am Tage der Hochzeitsfeier ein Kunststück vollführt, wie es nur ihr Vater konnte und kann, der Schmied von Kosewalk eben. Sie lässt einen Schmiedehammer auf ihre Hand sausen und fängt ihn in allerletzter Millisekunde auf. Der Schmied ist ganz zweifelsfrei eine Wunschfigur der Zeit vor dem VIII. Parteitag der SED.

„Er fälschte alle Ersatzteile und baute einen alten Bulldozer um, damit die Melkanlage, wenn der Strom ausfiel, zu betreiben sei.“ Das ist, wenn es hier auch nur ein Moment ist, offenbar ein Essential dieser Zeit der DDR-Literatur, die positive Anarchie, der Gesetzesbruch im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts, des Guten. Die Fernsehdramatik der Zeit liefert die Belege, die damaligen Fünfteiler waren in der DDR, was man im Westen Straßenfeger nannte. Es gab die propagierte Königsebene. Und die ewig junge Frage, ob der Zweck die Mittel heilige, geisterte in ältester Frische einher. Die Tochter des Schmiedes aber macht eine seltsame Entdeckung und diese führt auf kurzem Wege ziemlich direkt ins Herz der Literatur: „Wie denn, wenn das Bild, das sie aus den Briefen des jungen Soldaten gewann, das sie sich selbst aufbaute, gar nicht der Wirklichkeit entsprach? Sie hatte bemerkt, dass Briefe eigentümliche, selbständige Wesen sein können.“ Gleich danach: „Indem sie von Bäumen schrieb oder von einem schweren Gewitter, dem eine Scheune zum Opfer fiel, wenn sie das Erntefest wiedergab, und die Gespräche der Bauern, hatte sie den Eindruck, dies vorher nie so genau gesehen und intensiv erlebt zu haben.“ Das ist pur Sarah Kirschs Erleben.

Der abgründige Humor dieses Märchens sei abschließend dokumentiert. „Bei seiner Ankunft im Dorf hatte er kaum wahrgenommen, dass Hannas Körper unterhalb der Schultern, die ihm von der Porträtaufnahme bekannt waren, sich etwas derb fortsetzte. … War ihrer Gestalt auch die Ähnlichkeit mit der des Schmiedes nicht abzusprechen, so verfügte sie doch über geschmeidige Bewegungen und leichte Füße.“ Der erste Satz der zweiten Geschichte geht so: „Frau Schmalfuß war 28 und hatte immer noch kein Kind.“ Preisfrage: Wie erläutere ich nicht in Sachen DDR erfahrenen Menschen aller Geschlechter, was das für ein Satz ist? Bis 25, lautete eine Weisheit der Mütterberatung im Ländchen, die zweite Preisfrage stellen wir gar nicht erst, möge eine junge Frau ein erstes Kind geboren haben, alles danach tendiere schon in Richtung Risiko-Geburt. Heute werden die jungen Frauen in einem Alter Mutter, da Frauen meiner Jahrgänge schon Großmütter waren. Die Geschichte der kinderlosen alleinstehenden Frau Schmalfuß ist eine musterhafte DDR-Geschichte, mit spezifischen Sarah-Kirsch-Tücken. „Sie erfüllte alle ihr aufgetragenen Aufgaben gewissenhaft und ohne für sich einen Vorteil herauszuschlagen.“ Trockener geht Ironie kaum.

Der blanke Aberwitz, schon wenig später womöglich von der verlagsinternen Zensur zum Scheitern verurteilt, steckt in dieser Frage: „Oder hatte ihn als Grenzsoldat eine feindliche Kugel getroffen?“ Die Wahl eines Wunschvaters, den sich Frau Schmalfuß suchen will, fällt auf einen Mann mit einem Holzbein. Wer aber außerhalb eines Landes mit einer innerdeutschen Grenze, mit Mauer und Stacheldraht, wie der Altbundesbürger sofort auf Nachfrage im Quiz hervorsprudeln würde, käme auf die Idee, sich die feindliche Kugel als Ursache für das fehlende Bein vorzustellen? Wo doch eher die Grenzsoldaten trafen, als selbst getroffen zu werden, obwohl es auch das tatsächlich gab. Der Aberwitz hält sich durchgängig in „Merkwürdiges Beispiel weiblicher Entschlossenheit“, Frau Schmalfuß zieht wohl kurzzeitig sogar eine Kindesentführung in Erwägung, als der Wunschvater aus ihren Augen verschwindet, dann aber betritt sie mit einem Adoptionswunsch legale Pfade. Es fällt übrigens auf, dass bei Sarah Kirsch ganz und gar DDR-regelwidrig Frauen allein Wohnungen innehaben mit zwei Zimmern, für die man meiner Erfahrung nach nicht einmal einen Antrag stellen durfte, war man nicht bereits verheiratet und hatte idealerweise ergänzend noch ein eheliches Kind.

Dem Jahr 1972 ist die Titelgeschichte zugeordnet und es heißt auf der ersten Seite: „Diese Geschichte hat mich dermaßen gepackt, dass ich sie gleich am nächsten Morgen, vor dem Rasieren, aus dem Gedächtnis niederschrieb.“ Damit ist davon auszugehen, dass hier ein Mann als Erzähler fungiert, denn Frauen begannen erst viel später, sich überall kahl zu rasieren und das toll zu finden. Hier ist auf sehr umständlich-vertrackte Weise von einer Gruppenvergewaltigung und ihren Folgen die Rede, die Frau wird schwanger, der Hafen als ihr Betrieb, Arbeitgeber gab es in der DDR nicht, übernimmt die Vaterschaft (im übertragenen Sinne also die Verantwortung). Heute, da bereits ein Blick auf den obersten Blusenknopf eines nicht immer gesichert weiblichen Wesens den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllen kann, würde diese fast anti-aufgeregte Art, den aparten Fakt der Vergewaltigung von hinten auch noch mit einer lustigen Illustration zu versehen, Shitstürme auslösen. Sarah Kirsch macht sich ein diebisches Vergnügen daraus, das ganz anders zu erzählen. Sie lässt Mutter und Tochter im Milieu des Rostocker Übersee-Hafens leben und agieren, die Tochter verlobt sich mit einem Staumeister, der extrem eifersüchtig ist auf sehr eigene Weise.

Er verleiht seiner Eifersucht nicht etwa mit Faustschlägen Ausdruck, er lässt ein ganzes Schiff der DDR-Handelsflotte auf Fahrt nach Abidjan untergehen, indem er die Ladung bewusst falsch staut. Die Tochter flirtet mit dem einen oder anderen Fahrensmann, während der eifersüchtige Verlobte ihr dafür innerlich sogar ein gewisses Recht zugesteht, denn er selbst ist ja kein Fahrensmann, kein Seemann. Zwischendurch: Not der DDR-Wirtschaft auch im Hafen: „Unsere Brigade verfügte nur über ein Sandstrahlgebläse, das jeweils an den wichtigsten und lohnendsten Objekten eingesetzt wurde. Was sonst zu erledigen war, übernahmen wir in Handarbeit.“ Wäre in der DDR also alles technisch auf höchstem Ausstattungsniveau gewesen, wäre es zur Gruppenvergewaltigung gar nicht erst gekommen. Diese Erkenntnis spricht Kirsch nicht einmal andeutungsweise aus, sie überlässt sie dem aufmerksamen Leser. Den gab es in der DDR. Seine Nase zwischen den Zeilen war die eines Spürhundes, den es in der DDR natürlich gab. „Ist ein Ereignis ein Ereignis, wenn es keinen Schatten vorauswirft, keine entscheidenden Spuren zurücklässt und, statistisch betrachtet, weit außerhalb des Feldes zu verzeichnen ist, so dass es den Mittelwert in keiner Weise modifiziert?“

Diese Frage ist, von Tiefsinn triefend, in „Blitz aus heiterm Himmel“ gestellt, ebenfalls entstanden 1972. Eine Katharina verwandelt sich darin in einen Max, man muss es lesen, wie sie/er diese Verwandlung wahrnimmt, dazu eine überaus eindeutige Illustration. Nein, hier lässt Gregor Samsa nicht grüßen, der Gruß geht umgekehrt an ihn. Es gibt Dialekt-Passagen, es wird zum zweiten Male im Buch Zella-Mehlis genannt, ohne dass dafür ein Hintergrund sichtbar wird. Wieder eine Zwei-Zimmer-Wohnung, wieder besondere Umstände, die zu ihr führten. „Für ihren Haushalt hatte sie wiederholt Systeme erdacht, die Langeweile bei den einzelnen Arbeitsgängen zu unterdrücken.“ So haben bei Sarah Kirsch Vertreterinnen der führenden Klasse einen intellektuellen Kern. Die denken sich Systeme aus, die anderen lassen einfach das Radio und Jahre später den Fernseher laufen. Das System erinnert, siehe oben, an die DDR vor dem VIII. Parteitag der SED, der das Systemdenken wie die Kybernetik aus dem Denk- und Sprechkanon strich. Herrlich für das lesende Altpersonal wie mich die Vision vom Bad mit hellblauen Kacheln in „Die helle Straße“ (1968), ebenso die fehlende Büchse Ölsardinen bei Max, vormals Katharina. Heute wäre Sarah Kirschs 90. Geburtstag.


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