Jaroslav Seifert: Alle Schönheiten der Welt

Auf der Suche nach einem Titel für sein Erinnerungsbuch hat Jaroslav Seifert auf eines seiner frühen Gedichte zurückgegriffen: „Alle Schönheiten dieser Welt“, zuerst 1923 erschienen, nachlesbar für uns in der Auswahl „Wermut der Worte“ (Volk und Welt 1985, Weiße Reihe). Beinahe wäre dieses Gedicht ein kollektives Werk geworden damals: „Einmal sollte ich mit Seifert ein programmatisches Gedicht über alle Schönheiten dieser Welt schreiben, und für diese gemeinsame Arbeit rüsteten wir uns mit einer Flasche Wermut aus. Wir schafften nur die ersten beiden Verse, Seifert vollendete das Gedicht später allein“, berichtete Vitezlav Nezval in seinem Lebensrückblick. Entstanden ist ein Gedicht über den sinkenden Wert der Kunst, über die Vergänglichkeit der Dichtung und der Dichter, die Geringfügigkeit dichterischer Wahrheit - „die Kunst ist tot, auch ohne sie bleibt diese Welt von Dauer“ lautet eine entscheidende Zeile.

Zum Titel seines umfänglichen Lebensbilderbogens verwandelt, wachsen dem alten Gedicht neue Bedeutungen zu wie auch das spätere Buch umgekehrt eine tiefere Sinnebene aus der programmatischen Sicht des jungen Avantgardisten Jaroslav Seifert erhält. Memoiren wollte er nicht schreiben, hat Seifert gleich zu Beginn bekannt, schelmisch darauf verweisend, nicht einmal Notizzettel zur Verfügung zu haben. Memoiren im definierten Sinne sind es denn auch nicht geworden, „Geschichten und Erinnerungen“ - so der Untertitel – ohne strenge Chronologie, detailmalerisch nicht selten, gerade den Kleinigkeiten liebevoll auf der Spur, statt dessen. Weisheit des Alters, aber ohne alle kleinliche Rechthaberei, Melancholie ohne Scham, Benennung von unwiederbringlichen Verlusten wie auch Beschwörung der Toten – Jaroslav Seifert hat ein sehr subjektives Buch geschrieben, sich auf die Subjektivität des modernen Gedichts als Verfahren berufen und sich als Zeuge vorgestellt.

„Schönheit versöhnt uns mit der Welt“ heißt es an einer Stelle, summiert die Erfahrung eines langen Lebens. Das ist weder eine resignative Erfahrung noch redet es einer glatten Lebensbilanz das Wort: die Geschichte unseres Jahrhunderts hat dem 1901 geborenen Literatur-Nobelpreisträger von 1984 ein solches Leben nicht gestattet. Wohl aber hat sie ihn als Kind in ein kleines Geschäft geführt, in dem es für einen Kreuzer eine Handvoll Briefmarken gab, Massenware für die Sammler, Boten aus der großen weiten Welt für den Jungen aus dem Prager Arbeiterviertel Zizkov, Anreger für die erwachende Phantasie. Prag, die geliebte und gehasste Stadt, die avantgardistischen Künstler und Dichter der zwanziger Jahre, Traurigkeiten, kleine kostbare Freuden – Jaroslav Seifert breitet seine Welt vor uns aus, bekennt altmodische Vorlieben und ist mild im Urteil. Er hat sie alle gekannt, die früh schon gestorben sind, die ermordet wurden von den deutschen Faschisten, ist selbst nur um Haaresbreite dem Tode entgangen.

„Ein zahlenmäßig so kleines Volk wie das unsere schart sich in der Stunde der Gefahr eng um das Andenken und die Werke seiner großen Menschen“ - das ist eine Erfahrung aus der Zeit der deutschen Besatzung, die er zutiefst auch selbst erlebt hat, war er doch in dieser Zeit der meistgelesene Dichter seines Volkes. Jaroslav Seifert hat sich nie um Verantwortungen gedrückt, er hat sie übernommen und getragen, ohne Rücksicht auf sein ganz privates Wohlergehen. Die Geschichten und Erinnerungen aus seinem Leben, die in der Übertragung durch Eckhard Thiele im Aufbau-Verlag erschienen sind, haben keineswegs nur nebenbei auch den Rang eines kulturgeschichtlichen Kompendiums, das dankenswerterweise beigefügte Personenregister ermöglicht auch die zielgerichtete Suche nach Erlebnissen und Wertungen zu Seiferts Zeitgenossen. Ein Sinn, den mir dieses Buch für ruhige Lesestunden eröffnet hat, straft das alte Gedicht Seiferts „Alle Schönheiten der Welt“ Lügen, wo es hieß: „Neue Schönheiten sind an den Platz unserer Gedichte gesetzt.“ Seiferts Werk zeigt, dass der Platz der Dichtung, wo er geräumt wird, leer bleibt, seine Unersetzlichkeit ist die Unersetzlichkeit aller Dichtung.
Zuerst veröffentlicht in BERLINER ZEITUNG Nr. 290, Seite 7, am 8. Dezember 1988
unter der Überschrift „Unersetzlichkeit aller Dichtung“, nach dem Typoskript


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