Mit Unmengen von Figuren bevölkert

„Erste Voraussetzung für die Popularität eines Autors ist das Mittel, sich liebenswert zu machen. Ist die Liebe, die er allen seinen Gestalten zuteil werden läßt. Daher sind Dickens' Gestalten die gemeinsamen Freunde der ganzen Welt, sie verbinden den Menschen Amerikas mit dem in Petersburg...“ notierte sich Lew Tolstoi 1856 in sein Tagebuch. Charles Dickens, am 7. Februar 1812 geboren, am 9. Juli 1870 einem Schlaganfall erlegen, hat in der Tat wie kaum ein anderer bedeutender Autor des 19. Jahrhunderts weltweite Popularität erlangt.

Dies gelang ihm, weil er sich dem Mechanismus des kapitalistischen Literaturmarktes im viktorianischen England hervorragend anzupassen vermochte. Er war sowohl in der Lage zu liefern wie nur irgendein Vielschreiber als auch noch während des Schreibens sein Konzept zu verändern, wenn er den Nerv des Publikums nicht getroffen hatte und dies sich in den Verkaufszahlen niederschlug. Er ging auf Lesetourneen, um in der Manier eines großen Mimen aus seinen Werken vorzutragen. Bis zu 2000 Zuhörern gleichzeitig soll er in insgesamt 423 Lesungen gegen höchste Honorare sein Multitalent demonstriert haben.

Iwan Turgenjew urteilte so: „Dickens, der auch vortrefflich liest, spielt seine Romane sozusagen; sein Vortrag ist dramatisch, fast theatralisch; in seiner Person verkörpert er einige erstklassige Schauspieler, die die Zuhörer bald lachen, bald weinen lassen.“ Auch Hans Christian Andersen, der 1857 fünf Wochen auf Dickens' Landsitz Gadshill zu Gast war, erlebte seinen Gastgeber in fremdem Metier: Königin Viktoria und der König von Belgien, der Prinz von Preußen und Prinz Albert ließen sich in einer Privatvorführung von Dickens' Schauspielkunst bezaubern, in einem rechten Rührstück übrigens.

Nur zwei Jahre zuvor hatte in einem Brief noch Dickens geschrieben: „Mit jeder Stunde werde ich immer mehr in meiner Überzeugung bekräftigt, daß die regierende Aristokratie und ihre Speichellecker England in den Untergang führen.“ Niemals hat eine solche Einsicht jedoch den Dichter Charles Dickens zu unmittelbarer politischer Aktivität geführt,  ja die Einsicht ist selbst kaum je weit unter die Oberfläche gedrungen. Allerdings hatte Dickens, weil schon die Oberfläche der englischen gesellschaftlichen Realität sehr viel vom Charakter des Systems offenbarte – unglaubliche Prosperität nach der industriellen Revolution auf der einen Seite, unvorstellbares, geballtes Elend zugleich auf der anderen – nie Sorgen mit seinem Stoff. Als Monomane des literarischen Details hat er soviel Realität eingefangen, daß er sogar einem Leser wie Karl Marx „mehr politische und soziale Wahrheiten“ vermitteln konnte, „als alle Berufspolitiker, Publizisten und Moralisten zusammengenommen von sich gegeben haben.“

Als Parlamentsreporter und Verfasser von Skizzen aus dem Londoner Leben hat Charles Dickens angefangen. Eine Art von frühem Comic war dann der Ausgangspunkt für seinen ersten umfangreichen Roman, der wie die späteren auch zuerst in Fortsetzungen erschien: „Die Pickwickier“. Mit dreißig Jahren hatte er bereits fünf Romane vorgelegt, stattliche Bände jeweils, zehn weitere folgten noch, von denen der letzte, „Edwin Drood“ Fragment blieb. Eine Unmenge von Figuren bevölkern diese Romane, finstere Bösewichter und unschuldige Mädchen, Waisenkinder und Erbschleicher, komische Käuze und edelmütige Damen. Rührend oder abstoßend, liebenswert oder verachtungswürdig – einprägsam sind sie alle.

Es fällt schon auf, daß widersprüchliche Charaktere Dickens' Sache nicht waren, er zeichnete eine polare Welt und den Pessimismus, der seine private Weltsicht zunehmend bestimmte, bezwang er in seinen Büchern durch märchenhafte Siege des Guten über das Böse. Vielleicht hat deshalb Willi Bredel einmal die Vermutung geäußert, Charles Dickens sei vor allem ein Autor für junge Leser. Im Verlag Rütten & Loening wird man es besser wissen: die dort seit Jahren herausgegebene Werkausgabe findet in allen Altersgruppen soviel Leser, daß Nachauflagen zum ständigen Programm gehören. Weil eben Dickens nicht nur viel schrieb, sondern auch Weltliteratur.
 Zuerst in: Berliner Zeitung Nr. 32, Seite 10, 7./8. Februar 1987, nach dem   Typoskript


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