Zweifach Franz Jung

Haben wir ein Bild von Franz Jung? Wir haben ein Buch von ihm und verstreute Häppchen. Auch Oskar Maria Graf hilft uns nur zwischenzeitlich: „Er war alles andere als das, was ich mir unter einem Dichter vorstellte. ... Alles Literarische schien ihn anzuekeln. Er hatte fast stets ein finsteres Gesicht, und wenn er wirklich lachte, so klang dies mehr wiehernd und herausgestoßen, unfrei und nervös.“ Dieser Franz Jung, den der noch nicht zwanzigjährige Graf kennenlernte, hatte soeben sein erstes Buch veröffentlicht, „Das Trottelbuch“. Er verwarf mit radikalen Sprüchen das ganze Erbe. Lessing, Schiller, Heine, Lenau hatten für diesen Franz Jung nur einen Wert: man konnte ihre Werkausgaben in eine Antiquariatsbuchhandlung tragen und den Erlös vertrinken. Oskar Maria Graf sah seine Bibliothek schwinden: „War viel Geld da, wurde haufenweise Kognak bestellt, war wenig da, gab es nur Bier.“

Von Beginn an war Jung nicht einer unter anderen, einer unter vielen, die sich zur jugendlichen Revolte formierten. Was Pose schien und war bei nicht wenigen, bei ihm geriet es zu unerbittlicher Konsequenz. Geboren am 26. November 1888 in Neiße als Sohn eines Uhrmachers, erlebte er das bedrängende des selbstzufrieden prosperierenden deutschen Kaiserreiches zuerst im Zwischenmenschlichen: Kleinbürgerlichkeit in all ihren Attributen galt ihm als das radikal zu Negierende. In rascher Folge entstanden Bücher: „Kameraden ...!“, „Sophie. Der Kreuzzug der Demut“, „Opferung“ und „Der Sprung aus der Welt“ - Romane, die belegen, daß der literarische Expressionismus keineswegs nur im Lyrischen oder Dramatischen zu Neuem vorstieß. Erzählungen und Novellen kamen hinzu, erschienen in Franz Pfemferts „Aktion“.

„Radikalste revolutionäre Rassigkeit pulst ferner in den Prosadichtungen Franz Jungs, die in entzündendem, extremem Bis-ans-Ende-Gehen den Umsturz in die Beziehungen der Individuen zueinander tragen. Ein echtes und weites Freisein von allen Vorurteilen und Verlogenheiten des bürgerlichen Denkschemas, von allem Kapitulieren und Zahmwerden und Sichbescheiden, überlegene Fessellosigkeit und Bekenntnistrotz zur verletzendsten Wahrheit erzeugen eine götzenferne Luft und eine Generation, die nur in dieser vollkommen gereinigten atmen mag.“ Als Max Herrmann-Neiße dies resümierend über die erste Phase im Schaffen Franz Jungs niederschrieb, war für Jung längst alles anders. Oktoberrevolution in Rußland, Novemberrevolution in Deutschland, die junge Kommunistische Partei führten ihn an die Seite der Arbeiterklasse, die proletarische Revolution bestimmte längst sein Schreiben und Handeln.

Er stellte sich mitten in die Kämpfe der Zeit, war Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrates, zwang im Jahr 1920 den Kapitän des deutschen Schiffes „Senator Schröder“ zur Kursänderung in Richtung Murmansk, um nach Sowjetrußland zu gelangen. Jung wollte die Aufnahme der KAPD in die Kommunistische Internationale erreichen, traf vor dem II. Kongreß der Komintern auch mit Lenin zusammen. Als Teilnehmer an den Märzkämpfen 1921 in Mitteldeutschland wurde er zu einer langen Hafstrafe verurteilt, floh nach Hollend, wurde nach Rußland ausgewiesen und arbeitete dort für die Internationale Arbeiterhilfe. Als studierter Nationalökonom half er bei der Reorganisation der Zündholzfabrik Tschudowo. Sechs Bücher schrieb er über seine Erfahrungen in der Sowjetunion, von denen bei uns bisher leider nur eines vollständig nachgedruckt wurde „Die Geschichte einer Fabrik“.

Haben wir ein Bild von Franz Jung? Wir haben ein Buch von ihm, „Der tolle Nikolaus“, 1980 bei Reclam erschienen, von Cläre Jung, seiner zweiten Frau, und Fritz Mierau herausgegeben, und verstreute Häppchen. Den revolutionären Dramatiker Jung beispielsweise kennen wir noch nicht, kaum den Essayisten, kaum den Bahnbrecher des proletarischen Romans. Dem dieser schon ein formales, ein technisches Problem auch war, als andere noch ausschließlich an Inhalten orientiert diskutierten, der mit seinen eigenen Erzählungen und Romanen, die nach 1921 erschienen, selbst praktische Proben gab von exemplarischer Bedeutung.

„Der Beweis für die Möglichkeit proletarischer Erzählungskunst ist nachahmenswert mit einer Leistung von Rang erbracht. Vorschnell wohl kam dieses Urteil wiederum von Max Herrmann-Neiße, die kommunistische Kritik sah es anders: „Die Möglichkeit des spezifisch proletarischen Romans, so wie Franz Jung ihn sich als Gegensatz zum bürgerlichen Roman zu denken scheint, scheint überhaupt in Frage gestellt.“ (Gertrud Alexander) Das nahm Debatten vorweg, die nicht beendet sind. Franz Jung aber verschwand hinter den Bildern, die andere sich von ihm machten, von seinem Aktionismus, seinem Linksradikalismus, seinem Anarchismus. Er wurde das Beispiel Franz Jung. Die Insider-Ikone Franz Jung.

Er lebte noch bis zum 21. Januar 1963, entging Anfang 1945 knapp dem Tode, wurde dann aus dem Konzentrationslager Bozen befreit. 1948 in die USA gelangt, konnte er die Beziehungen zu seinen alten Freunden und Bekannten nicht neu beleben: „... ich will lieber als Beifahrer bei einem Möbeltransporteur für jede Ablieferung 1 Dollar verdienen, als bei Piscator mit die Zulassung zur Playwriter Guild abzusitzen.“ Seine Autobiographie „Der Weg nach unten“ erschien 1961. Seinen Entwurf einer menschlichen Gemeinschaft als Gegensatz zur Gesellschaft können wir abtun, ihr Kern aber bleibt fordernd. Haben wir ein Bild von Franz Jung?
 Zuerst veröffentlicht in: Sonntag, 50/1988, 11. Dezember 1988, Seite 4
 Titel: Franz Jung 100, nach dem Typoskript

Als 1980 im Leipziger Reclamverlag (RUB) 811)  unter dem Titel „Der tolle Nikolaus“ eine Auswahl von Prosa und Briefen von Franz Jung herauskam, schien das ein Anfang zu sein. Fritz Mierau vor allem war es zu danken, daß ein wichtiger Autor sowohl des deutschen Expressionismus wie auch der frühen sozialistischen Literatur für uns dem Vergessen entrissen wurde. Bis heute aber ist diese Edition folgenlos geblieben. Da und dort gibt es ein Bröckchen aus seinen sechs Sowjetunion-Büchern, zuletzt in der lesenswerten Sammlung „Unterwegs nach Eriwan“ (Mitteldeutscher Verlag 1988, Edition Aurora), Expressionismus-Anthologien konnten an ihm nicht vorbei. Und Franz Jung hat immerhin zwei Dutzend Bücher veröffentlicht zwischen 1912 und 1931, seine Autobiographie „Der Weg nach unten“, später unter dem Titel „Der Torpedokäfer“ neu aufgelegt, ist ein Zeitdokument hohen Ranges.

Wer die Novemberrevolution in ihrem Anspruch und ihrer Niederlage verstehen will, kann auf Franz Jungs Schilderungen der Besetzung des Berliner Telegrafenamtes kaum verzichten. Aus dem Kreis um die Zeitschrift „Aktion“ kommend, war Franz Jung kurzzeitig Mitglied der eben begründeten KPD, dann, nach den internen Auseinandersetzungen im Frühjahr 1919 Mitbegründer der KAPD. Er sprach mit Lenin über den Anschluß an die Kommunistische Internationale, war aktiver Kämpfer im Mitteldeutschen Aufstand 1921, arbeitete dann in der Sowjetunion. Nach 1919 schrieb er seine zahlreichen Bücher vor allem im Gefängnis. Wie weit er auf dem Weg zu einem neuen proletarischen Roman  vorgestoßen ist, mag streitig sein, ohne ihn ist auf alle Fälle weder die frühe sozialistische Literatur noch ihr späterer Weg vorstellbar. Franz Jung starb am 21. Januar 1963 in Stuttgart, einsam und isoliert. Erst Jahre nach seinem Tode setzte eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Werk ein.
 Zuerst veröffentlicht in: Neue Hochschule, Nummer 20, 2. Dezember 1988,
 Seite 4, unter der Überschrift: Der tolle Nikolaus


Joomla 2.5 Templates von SiteGround