Willi Bredel: Pater Brakel

Schriftsteller-Lexika ähneln einander: Erst kommen Daten zu den einzelnen Autoren, dann, der jeweilig gesehenen Bedeutung nach, mehr oder minder lange Ausführungen zum Werk in überwiegend chronologischer Folge, schließlich, die bereits genannten Werke ergänzend, eine knappe Bibliographie. Wer die Überzeugung gewinnt, dass im Fließtext die wichtigeren, die stärkeren, die wirkmächtigeren Werke genannt werden als in der abschließenden Bibliographie, wird kaum völlig falsch liegen. Und dennoch ist der Umkehrschluss tückisch: Was ausschließlich im Kleingedruckten steht, ist keineswegs immer automatisch vernachlässigbar. Wäre es anders, ließe sich im Falle von Willi Bredel (2. Mai 1901 bis 27. Oktober 1964) nur sehr schwer erklären, wie ausgerechnet eine Erzählung als einzige des Autors die Ehre erhält, in die altehrwürdige Insel-Bücherei aufgenommen zu werden, die nicht einmal in einer DDR-Monographie über Bredel (Lilli Bock in der Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“) mit einem einzigen Satz gewürdigt wird.

Die Rede ist von „Pater Brakel“, 1940 zuerst im sowjetischen Exil Bredels in Buchform mit anderen Erzählungen gedruckt, in seinem Todesjahr einzeln zum Insel-Buch 834 geworden, ob er es noch in den Händen halten konnte, vermag ich nicht zu sagen. Bredel starb als Präsident der Akademie der Künste, als hoch geehrter Autor eines Werkes, das sich am Ende in einer vierzehnbändigen Ausgabe zusammengefasst fand. Im Rückblick scheint es von heute her, als ob es nicht wenige gab, die nicht sehr traurig waren, dass dieser geborene Hamburger so früh starb. Der Eindruck lässt sich nicht einfach an diesen oder jenen Fakten sicher festmachen, aber allein ein Suchen nach Stimmen zu ihm führt zu der dann doch leicht überraschenden Erkenntnis, das mancher Sammelband mit Darstellungen zur DDR-Literatur gut ohne ihn auskommt. Dezent verpackt immer mal wieder der Hinweis auf Qualitätsmängel seiner Nachkriegswerke. Die Daten seines Lebens zeigen viel Diskontinuität, eine unfassbare Menge von Funktionen, die dem treuen Kommunisten offenbar mit Vorliebe aufgehalst wurden, bekleidete er eher kürzer als länger.

Die Ansprache zur Trauerfeier hielt Alexander Abusch (14. Februar 1902 bis 27. Januar 1982), zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr Nachfolger des am 11. Oktober 1958 verstorbenen Kulturministers Johannes R. Becher, der so etwas wie ein Lieblingsfeind Bredels war, wohl aber seit 1956 geführt als IM „Ernst“ des Ministeriums für Staatssicherheit und auch auffällig geworden als Zeuge der Anklage im Prozess gegen Paul Merker. Abusch sagte Sätze wie: „In der Art, wie Du als Schriftsteller Frauen dargestellt hast, offenbarte sich Dein sozialistischer Humanismus.“ Es war auch eine Kunst, mit solchen Sätzen zu lügen, selbst wenn sie ehrlich gemeint waren. Denn wir wissen nicht, wie und was Willi Bredel noch geschrieben hätte, wenn er nicht aus jener mörderischen Parteidisziplin heraus sich hätte quasi lahmlegen lassen von seinen teilweise extrem kunstfernen Genossen, die aber nie zögerten, ihn in noch eine und noch eine Funktion zu stecken, die ihn, wie Becher, in entscheidenden Momenten allein und im Regen stehen ließen und ihn sonst, wieder wie Becher, im eigenen Schrifttum schlicht ignorierten.

Liest man nur die wenigen zudem substanzfreien Stellen in den vielen hundert Seiten Becher-Essayistik der DDR-Werkausgabe, dann staunt man über so viel Schweigen. Wieviel böse Diplomatie dagegen in dem knappen Text Bredels für den Becher-Gedenkband des Reclam-Verlages Leipzig: „Es war nun durchaus nicht so, daß uns sogleich Freundschaft verbunden hätte.“ Man kannte sich aus dem Moskauer Exil, man überlebte, was viele nicht überlebten, in manchen Augen reicht allein das, um beide zu verdächtigen. Doch weil es so leicht ist, aus der Sicht des Späteren Urteile zu fällen, soll jeder Versuchung in dieser Richtung widerstanden sein. Nur eines ist vollkommen unbezweifelbar: Willi Bredel war im Exil auch als Autor sehr fleißig, er schrieb erstaunlich viel, obwohl er keineswegs nennenswert mehr Freiräume hatte als nach seiner Rückkehr nach Deutschland als Mitglied der „Initiativgruppe Sobottka“, die für Mecklenburg Vorpommern so etwas Ähnliches war wie die „Gruppe Ulbricht“ für Berlin und die gesamte sowjetische Besatzungszone. Aussagekräftig für diese Zeit ist eine nach 1989 aktualisierte B-Dissertation der Pädagogischen Hochschule Güstrow, die ihr Verfasser Reinhard Rösler 2003 im Hamburger Von Bockel Verlag vorlegte. (Rösler: Autoren, Debatten, Institutionen, ISBN 3-932696-28-X)

Für „Pater Brakel“ muss man gewappnet sein. Man darf keine Allergie gegen traditionelles Erzählen mit einem allwissenden Erzähler haben, der sogar Beichtgeheimnisse und letzte Befehle von U-Boot-Kommandanten kennt, die kein Erzähler der Welt kennen dürfte. Man darf auch keine Allergie gegen Spionage haben, die sich gegen das eigene Volk richtet, man muss bereit sein, guten und weniger guten Verrat, Denunziation im Interesse der einen oder der anderen Sache voneinander zu trennen. Schließlich muss man die vielleicht naive Vorstellung verabschieden, dass Priester sich nicht von Geheimdiensten missbrauchen lassen. Bredel erzählt nicht von der DDR und ihrem stets und überall nach Quellen Ausschau haltenden Mielke-Ministerium. Bredel erzählt eine Geschichte aus dem ersten Weltkrieg, von der ich nicht weiß, ob sie frei erfunden oder nach ähnlichen Ereignissen in der damaligen Wirklichkeit gestaltet wurde. Ein belgischer katholischer Pfarrer im flämischen Zeebrugge geht auf die am 13. Oktober 1914 die Küstenstadt besetzenden Deutschen zu und schafft es sehr rasch, das Vertrauen von Offizieren zu gewinnen, die er mehr oder minder geschickt aushorchen kann im Auftrag der Engländer.

Wie er zum Spion wurde und warum, teilt der Autor Willi Bredel nicht mit. Wohl aber führt er vor, wie man sich Vertrauen erschleicht: Man denunziert und zeigt an, man spielt den militärischen Voll-Amateur, der naiv fragen darf, man verhilft den Quellen bisweilen auch zu einem Rausch, man hört sich Sorgen und Nöte von Männern an, die Angst haben vor der Zukunft. Dann aber, wenn man die Informationen hat, über den neuen U-Boot-Hafen, wenn man weiß, wann Boote auslaufen sollen gegen den Feind, dann hat man natürlich keine Skrupel, deren Besatzungen zu opfern. Es gipfelt darin, dass der spionierende Pater der kompletten Crew eines U-Boots neuartigen Typs den Weihnachtsgottesdienst ausrichtet, sie unterm Baum stehen sieht wie Kinder, ihnen bis zur Pier folgt, um sie zu segnen, und weiß, dass sie aufgrund seiner Angaben in Bälde im Meer jämmerlich ersaufen werden. Regt sich, immerhin ist er Priester, nie etwas wie Gewissen in ihm? Es regt sich, aber er hat die beste Ausrede der Welt: SI DEUS NOBISCUM – QUIS CONTRA NOS! Das wird später auch auf seinem Grabstein stehen in vergoldeter Schrift, übertragen heißt es: „Ist Gott für uns – wer mag wider uns sein?“ Wie sähe die Welt aus voller Gewissen, die sich gerade nicht beruhigen lassen? Unausdenkbar. Diese Frage aber stellt der Autor Willi Bredel nicht.

Dafür hält er offenbar system- und zeitunabhängige Wahrheiten fest: „Der ärgste Feind eines Soldaten ist der Stumpfsinn. ... Je gottverlassener die Gegend, um so trister das Dasein.“ In solchem Wissen des Paters liegen Schlüssel, um an abschöpfbare Informationen zu kommen. Eher nebenher und vermutlich unfreiwillig liefert Bredel Zeitgeschichte auch zu Belgien, die sich aber nur dem erschließt, der nicht ganz ohne Vorkenntnisse ist. Denn sonst würde sich möglicherweise die Häufung französischer Namen im flämischen Gebiet seltsam ausnehmen. So aber nimmt der Leser es als Fakt, dass damals tatsächlich noch die Wallonen über die Flamen herrschten, die die Armen des Landes waren, die Ungebildeten, die nicht einmal die Kommandosprache ihrer Offiziere verstanden, die arrogant genug waren, nur französisch zu reden. Für mich ganz persönlich und unliterarisch gewinnt die Spionagegeschichte Lebendigkeit, weil ich die Gegend, da alles geschieht, ganz gut kenne, ich sehe ein Haus nahe dem englischen Ramsgate leibhaftig vor mir, wohin die Kassiber transportierenden Brieftauben über den Kanal fliegen. Ich sah Karten mit den Standorten untergegangener Schiffe vor den Küsten der Grafschaft Kent, von Oostende her bin ich nach Zeebrugge gefahren, sah ich dort nicht sogar deutsche Soldatengräber? Kann mir in Kenntnis dieses „Pater Brakel“ denken, dass das vielleicht ein paar von seinen Opfern waren?

In der Erzählung gibt es einen Berliner Offizier namens Kaulbach, der sich schlechten Gewissens dazu durchringt, den Pater davon in Kenntnis zu setzen, dass er Verdacht erregt habe und nun einem Lauschangriff auf seinen Beichtstuhl ausgesetzt sei. Ich weiß nicht, ob es die technischen Möglichkeiten 1914/15 schon gab, immerhin hat der Pater für alle Fälle vorgesorgt. Die für ihn den Kurier spielenden Witwe Vlin wird mittels eines Kunstblumenstraußes gewarnt und jener deutsche Offizier, der ja doch eine sehr gute Nase hatte, wird Opfer einer besonders perfiden Rache des Paters. Der praktiziert in eine der Zigarren des Oberstleutnants ein gefälschtes Dokument, denunziert dann anonym den so Präparierten, der natürlich aus allen Wolken fällt und vielleicht sogar erschossen wird. Bredel hält sich zurück mit einer klaren Aussage über diesen Mann, den er in etwas schräger Bildlichkeit vor seinem Schreibtisch trippeln lässt, obwohl er ihm eben erst einen massiven und kräftigen Körperbau zuteilte und damit doch eher einen Typus, der nicht trippelt. Es gibt in den Beschreibungen eine Reihe Klischees der harmloseren Art und am Ende die immer unerlaubte Frage: Was wollte uns der Dichter mit dieser Geschichte sagen?


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