Franz Fühmann: Vor Feuerschlünden

Als Franz Fühmann, die Folgen noch nicht absehend, den Auftrag des Leipziger Reclam-Verlags annahm, eine erste Georg-Trakl-Auswahl für die DDR herzustellen und ein Nachwort zu schreiben, sah er mit Sicherheit nicht voraus, dass noch dreißig Jahre nach seinem Tod am 8. Juli 1984 das schließliche Arbeitsergebnis ziemlich genau die Wirkung haben könnte, die er selbst im Verlauf seines Tuns daran und dafür an sich und mit sich erlebte. Fühmann geriet während der zweieinhalb Jahre, die er benötigte, um schließlich bei 230 Druckseiten (Ausgabe des Hinstorff-Verlages 1982) zu landen, zu immer neuen Weiterungen, die man trivialisierend „vom Hundertsten ins Tausendste“ nennen könnte. Was sich aber weit treffender benannt vollzog, war eine Radikalisierung. Wenn radikal sein heißt, eine Sache an der Wurzel zu packen, dann ist Franz Fühmanns Buch „Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht“ ein radikales Buch, das nicht nur schließlich tatsächlich Wurzeln zu fassen bekommt, sondern auch das Graben und Greifen nach ihnen im Detail nachvollziehbar macht. Dass die bis heute von Linksradikalen gern vernutzte Formulierung von Karl Marx stammt und weiter geht mit: die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch, muss heutigen Stretch-Abiturienten sicher per Schülerhilfe erläutert werden, soll aber hier keinesfalls zum Gegenstand werden.

Franz Fühmann geriet ganz rasch in seine eigene Lebensgeschichte, geriet über seine eigene  Lebensgeschichte fast synchron in die deutsche Geschichte. Während er sich jedoch mit seinem Wandlungsprozess aus einem durchaus faschismusaffinen Wehrmachtssoldaten zu einem Bürger der DDR aktiv, offensiv und öffentlich längst beschäftigt hatte, das der Schneiderbranche in Notzeiten entnommene Wort „aufarbeiten“ bezeichnet dergleichen ja immer nur denkfaul und klischeehaft, hat er nachfolgende weitere Wandlungen lange eher vorsichtig angefasst, vergleicht man mit der nun publik gemachten Erkenntnis- und Aussagestufe. Als das Buch 1982 erschien, war die breite Öffentlichkeit, soweit man bei dieser Art Buch von Breite überhaupt reden kann, auf ihre in Jahren trainierte Fähigkeit angewiesen, auch und teilweise vor allem zwischen den Zeilen zu lesen. Es brauchte ein gerüttelt Maß an Vorkenntnissen, um Kernstellen überhaupt zu verstehen, nicht einmal mit eigenen historischen Erfahrungen, so hilfreich sie waren, kam man wirklich weit. Erst die Kenntnis der umfangreichen Auswahl „Briefe 1950 – 1984“, die 1994 im Hinstorff-Verlag erschien und bald von der Büchergilde Gutenberg übernommen wurde, vermittelt einen Eindruck, von welchen widerwärtigen Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit und zugeordneter Befehlsempfänger die Editionsgeschichte von „Vor Feuerschlünden“ begleitet war.

Hier wäre man an eine erste Stelle gelangt, wo Weiterungen des Gegenstandes unvermeidlich erscheinen. Denn nur wenn man weiß, wie, mir fehlen die nötigen Kraftausdrücke, mies, wie niederträchtig, wie hinterhältig, wie bauernschlau tricksend versucht wurde, dieses Buch vom Markt zu halten und vor allem auf keinen Fall auch im Westen erscheinen zu lassen, was dann, Ironie der Geschichte, eben gerade nicht gelang, dann kann man auch die bis heute verblüffende Rezeption dieses Buches zu DDR-Zeiten verstehen. Fühmann, einer der wichtigsten und bedeutendsten Autoren der DDR-Literatur, dessen einzig grober Mangel ihm auch im Westen den großen Erfolg schwer gemacht hätte, er schrieb keine Romane, wurde mit diesem Buch zum derart heißen Eisen, dass nur die WEIMARER BEITRÄGE sowie SINN UND FORM überhaupt so etwas wie eine Besprechung veröffentlichten, die NEUE DEUTSCHE LITERATUR, immerhin die Zeitschrift des Schriftstellerverbandes, schwieg sich aus. Und das, obwohl Fühmann erkennbar keine Ambitionen zeigte, die DDR aus Frustration zu verlassen, was nach seinen Erfahrungen und denen vieler Kollegen im Gefolge der Ausbürgerung von Wolf Biermann kaum wirklich überraschend gewesen wäre. Liest man in den Briefen Fühmanns, wie er sich etwa für Bettina Wegener einsetzte in Kenntnis der säuischen Behandlung, der sie wiederholt bei Grenzübertritten zwischen Ost- und West-Berlin ausgesetzt war, dann packt einen heute noch die kalte Wut.

Franz Fühmanns „Vor Feuerschlünden“, im Westen, wie ich finde, bezeichnenderweise „Der Sturz der Engels“ betitelt mit dem Untertitel „Erfahrungen mit Dichtung“, Georg Trakl kommt also erst gar nicht vor, war eine Granate, um den Duktus des Übersetzers Hinrich Schmidt-Henkel zu benutzen, mit dem der gern vermeintlich staubige alte Ibsen-Übertragungen aufhübscht. Schmidt-Henkel würde die DDR-Kritiker Fühmanns vermutlich „Vollpfosten“ nennen, wären sie Bühnen-Gestalten, sonst liefe er freilich Gefahr, sich eine Klage einzuhandeln. Die leicht perverse Erkenntnis nach der intensive Lektüre des Buches lautet, dass aus Sicht der Linienverfechter offizieller DDR-Kultur-Doktrinen, noch mehr aus Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit deren Einschätzung durchaus zutreffend war. Es handelte sich um ein gefährliches Buch. Denn es redete in einem Maße Klartext, der für die DDR damals, so weit ich es überblicke, neu und unfassbar war. Fühmann beschrieb Wirkungen des zwanzigsten KPdSU-Parteitages 1956, wie sie bis zum Ende der DDR am liebsten unter Verschluss gehalten wurden, nicht zuletzt aus der fast unausrottbar tief verwurzelten kommunistischen Parteidisziplin heraus, die lieber den eigenen Augen als dem jeweiligen Politbüro misstraute und dann umschlug in das bekannte 89er Brachial-Gegreine, man sei belogen und betrogen worden, obwohl man doch nur seine eigene Blindheit gepflegt hatte.

Selbst Fühmann-Biograph Hans Richter, ein hoch schätzenswerter Mann, registrierte in seiner zu weiten Teilen ganz sicher noch DDR-basierten Arbeit irritiert, dass Fühmann sogar seine Trunksucht eingestand, um die Wirkungen der jungen DDR auf ihn fasslicher zu machen. Die beiden genannten Besprechungen des Buches aber, die machen einen so peinlich weiten Bogen um alles tatsächlich Brisante, dass man versucht sein könnte, Kübel an Schmähungen über sie auszuleeren, wüsste man nicht, wie es damals lief. Und so merkt man sowohl dem Text von Volker Riedel (Sinn und Form 1/1983) als auch dem von Hans-Georg Werner (Weimarer Beiträge 1/1983) an, wie sie vermutlich mit sich und der Redaktion gerungen haben, um das eine eben noch zu retten aus dem Manuskript, notfalls zum Preis des anderen. (Gern räume ich ein, dass es auch anders gewesen sein kann.) Allein die Positionierung des Werner-Textes im Januar-Heft der Weimarer Beiträge von 1983 ist äußerst viel sagend: Fühmanns Buch ist Gegenstand des achtzehnten Versuches in einer Reihe von genau 18 Versuchen unter dem Sammeltitel „Aspekte jüngster DDR-Literatur. Teil I“. Schaut man sich die Namen der anderen vorher behandelten Autorinnen und Autoren an, dann, ich will niemandem zu nahe treten, sind bisweilen Welten zwischen ihnen und Fühmann, es handelt sich also um eine redaktionell verantwortete Herabsetzung, die um so mehr auffällt, als ein Jahr zuvor, zu Fühmanns sechzigstem Geburtstag, das Januar-Heft 1982 gleich vier umfangreiche Artikel öffentlich machte und ihm dabei volle siebzig Seiten widmete.

Es würde gar zu weit führen, im Detail die Passagen zu zitieren, die für mich belegen, wo Hans-Georg Werner seine vermeintliche Pflicht absolvierte, falls er sie nicht doch tatsächlich als seine Pflicht ansah und wo er dann doch dem Mitreißenden des Buches folgte, das ja immerhin auch Hand an die Wurzeln verbreiteten Literaturkritik-Verständnisses legt und gleich in einem Zug eine ganze Lyriktheorie mit entfaltete. Kostproben immerhin, was auffallend pejorative Wendungen betrifft: „unbeholfen geschraubte Stilwendung“, „menetekelhaft“, „fast krampfhafte Zuwendung“, „anmaßend wirkende Ausschließlichkeit“, „begrenzter aber fester Grund.“ Es ist nicht auszuschließen, dass zwischen Werner und Fühmann eine besondere persönliche Beziehung bestand, ein Brief an Ingrid Prignitz vom 8. Oktober 1977 legt die Vermutung nahe: „Bis bald, nächste Woche bin ich auf der Romantikkonferenz in Frankfurt und werde hoffentlich dort den Dr. Werner ärgern.“ Leider ist der Apparat der Briefausgabe so dürftig wie unzuverlässig, um seine Leser umstandslos aufzuklären, wer hier gemeint ist. Der Kenner der offiziellen DDR-Debatten der Zeit weiß jedoch, was solche Sätze bedeuteten wie: „Es braucht allerdings auch nicht verschwiegen zu werden, daß Fühmann keinen Weg in eine hellere Zukunft sieht. Er ist ohne Hoffnung. Diese Einstellung kann – um des Lebens willen – von der Gesellschaft nicht als ihre ideelle Grundlage angenommen werden.“ Günter Kunert hat sich gegen eine ähnliche Behauptung, die Hans Koch über ihn in dem freilich wesentlich stärker verbreiteten SONNTAG als Verdikt vortrug, vergeblich zu wehren versucht.

Man soll sich, auch wenn nicht gerade ein rundes Jubiläum der DDR-Implosion begangen wird, in nicht zu großen Abständen vor Augen führen, welche kruden Vorstellungen dort als staatstragend galten: Oder soll man es als „normal“ ansehen, dass eine Gesellschaft ihr angeblich angetragene ideelle Grundlagen ablehnt? Man setze nur auf die eine Waagschale den armen Franz Fühmann, auf die andere „die Gesellschaft“ und sehe wie lächerlich hier argumentiert ist. Wo ist für diese seltsame Gesellschaft eigentlich das Problem, wenn einer aus ihrem Personalbestand keinen Weg in eine hellere Zukunft sieht? Am Ende hofft Hans-Georg Werner, damals Professor in Halle, seltsam verräterisch, es ließen sich „vielleicht Wege bahnen, auf denen die Literaturwissenschaft in ein besseres Verhältnis zur Dichtung und den Dichtern gebracht werden kann.“. War dies Verhältnis etwa nicht gut oder sollte das Bessere hier als Feind des Guten gelten? Volker Riedel hatte ziemlich sicher deutlich mehr Spielraum bei Sinn und Form und musste sich deshalb nicht mit Alibi-Sätzen aufhalten. Zweimal bringt er es, der sonst ausführlichste Zitate einbaut, fertig, Fühmann fast wörtlich ohne Anführungsstriche zu zitieren. Ich deute das Verfahren als Ausweis, dass hier volles Einverständnis mit Fühmann signalisiert ist und „zufällig“ sind es wichtige kritische Stellen. Einmal ist es die bei Fühmann lapidar hingesetzte Aussage: gereinigte Auswahlen seien manipulierte Auswahlen. Und dann die nicht ganz so lapidar vorgetragene These, dass eine kritische Sicht auf die gesamte Wirklichkeit eben kein Relikt bürgerlicher Ideologie sei.

Riedels Diagnose, dass es Fühmann sich nicht leicht mache, greift vermutlich voller Absicht zu kurz, denn das Wichtige am Buch ist ja vor allem, dass es damit auch anderen, im Idealfall uns allen, nicht leicht gemacht werde. Heutige Leser der Riedel-Gedanken, geschult von einem fast wöchentlichen Dauerfeuer in fast allen Beruf, Karriere, Chancen betreffenden Teilen von Zeitungen und Zeitschriften, müssten einen tiefen Schreck bekommen angesichts des finalen Zitates, mit dem der Autor arbeitet. Es war Lessing: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.“ Wem aufrichtige Mühe bescheinigt wird in einer Beurteilung, der hat es nicht geschafft, das lernt heute, ob er will oder nicht, jeder „Personaler“, der einem Mitarbeiter Steine in den Weg legen will, ohne es vordergründig zu tun, dass lernt jedes Opfer vergifteten Beurteilungslobes in seiner ersten Bewerberschulung auf dem Arbeitsamt. Weil es hierhin passt, sei Fühmann an Christa Wolf zitiert: „Und wenn man uns Hochmütigkeit vorwirft, gut, seien wir hochmütig und lassen wir diese Köter bellen und gehen wir weiter.“ Der Vollständigkeit halber sei betont, dass dies nicht auf die beiden zitierten Kritiker gemünzt war und sein konnte, denn es ist datiert auf den 4. September 1977. Aber sehr gut leitet es über zu einer packenden Stelle über den Trakl-Vers: „O stolzere Trauer!“, die da lautet: „Wir haben immer von diesen zwei Worten eine unglaubliche Kraft ausstrahlen gefühlt, nahe verwandt der Herrlichkeit der Verachtung und den Betroffenen stärkend, seiner Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, und wäre das ein Medusenhaupt.“

Das ist, schon fast am Ende des phantastischen Buches „Vor Feuerschlünden“, ganz harter Stoff: Herrliche Verachtung stärkt vor der Wirklichkeit. Da steht so ungeheuer viel Erfahrung dahinter, da ist ein ganzer langer Denk- und Fühlweg abgeschritten worden, immer guten Willens, immer besten Willens, in Selbstkasteiung, in Ignoranz und Gutgläubigkeit. All der Mumpitz, der zu verdauen war, ohne dass ihm der geringste Nährwert eignete, all das ungenießbare Dummdeutsch, all das Kurzdenken, dessen wichtigere Eigenschaft immer die Kürze und nie das Denken war: wie reagiert man, wenn man nicht aus dem Fenster springen will, selbst der große Demagoge Hans Koch hat 1987 aus mir nicht bekannten Gründe keine hellere Zukunft mehr für sich gesehen. Da war Fühmann längst tot. Nach langer böser Krankheit. Das Buch mit dem Untertitel „Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht“ kann am heutigen hundertsten Todestag von Trakl immer noch nicht guten Gewissens ein Trakl-Buch genannt werden. Und das liegt keineswegs nur daran, dass der in Salzburg geborene Österreicher auf sehr vielen Seiten gar nicht vorkommt. Und auch nicht daran, dass fast alle sachlichen Informationen erst sehr spät gegeben werden und zum Teil erstaunlich distanzlos. Immerhin erkennt man an Fühmanns Umgang mit Otto Basil, dessen Trakl-Biographie er dankbar nutzt, wie am Umgang mit Walther Killy, den er mehrfach zustimmend, nie kritisch zitiert, dass er Vorleistung achtet, möglicherweise sogar überschätzt, um sich Arbeit zu sparen.

Dabei wäre gerade bei Killy, der sich an Heinrich Heine und Brecht so gründlich vergriff, dass aus späteren Auflagen des Killy-Klassikers „Wandlungen des lyrischen Bildes“ die betreffenden Beiträge wegen kaum leugbarer Peinlichkeit sogar komplett gestrichen wurden, eine gute Gelegenheit zu Distanz gewesen. Doch war Fühmanns Strategie ziemlich sicher so weit gesteckt, dass ihm ein einzelner in der Reihe seiner berufenen Zeugen keine Sondermühe wert war. Diese Strategie zielte ganz offensichtlich auf Provokation, denn so naiv war Fühmann selbst in seinen frühen Nachkriegsjahren sicher nie, dass er ernstlich annehmen konnte, die Reihe der Namen, die er aufrief, könnte nicht als Affront gegen eine ganze Geschichte verengter bis ausschließender Aneignung dessen verstanden werden, was man in der DDR Erbe nannte. Selektive Erbeaneignung kennt die gesamte DDR-Geschichte für alle historische Vergangenheit, also neben der allgemeinen Geschichte auch für die Geschichte von Kultur, Literatur, Kunst. Sie findet einen äußerlichen Eindruck in der schon berührten Weise der Veröffentlichungspolitik, die Leserschaft mit Auswahlen zu bevormunden, die eben leider selten Auswahlen aus Platzgründen waren, sondern ideologisch basiert. Der vormundschaftliche Staat wollte seinen Bürgern keine Urteilsfähigkeit zugestehen, weil er sie im Innersten für manipulierbar hielt, worauf ja, erfolglos, auch all sein eigenes Tun zielte.

So staunen wir, mit welcher Selbstverständlichkeit Franz Fühmann damals nicht nur Rimbaud, Baudelaire und sogar Mallarmé aufrief, gerade letzterer galt in der DDR immer als krasser Belegfall für das, was „l'art pour l'art“ darstellte, die besonders infame Variante spätbürgerlich-apologetischer Entpolitisierung von Kunst und Literatur, sondern Stefan George, Gottfried Benn, Nietzsche, Wittgenstein. Westlichen Lesern mag befremdlich erschienen sein, wie ebenfalls selbstverständlich Fühmann neben die westlichen Klassiker der Moderne Namen aus der tschechischen, der ungarischen oder selbst der bulgarischen Literatur stellte. Damals war der Markt dort noch lange nicht reif für entsprechende Moden, wie sie später Sandor Marai auslöste, als sich ein jeglicher zwischen Flensburg und Rosenheim bemühte, seinen eigenen unbekannten Ungarn zu entdecken, wie es sonst nur auf dem skandinaviengierigen Krimimarkt mit immer neuen Dänen, Schweden, Norwegen und Isländern geschah. Also, nur um die wichtigsten Namen auch genannt zu haben: Attila József, Vitezlav Nezval, Christo Botev, Konstantin Biebl, Frantisek Halas. Der hervorragende Übersetzer Fühmann verschaffte damit diesen Repräsentanten kleiner, gern übersehener Literaturen zusätzlich Aufmerksamkeit. Und ordnete sie in einen europäischen Zusammenhang von Moderne, lange bevor Europa-Gerede auch aus den unberufensten Mäulern purzelte. Georg Trakl als Bürger der späten Donau-Monarchie wuchs da eine gar nicht so überraschende Dimension zu.

Überschaue ich meine Notizen zum Buch, so ist eine der ersten diese: Fühmann hat sich eine Aufgabe zugemutet, die nicht zwingend aus Trakl erwächst, ihn aber zum sehr willkommenen Anlass nimmt. Eine nur wenig spätere: Er lässt sich von seinen deutenden Assoziationen mitreißen. Die Gefahr für Leser: sie könnten ihm nicht folgen wollen, weil es nicht erkennbar voran geht in der Sache. Eine dritte: Man merkt dem Buch an, dass Fühmann sehr viel nachgedacht hat, bisweilen sogar zu viel. In der Tat lässt sich wohl sagen, dass auf den ersten hundert Seiten des Buches Georg Trakl eher Anlass als Gegenstand ist, was dem Buch keineswegs schadet, auf jeden Fall aber Leser in ihren Erwartungen enttäuschen könnte. Bis dahin gab es immerhin höchst interessante, für mich durchaus spektakuläre Überlegungen zur Nähe von Moderne und Scharlatanerie. Zur Interpretation eigenen und fremden Verstehen-Wollens als Akt der Eifersucht auf vermeintlich Wissende. Mir schien nach den knappen Hälfte wichtig zu vermuten, dass Fühmann sein Buch auch als verdoppelte Rache gegen die eigene rar nicht gedankenlos vertretene Ideologie der frühen Jahre schrieb, eine Art von Strafexpedition in nicht ausgeschöpfte Vergangenheiten. Wie mag es ihn wirklich geschmerzt haben, von seinem Vater, dem Ortsgruppenführer, nicht mehr über Trakl gehört zu haben und deren gemeinsame Soldatenzeit? Welch irrer Zufall, dieses Zusammentreffen der eigenen ersten Begegnung mit Trakl und dem unspektakulären Geständnis des Vaters, diesen seltsamen Mann gekannt und erlebt zu haben.

Fühmanns erinnertes Erschrecken über die Einsicht, Georg Trakl sei ein geradezu exemplarischer Vertreter der so genannten Dekadenz, lässt sich vermutlich am besten beschreiben mit Vergleichen aus dem Kirchenleben: der Novize ringt mit brachialen Anfechtungen vor der immer näher rückenden Priesterweihe. Wir wissen, dass das schließlich 1982 in Ost wie West erschienene Buch den vollständigen Text enthält, auf den sich Fühmann schließlich mit sich selbst einigte, eher er den Widrigkeiten mit den Verlagen siegreich trotzte. Wir wissen aus den Briefen aber auch, dass es eine Manuskriptphase gab, wo nicht nur von Georg Lukacs und Stalin die Rede war, sondern auch von Alfred Kurella und Alexander Abusch, jenen Kleinklassikern der harten Doktrin, die unbelehrbar blieben und dennoch, wie Abusch, keine Hemmungen hatten, eigene Texte aus den Stalinjahren zu bereinigen und ohne weitere Erklärung mit den alten Erscheinungsdaten in späte Sammelbände aufzunehmen, was schon rein formal wissenschaftlichen Kriterien widerspricht. Geschildert ist die fröhlich-selbstsichere Rabulistik, mit der die Antifa-Lehrer ihre Zöglinge indoktrinierten, der Sturz in die Trunksucht steht dann da als quasi psychosomatische Reaktion auf die Konfrontation der trivialisierten Ideologie mit der profanen Wirklichkeit des Lebens und ihrer Exponenten.

Eine Kernthese seines Buches formulierte Fühmann als Frage: „Sein Leben nicht leben zu können und doch leben zu müssen, ist das nicht maßlos und heillos genug, und sollte solche Erkenntnis allein sich nicht als Begreifen unsühnbarer Schuld darstellen?“ Fühmanns erste Arbeit an Trakl endete mit dem Zusammenstellen einer Trakl-Auswahl bei gleichzeitigem Verzicht auf das erbetene Nachwort. Dafür sprang Stephan Hermlin ein, man kann es sowohl in der Reclam-Auswahl (RUB 614) als auch in der späteren Hermlin-Sammlung mit dem allzu bescheidenen Titel „Äußerungen 1944 – 1982“ nachlesen. Fühmann hat sich den wohl gar nicht so spaßigen Spaß gemacht, seinen Nachwortvertreter ziemlich heftig zu kritisieren, was wieder ein eigenes Thema wäre. Er beschloss jedenfalls nach heftigen Skrupeln, die beiden Gedichte „Die junge Magd“ und „Romanze zur Nacht“ doch ins Manuskript für Leipzig aufzunehmen und resümiert für sich: „Mit diesem Entschluß war ein Kampf geendet, den Doktrin und Dichtung über zwanzig Jahre in mir geführt ... und ich weiß erst heute, was ich damals nur ahnte, was sich aber in jener Gier ausdrückte: Trakls Gedicht, es hatte gesiegt.“ Fühmann zwischen Doktrin und Dichtung, besser kann man die Substanz des Buches nicht formulieren als er selbst. Und doch hat, trotz allem, das wunderbare Buch eine abschreckende Wirkung. Es bestätigt allen, die sich von auch nur einigermaßen anspruchsvollen Gedichten absichtsvoll fernhalten, ihre Vorurteile.

Wenn es denn, könnte man eine Nebenwirkung, die nicht auf der Packungsbeilage verzeichnet ist, beschreiben, so unfassbar schwierig, so unfassbar aufwändig ist, auch nur einige von gar nicht so vielen Gedichten eines einzigen Dichters zu verstehen oder nur in die Nähe von etwas zu gelangen, das man mit sehr viel gutem Willen Verständnis nennen könnte, was soll einen dazu bringen, sich dem auszusetzen. Realiter wissen wir seit Jahren, dass Gedichte fast nur noch von anderen Gedicht-Autoren gelesen werden, dass Verlage in helle Panik geraten, wenn ihnen Gedicht-Manuskripte angeboten werden, es sei, es handle sich um Bezahlverlage, die Lyrik bis zum Abwinken drucken, die dann freilich nicht einmal von anderen Dichtern, sondern nur von Verwandten ersten und zweiten Grades gelesen werden. Das Wissen, welches Franz Fühmann aufbietet, um in seinem Buch nicht einmal eine Handvoll Trakl-Gedichte aufzuschließen, ist ebenso imponierend wie entmutigend. Seine fast gebetsmühlenhaft wiederholte Unterscheidung der Plurale Worte und Wörter, mit deren Hilfe er immer wieder sein Anliegen zu präzisieren sucht, sind nicht annähernd so hilfreich, wie er sich das wohl erhoffte. Wer wäre ernsthaft gewillt, an einem Gesamtwerk Wortstatistik zu betreiben, um eine Summe von Konnotationen zu ermitteln, aus denen eine vermutliche Wortfeld-Bedeutung dann immer noch zu formulieren wäre? Fühmann legt die Latte so hoch, dass man nicht einmal schwere Scham empfindet, wenn man gerade unter ihr hindurchläuft.

Die grausamste Antwort, die einer wie Franz Fühmann auf sein großes Buch „Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht“ bekommen kann, ist die des alltäglichen Lebens. Denn wenn seine hochgemute These lautet, die aus seinem eigenen Leben sicher zu hundert Prozent berechtigt gezogen ist, dass man ohne Gedichte nicht leben kann, eigentlich nicht leben kann, dann sagt das Leben schlicht: Man kann. Millionen können es, Milliarden gar, und man könnte ihnen ohne sehr viel Hochmut ihre humane Existenz nicht absprechen. Fühmanns geringes Hoffen auf eine hellere Zukunft ist nicht anders fundiert als Heinrich Heines Überzeugung, dass die Kinder der Revolution das Papier mit den aufgedruckten Gedichten zum Einwickeln von Hering benutzen werden. Die Linke des Westens fand es eine ziemliche Reihe von Jahren schick, über das Überflüssige und das darauf folgende Ende der Kunst zu schwafeln, aufbauend war das für DDR-Dichter eher nicht. Mein in aller Bescheidenheit an die zum Ende bekundete Vorläufigkeit des Buches anknüpfendes vorläufiges Fazit soll lauten: Das Buch ist eine außergewöhnlich unbeirrte Anklage gegen Dummheit, gegen die Dummheit einer Teilwelt. Das Unbeirrte wächst aus dem fortlaufend vorgeführten Beirrtsein. Ein ziemlich dummer Chef belehrte mich einst weltenfern von Georg Trakl oder auch nur von Franz Fühmann: Dummheit ist nicht strafbar. Wen das wohl trösten sollte.


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